Der Begriff »Gegenöffentlichkeit« ist keineswegs so einfach zu definieren, wie sich vielleicht vermuten lässt. Er ist stark verbunden mit den alternativen Videogruppen und Medienwerkstätten, die Filme/Videos über verschiedene Protestbewegungen und Alternativkulturen drehten, deren Positionen nach landläufiger Meinung keine Chance hatten, über die etablierten Medien verbreitet zu werden. Oder es wurde dort nur verzerrt über sie berichtet. Der kritische, politisch engagierte Dokumentarfilm wurde in den 1970er Jahren hoffähig, doch erst in den 1980er Jahren fand bei linken Medienmachern eine Professionalisierung statt, die sich auch in offiziellen Aufträgen für das öffentlich-rechtliche Fernsehen niederschlug.
Aus heutiger Sicht ist es erstaunlich, dass diese spannende Phase der Filmgeschichte bisher kaum aufgearbeitet wurde und mit wenigen Ausnahmen die Filme im öffentlichen Bewusstsein nicht mehr präsent sind. Von daher erwies es sich als richtige Entscheidung für cinefest 2014 und das DFG-Forschungsprojekt zur Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland von 1945 bis 2005, sich mit dem Thema »Gegenöffentlichkeit und neue Wege im Dokumentarischen« zu beschäftigen. Dabei wurde bewusst ein offener Rahmen gewählt. Die technischen Umbrüche in den 1960er Jahren mit synchronen 16mm-Kameras (Direct Cinema, Cinéma Vérité) wurden ebenso berücksichtigt wie internationale Einflüsse aus Frankreich, England und Nordamerika sowie subversive Spuren im DEFA-Dokumentarfilm.
Der 27. Internationale Filmhistorische Kongress vertiefte das Thema durch Vorträge von Filmhistorikern, Medienwissenschaftlern und Praktikern. Thomas Weber verweist in seinem Beitrag auf die theoretischen Grundlagen des Begriffs Gegenöffentlichkeit, wie sie 1962 von Jürgen Habermas in seinem Grundlagenwerk »Strukturwandel der Öffentlichkeit« entwickelt und dann von Hans Magnus Enzensberger in »Baukasten zu einer Theorie der Medien« (1970) sowie von Oskar Negt und Alexander Kluge in »Öffentlichkeit und Erfahrung« (1972) weitergeführt wurde. In diesen theoretischen Basistexten wird die Entwicklung einer bürgerlichen Öffentlichkeit nachgezeichnet, die Ausgangspunkt für eine spätere Gegenöffentlichkeit war. Klaus Kreimeier bezeichnet ihn als Kampfbegriff und siedelt ihn insbesondere Ende der 1960er Jahre an, als versucht wurde, aus dem »manipulierten Rezipienten« einen »selbstbewussten Produzenten« von Bildern und Filmen zu machen. Kreimeier ver[7|8]knüpft den Begriff stark mit der Symbiose von sozialer Bewegung und operativer Medienarbeit. Er geht auf die Filme der Studierenden an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) ein, die sehr radikale Filme produzierten und ihr Institut nach einer Besetzung bezeichnenderweise in Dziga Wertow Akademie umbenannten. Nach einem studentischen Go-in wurden 18 Studenten der dffb verwiesen.
Der Bezug zum russischen Filmtheoretiker Dziga Vertov1 kommt nicht von ungefähr, denn zusammen mit Sergej Tret’âkov entwickelte er ab 1923 Konzepte für Filme, die die Arbeiter aktivieren sollten. Die bisher stark spezialisierte und hierarchisierte Filmproduktion sollte ersetzt werden durch einen kollektiven Produktionsprozess, bei dem jeder alle Aufgaben übernehmen konnte. Diese Ansätze beeinflussten den politischen und sozial engagierten Dokumentarfilm der nächsten Jahrzehnte und wurden von der Videobewegung in den 1970er Jahren ebenso aufgegriffen wie von den Videoaktivisten im 21. Jahrhundert. Ähnlich einflussreich war die Radiotheorie von Bertolt Brecht um 1930, in der er forderte, das Radio von einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. In den 1930er Jahren entstand um John Grierson die britische Dokumentarfilmbewegung, die im Auftrag verschiedener staatlicher Organisationen über soziale Missstände berichtete und an einem gesellschaftlichen Konsensus interessiert war. Wesentlich radikaler waren Filmgruppen in den USA der 1930er Jahre, ob nun die »Worker’s Film and Photo League« oder »Frontiers Film«.
