Mit Tränen in den Augen verlassen wir die gekachelten, aber freundlich eingerichteten Räume der Tierklinik in Tromsø. Gerade haben wir Abschied genommen von unserem geliebten Hund Mette (genannt Metti), mit dem wir 16 Jahre unseres Lebens geteilt haben. Ja, es war abzusehen und sie hat als großer Hund auch ein hohes Alter erreicht. Dennoch liegen der Schmerz und die Leere schwer und wie ein Schleier über dem Tag. Einen Hund zum Einschläfern zu bringen ist nicht die Tagesaufgabe, die man sich freiwillig aussucht.
Eigentlich war das alles ganz anders geplant gewesen – eigentlich …
... eigentlich wollten wir in drei Monaten gemeinsamer Auszeit mit dem Fahrrad von Darmstadt bis nach Norwegen fahren. Mit unserem jüngsten, noch nicht schulpflichtigen Sohn Noah wollten wir die Gelegenheit zu einer längeren Familienauszeit nutzen, mitten in unserem beschäftigten Leben mit Häuschen, Jobs und Pflichten. Eigentlich hatten wir das alles gut geplant. Und doch kam dann alles ganz anders. Wie und warum, davon erzählen wir in diesem Buch, das genau aus diesem Grund den Titel „Eigentlich nordwärts“ trägt.
Dieses „eigentlich“ ist schon ein interessantes Wort: Es zeigt, dass wir etwas anderes tun, als wir uns vorgenommen haben, dass etwas anderes passiert, als wir erwartet haben oder gar, dass wir anders sind, als wir eigentlich gerne wären. Wie oft hören wir: „Eigentlich müsste man mal … aber …“ „Eigentlich“ ist der Disclaimer, die Entschuldigung unseres Lebens, mit dem wir uns kleiner machen, als wir sind. Zum Teil nehmen wir das aktuelle, reale Leben nicht wirklich wahr, weil wir ja eigentlich etwas anderes wollen. Aber wenn wir eigentlich etwas anderes wollen, warum tun wir es dann nicht?
Wir haben uns für den Versuch entschieden, das „Eigentlich“ zur Seite zu schieben und ein bisschen Abenteuer in unserem Leben zuzulassen. Wir haben unsere Auszeit erst geträumt, dann gedacht, irgendwann geplant und dann ... gelebt! Das führte dazu, dass Freunde und Bekannte immer wieder sagten und noch sagen: „Eigentlich habt ihr ja so recht, dass ihr das wirklich gemacht habt.“
Das eigentliche Leben ist das Leben, das genau so stattfindet, wie es das gerade tut; das Leben schränkt sich ja nicht selbst ein, es ist real im Hier und Jetzt, nur wir sind manchmal (oder oft?) woanders. Aber wenn wir uns auf das Leben einlassen, so wie es ist, und nicht dem „eigentlich könnte, müsste, sollte“ aufsitzen, bietet es viele spannende und schöne neue Momente. Natürlich gibt es auch jede Menge Möglichkeiten, das Leben zu verpassen, beispielsweise indem wir immer der Vergangenheit nachhängen oder indem wir uns nur in die Zukunft träumen. Beides birgt großes Gefahrenpotential, das Hier und Jetzt zu verpassen, um dann hinterher sagen zu müssen: „Eigentlich …“
Bücher von Reisenden gibt es ja sehr viele und wir haben auch einige davon gelesen. Dabei stellen wir fest, dass viele Menschen frustriert aufbrechen, um Veränderung zu erfahren, eine Zeitlang „das Erlebnis“ ihres Lebens zu haben. Wir sind nicht aus einem Tiefpunkt oder einer Frustration heraus aufgebrochen. Wir wollen mit unserer Auszeit unser ganz normales, derzeitiges Leben bereichern, gestalten und in die Hand nehmen, und dies vor allem nachhaltig. Menschen, die nur von Urlaub zu Urlaub oder von Auszeit zu Auszeit leben, haben meistens ihren Sinn (noch) nicht gefunden.
Nun aber zu unseren „Eigentlichs“: Um die Geschichte ganz von vorne anzufangen, müssen wir mit der Einladung zu einem 111. Geburtstag beginnen. Ein guter Bekannter und seine Frau sind in besagtem Jahr jeweils 50 und ihre Tochter 11 Jahre alt geworden, macht zusammen 111. Also alle noch mitten im Leben und auch eine entsprechend lebendige Party – das war etwa drei Jahre vor unserer Tour.
Auf dem Rückweg von der Feier haben wir dann überlegt und gerechnet, ob wir mit unseren Geburtstagen nicht auch so eine nette Zahl hinbekommen. Am Ende unserer Überlegungen stand das Jahr 2018: Wir werden zusammen 100 Jahre, unsere Kinder zusammen 50 Jahre, und wir sind 25 Jahre verheiratet. Was macht man nun mit dieser Information? Zur Kenntnis nehmen und so weiterleben? Nein! Fette Party oder eine Reise? Die Entscheidung für Letzteres fiel uns nicht schwer.
Es war uns wichtig, in der Mitte des Lebens noch einmal die Mühle des Alltags anzuhalten und zu schauen, wo der Weg uns noch hinführen wird. Wir merkten beide, dass wir etwas tun müssen, damit wir nicht im Alltag versinken und dabei die Möglichkeit einer Auszeit verpassen.
Was uns für unser Leben wichtig erscheint, wollen wir auch auf die Reise übertragen: Wir sind nämlich ganz und gar nicht die Menschen, die ihr ganzes Leben durchgeplant haben und genau wissen, wann welcher Karriereschritt dran ist. So wollen wir auch nicht vorher jede Etappe und jedes Ziel festlegen, sondern immer wieder neu hinhören, welchen Weg wir einschlagen sollen.
