Einblendung: Ein anderer Atheismus?
„Was noch übrig bleibt, nach der vernunftgemäßen Erledigung aller und jeder äußeren Religion, das ist für uns, die wir letzten Fragen nicht ausweichen und deren Beantwortung von den nächsten bis vorletzten Wissenschaften nicht erwarten, das Weltgefühl, das Einsgefühl der gottlosen Mystik, das man gern ein ‚religiöses‘ Gefühl nennen mag, weil ein Gefühl zuletzt nur geschwiegen werden kann, nicht in harten Worten ausgedrückt.“ Fritz Mauthner ließ 1923 seine vierbändige Geschichte des Atheismus mit diesen Überlegungen zu einer „gottlosen Mystik“ auslaufen.2 Nach den rabiaten Auftritten des New Atheism finden sich in letzter Zeit vermehrt Stimmen, die ein nuancierteres Verhältnis zu den Einsichten und Lebenseinstellungen anklingen lassen, für die religiöse Traditionen stehen. Es scheint fast so, als habe der Brachialatheismus à la Dawkins, Hitchens und Co. einen anderen atheistischen Diskurs über Religion herausgefordert. Dafür gibt es eine Reihe von Beispielen, die zugleich das Farbenspektrum erweitern, mit dem religiöse Wirklichkeiten und Diskurse gezeichnet werden. Der grobe Strich in Sachen atheistischer Religionskritik verliert jedenfalls an Plausibilität.
Das hängt u. a. mit einer Kritik des wissenschaftlichen Naturalismus zusammen, den anders schon Mauthner ins Visier nahm.3 Der Positivismus vermag keine Antworten auf jene Fragen zu geben, die sich mit der geistigen Existenz des Menschen aufzwingen. Der Philosoph Thomas Nagel rekonstruiert eine erstaunliche geistige Grunddimension unserer Wirklichkeit, die Ordnungsmuster aufweist. Man kann das als einfaches Faktum hinnehmen – aber die Frage nach ihren Möglichkeitsbedingungen führt über jede Tatsachenfeststellung hinaus.
„Mir scheint, dass man die wissenschaftliche Weltsicht nicht wirklich verstehen kann, wenn man nicht annimmt, dass die Intelligibilität der Welt, wie sie mit den von der Wissenschaft aufgedeckten Gesetzen beschrieben wird, selbst ein Bestandteil der tiefschürfendsten Erklärung ist, warum die Dinge so sind, wie sie sind.“4
Nagel argumentiert in doppelter Stoßrichtung: gegen eine materialistische Reduktion des Geistes, also gegen rein naturalistische Erklärungen, und für ein neues Bewusstsein der Unableitbarkeit eines geistimprägnierten Kosmos. Dabei spricht er sich weder für eine neue Form von Metaphysik aus, noch setzt er sich religiös ins Zeug. Er enthält sich vielmehr als jemand, der sich nicht religiös versteht, eines klaren atheistischen Bekenntnisses und nähert sich damit einer agnostischen Position an. Sie erweist sich für jene Fragen sensibel, die theistische Debatten befeuern. Skepsis gegenüber religiösen Systemabschlüssen bleibt – und das verbindet Nagel mit den Atheismen, die sich kritisch auf der Schwelle zwischen „Glaube“ und „Unglaube“ bewegen. Nagels Einspruch gegen naturalistische Eindimensionalität im Bereich der Philosophie des Geistes spiegelt sich in verwandten atheistischen Stellungnahmen wider: im Plädoyer des Philosophen Franz-Josef Wetz für mehr existenziellen Ernst im atheistischen Gespräch mit Religionen; in der Nachdenklichkeit eines Kurt Flasch, der sich gelassen zu seinem Atheismus verhält, um religiösen Traditionen eine ästhetische Bedeutsamkeit zu bescheinigen5; in den literarischen Versuchsanordnungen eines Martin Walser, der sich in seinem Spätwerk immer wieder mit der Gottesfrage auseinandersetzt.