Auf den großen Einfluss, den die verwendete Technik auf die Dokumentarfilmproduktion hatte, weist Kay Hoffmann in seinem Beitrag hin. Mit schweren 35mm-Kameras vom Stativ und nur einigen Minuten Filmmaterial in der Kamera dreht man natürlich anders als mit mobileren 16mm-Kameras mit synchronem Ton oder entsprechenden Video- und Digitalkameras. Das Verhältnis des Fernsehens zu den linken Filmmachern war keineswegs so gestört, wie oft behauptet wird. Claudia von Alemann bekam ihren Film über die Medien im Generalstreik und in den Studentenunruhen in Paris, Das ist nur der Anfang – der Kampf geht weiter (1968/69),2 komplett vom Westdeutschen Rundfunk (WDR) finanziert. Die politische und gesellschaftskritische Arbeit im Norddeutschen Rundfunk (NDR) zeigt Christian Hißnauer auf und stellt die Arbeit der sogenannten Zweiten Hamburger Schule vor. Dabei stellt er besonders die Bedeutung der Fernsehspielabteilung unter der Leitung von Egon Monk und die Arbeiten von Klaus Wildenhahn und Eberhard Fechner heraus, die stark politisch und engagiert waren. Bereits Mitte der 1960er konnte Ulrike Meinhof, 1960–64 Chefredakteurin der Zeitschrift konkret, einige gesellschaftskritische Filme beim NDR unterbringen und war regelmäßig Gast in Fernsehdiskussionen.3
Bei der Eröffnung der cinefest-Begleitausstellung in der Zentralbibliothek der Öffentlichen Bücherhallen Hamburg wiesen Rolf Schübel und der Kameramann Rudolf Körösi auf den Film Landfriedensbruch hin, den sie 1967 mit [8|9]Theo Gallehr für den NDR über die Studiensituation in Hamburg gedreht hatten. Es ging um den Sturz eines Denkmals des deutschen Kolonialisten Herrmann von Wissmann vor dem Hauptgebäude der Universität Hamburg.4 Ausgestrahlt wurde dieser Beitrag erst 25 Jahre später zum Jubiläum der Studentenunruhen.
1970 drehten Rolf Schübel und Theo Gallehr mit Unterstützung von Radio Bremen und WDR Rote Fahnen sieht man besser über die Schließung der Phrix-Werke in Krefeld. Nicht weniger kritisch war die Arbeit der Dokumentarfilmabteilung des Süddeutschen Rundfunks (SDR), deren Mitarbeiter sich mit pointierten Kommentaren an der bundesdeutschen Wirtschaftswundermentalität abarbeiteten. Zu den Klassikern gehört Roman Brodmanns Der Polizeistaatsbesuch (1967) über den Besuch des persischen Schahs und die Studentenproteste in Berlin. Dieses Material wurde nicht nur von der Staatsanwaltschaft bei den Ermittlungen der tödlichen Schüsse auf Benno Ohnesorg verwendet, sondern fand ebenso Einzug in Thomas Giefers Berlin, 2. Juni 67 (1967) und beeinflusste die Darstellung dieses Mordes in vielen späteren Filmen.
Nicht unterschätzen sollte man internationale Einflüsse auf und Vorbilder für die deutsche Videobewegung. In Kanada startete das National Film Board 1967 das ambitionierte Programm »Challenge for Change« mit der Medienarbeit unter Einbeziehung von Minderheiten wie den Mohawk-Indianern. Einer der ersten Filme war You Are on Indian Land (1969). Dies gab den First Nations erstmals die Chance, ihre Positionen darzustellen und ihre Interessen aufzuzeigen. Ein wichtiger Film gegen das Engagement der USA in Vietnam war Inside North Vietnam (1968), den Felix Green trotz aller bürokratischen Schwierigkeiten in Vietnam gedreht hatte und der die Folgen der amerikanischen Kriegsführung für die Bevölkerung zeigte.
Von den nordamerikanischen Vorbildern übernahmen deutsche Gruppen die Forderung nach einem »public access«. Sie wollten hauptsächlich Technik und Know-How zur Verfügung stellen, die Filme sollten von den Betroffenen selbst gedreht werden. Stilistisch einflussreich für die deutschen Videogruppen waren auch französische und englische Produktionen. Thomas Tode zeichnet die aufschlussreiche Produktions- und Rezeptionsgeschichte von Chris Markers Essayfilm Le fond de l’air est rouge nach. Am Beispiel der Berichterstattung über die englischen Bergarbeiterstreiks Mitte der 1980er Jahre zeigt Julian Petley die Schwierigkeit, sich in der Mediengesellschaft gegen die vorherrschende Meinung durchzusetzen. Die offiziellen Medien kümmerten sich wenig bis gar nicht um die Positionen der Streikenden, sondern waren völlig gleichgeschaltet mit der neoliberalen Wirtschaftspolitik von Margaret Thatcher. So bildeten sich unabhängige Videogruppen, die die Position der Bergarbeiter verdeutlichten.
Wie sich die Videobewegung in Hamburg entwickelte, erläutert Gerd Roscher an den Beispielen des Medienpädagogik Zentrums und des Medienladens, die [9|10]eine Vorbildfunktion für andere Gruppen in der BRD hatten. Er verweist auf die enge Anbindung an Protestbewegungen und auf Probleme der Positionierung der Gruppen in den 1980er Jahren, als die Videotechnik von staatlicher Seite immer öfter auch als Überwachungsmedium genutzt wurde.
Wie wichtig die Medienarbeit und Filme für eine Selbstfindung verschiedener Protestkulturen waren, lässt sich gut an der Schwulenbewegung der 1970er Jahre aufzeigen. Daniel Kulle arbeitet die Bedeutung der provokativen Filme Rosa von Praunheims für die westdeutschen Homosexuellen heraus. Sie bedeuteten einen Tabubruch. Es wurde über sie gesprochen und es bildeten sich in verschiedenen Städten erste Gruppen, die sich für die Rechte der Homosexuellen einsetzten.
Ähnliches gilt für die Frauenbewegung, die sich zum Ziel setzte, die Rollenzwänge der Adenauer-Ära aufzubrechen, denen zufolge die Frau an den Herd gehörte und sich um die Kinder kümmern sollte. Es brauchte sehr lange, bis die Frauen...