Da wären wir also: Wir, das sind Anja (51), Grundschullehrerin, und Jörg (49), als Fernsehredakteur und -produzent tätig. Unsere beiden großen Kinder Ammely (21) und Jannis (23) sind schon aus dem Haus und studieren beide. Noah (6) würde erst nach dem Sommer in die Schule kommen. Unsere Hündin Mette ist zum Zeitpunkt der ersten Planung schon 13 und damit über ihre Lebenserwartung hinaus und wird sicherlich das Jahr 2018 nicht mehr erleben – denken wir. Auch wenn das kein schöner Gedanke für uns ist.
Der Zeitpunkt scheint uns ideal zu sein, zumal wir für Noah noch Elternzeit „geparkt“ haben, die wir bis zum Ende seines 8. Lebensjahres abrufen können. Trotzdem kommen aber beim Nachdenken immer mehr Fragen auf: Wollen wir wirklich drei Monate mit einem Kind in Norwegen Fahrrad fahren? Mit welchem Rad soll Noah fahren? Können wir uns so eine Tour überhaupt leisten? Wir müssen unser Haus ja weiter abbezahlen, müssen für Jannis und Ammely sorgen …
Die Mitte des Lebens mit all ihren Verpflichtungen fühlt sich nicht mehr so unbeschwert an, wie die Zeit nach der Schule oder im Studium. Damals war es noch entspannt möglich, einfach das Zimmer in der WG unterzuvermieten, seinen Rucksack oder die Räder zu packen und für ein paar Wochen zu verschwinden. Wie viel Geld müssen wir vorher ansparen, um uns das Abenteuer dieser Auszeit leisten zu können? Was machen wir überhaupt mit dem Haus in der Zeit, und wer kümmert sich um die Bienen? – Jörg ist seit ein paar Jahren Imker mit einer Handvoll eigenen Bienenvölkern. Wer wird Anjas Klasse übernehmen? Wie werden die Kinder durch diese Zeit kommen? Man fühlt sich ja immer erstmal unersetzlich.
Gleichzeitig spüren wir immer wieder diese tiefe Sehnsucht nach einer gemeinsamen Familienauszeit, dieses übermächtige Bedürfnis, sich für ein paar Monate ohne tägliche Verpflichtungen durch Raum und Zeit zu bewegen. All das wegzuschieben, was wirkliche Begegnung oft so schwer macht. Begegnungen mit uns selbst, mit anderen und auch mit den großen Fragen des Lebens.
Eine kleinere, aber ganz konkrete Frage ist: Was können wir Noah in den Monaten vor seiner Einschulung mit auf den Weg geben? Wir sind uns einig, dass wir ihm weder theoretisches Wissen vermitteln noch mit ihm vorab Lesen, Schreiben und Rechnen trainieren wollen. Für seine Selbstständigkeit und seine Entwicklung würde es unserer Meinung nach wertvoller sein, wenn er Erfahrungen in der Natur sammelt und Begegnungen mit Kindern aus anderen Ländern hat. Wissen pauken, das wird er noch früh genug erleben. Aber welches Kind kocht schon seinen morgendlichen Tee auf einem Holzfeuer?
In der Planung hört sich ein Abenteuer immer idyllischer an, als es sich dann währenddessen anfühlt, und so stellen wir uns auch die Frage, ob wir uns und Noah überfordern könnten. In Skandinavien wird sicherlich nicht für drei Monate die Sonne scheinen, und was für uns als Erwachsene noch das Prädikat „Abenteuer“ bekommt, kann für einen 6-Jährigen schon grenzwertig sein.
Lange überlegen und diskutieren wir, wie Noah am besten mitradeln kann. Am Ende haben wir uns für das Stufentandem „Pino“ von Hase-Bikes entschieden, auf dem Jörg mit Noah fahren kann (siehe Materialliste). Es ist ein Tandem, bei dem Jörg hinten und Noah vorne in Liegeposition sitzt. Das sichert ihm die volle Sicht. Das Rad ist nicht ganz billig, aber für unseren Zweck perfekt. Anja fährt auf ihrem eigenen Reiserad mit.
Eines steht jedoch sehr schnell fest: In dieser Auszeit geht es uns nicht darum, uns oder anderen etwas zu beweisen, eine weitere Heldengeschichte von Rad fahrenden Heroen, die den Norden bezwingen, wollen wir nicht hervorbringen. Wir wollen auf dieser Reise hinhören, anderen zuhören und ihren Geschichten Raum geben – und nicht uns und unsere Geschichte in den Mittelpunkt stellen. Wir wollen das spirituelle Experiment wagen und versuchen, uns führen zu lassen, statt unseren Weg im Vorhinein festzulegen.
Ob das gelingen kann?
Wir wollen auch nicht im Voraus planen, wann wir wo übernachten können. Sondern dies relativ kurzfristig festlegen, um uns nicht auf bestimmte Tagesetappen festlegen zu müssen. Übernachten wollen wir dann auf Campingplätzen, über die Warmshowers-Community (siehe Infobox) und in der freien Natur. Wir haben aber auch einen Jugendherbergsausweis dabei und können uns vorstellen, in Norwegen die eine oder andere Hütte zu nehmen.
Die erste Lektion im „Führen lassen und es nehmen, wie es kommt“ erwischt uns früher als gedacht. Als wir begonnen hatten, konkreter über die Möglichkeit einer Familienauszeit zu reden, war unsere Hündin Mette schon 14 Jahre alt und damit für einen großen Hund schon recht betagt. Wir...