„Natürlich kann man schwerlich, also auch ich nicht, ohne die Vorstellung von Gott leben. Das ist ein viel zu wichtiges Wort im ganzen Leben. Ich könnte niemals, ich kann das kaum in den Mund nehmen – also: Atheist werden … Ich kann nur so sagen: Gott kommt immer wieder vor bei mir. In allen Jahrzehnten, in allen Romanen, in allen Manuskripten kommt er vor, weil er von Kindheit an vorgekommen ist, und ich habe ihn nie abstrakt, rational abschaffen können.“6
Damit verbindet sich ein zweiter Aspekt in der Transformation des gegenwärtigen Atheismus. Er korrespondiert mit Verschiebungen des religiösen Diskurses und seiner Lebenswelten. Eine neue Aufmerksamkeit für die spirituellen Ressourcen von Religionen macht sich bemerkbar, für ihre Widerstandskraft gegen eine Welt, die mehr ist, als ihre globalen Ökonomien verbürgen. Auf dieser Linie bewegen sich einige jener Atheismen, die die naturalistischen Blankoschecks des New Atheism platzen lassen. Schon Peter Sloterdijk schmeckte die Suppe nicht, die Dawkins noch einmal aufbrühte. Seine eigene Anthropotechnik ist hinreichend religionskritisch gewürzt, um keine theistischen Missverständnisse aufkommen zu lassen. Aber auch Sloterdijk entwickelt mit seinem Sphären-Projekt eine eigene Form des spirituellen Blicks auf die Wirklichkeit, auf die Exerzitien einer Ko-Immunität, der Verbindung mit allen Menschen und der ganzen Welt.7
Diese spirituelle Wahrnehmungsform zeigt sich exemplarisch in André Comte-Sponvilles Buch „L’esprit de l’athéisme“8, das 2006 erschien und in dem sich aufheizenden atheistischen Diskurs einen anderen Ton setzte. Eine „Spiritualität ohne Gott“ steht hier zur Diskussion, die mit einer Wertschätzung religiöser Traditionen einhergeht. Comte-Sponville versteht sich dabei als christlicher Atheist, der in der Tradition der katholischen Kirche erzogen wurde, ihren Glauben aus der Innensicht kennt, aber als junger Mensch verlor.
Eine polemisch entschlackte Fassung des zeitgenössischen Atheismus präsentiert auch der Wissenssoziologe Bruno Latour. Für ihn bildet der Atheismus eine unhinterfragte Gegebenheit.9
„Die gemeinsame Textur unseres Lebens, unser Grundstoff, unser Tagesgespräch, unser unbestreitbarer Rahmen – falls wir so etwas noch haben, dann ist es die Nichtexistenz von Göttern, die unser Gebet erhören und unsere Geschichte lenken.“10
Jenseits von Glaube oder Unglaube treibt Latour die Suche nach der Vitalität dessen um, was religiöse Rede einmal leistete. Auch die profanen Übersetzungen eines Alain de Botton präparieren, was als unverzichtbar heilig in Geltung bleibt.11 Das Wort Gott entsteht atheistisch neu, jenseits von bloßer Paraphrase, banaler Wiederholung, trivialer Ersetzung, abgestumpftem Vergessen, umstandslosem Verschweigen.
Auf dieser Linie macht sich ein anderer Atheismus bemerkbar, der im Stil der Darstellung und der Linienführung seiner Argumente neue Konstellationen des a/theistischen Diskurses erschließt. Damit wird ein Blick auf die religionskulturellen Gegenwarten des frühen 21. Jahrhunderts möglich, die sich in einer religiös-säkular verschraubten Doppelperspektive präsentieren. Ihre innovativen Rekombinationen, die Übergänge zwischen religiösen Codes und gesellschaftlichen Wirklichkeiten, komplizieren den Säkularisierungsdiskurs. Religiöse Überzeugungswelten sind verwickelt in ihre atheistischen Überschreibungen, in Ersetzungsprozesse angestammter Zeichen, die kulturell auswandern – in Werbung, Politik, Kunst, Sport, Ökonomie. In religiös-säkularen Transformationen erweitern sich auch die theologischen Aufmerksamkeitsspeicher. Gefordert ist eine theologisch informierte Expertise zum Austausch religiöser Zeichen und zu ihren operativen Aneignungen in anderen Zusammenhängen, mit denen Übergänge von Welträumen entstehen.12 Die Unterscheidungslinien zwischen profan und sakral verschieben sich. Das wirkt auf die Fassbarkeit religiöser Gedanken und Lebenswelten zurück. Die Proklamation eines „religiösen Atheismus“13 enteignet theistische Traditionen, indem sie profan beerbt werden, weist ihnen aber auch ein kulturgeschichtliches Bleiberecht zu. Bekannte Transzendenzmarker treten neu auf: ökonomische Chiffren für Heiliges (Geld)14, medizinische Sinngehalte von Heil15, als worldwide net ausgebildete Realpräsenz. Damit verändert sich das Material, mit dem Theologien arbeiten, wenn sie die Bedeutung der Rede von Gott in den Zeichen der Zeit bestimmen.
Hier setzen die folgenden Überlegungen an. Im Schlagschatten eines anderen Atheismus gehen sie Transformationsprozessen religiöser Gegenwarten nach, um die interpretative Leistungsfähigkeit des (christlichen) Theismus zu erproben. Der Soziologe Armin Nassehi beschreibt gesellschaftliche Prozesse als Gegenwarten, die sich nicht einfach in einer Gesellschaft ereignen, sondern Gesellschaft als „Gesellschaft der Gegenwarten“ bestimmen lassen.16
„Es erscheint dann eine Gesellschaft, die alles, was sie tut, in je konkreten Gegenwarten mit je eigenen Anschlusslogiken und -möglichkeiten tut. Letztlich lässt sich das an allen großen gesellschaftlichen Themen beobachten.“17
Damit verschieben sich die Rahmenbedingungen gesellschaftlicher Kommunikation, zugleich aber auch die Zuschreibungen von klaren...