Puzzleteile, oder die Entdeckung eines atemberaubenden Themas – in jeder Hinsicht
Zur Vorgeschichte dieses Buches:
Meine Güte; 25 Jahre dauert die Vorgeschichte dieses Projektes jetzt schon. Es hat sich fast von selbst – geradezu dreist – herangedrängt. In der Rückschau: Was für ein Glück und was für ein Privileg. Eigentlich ist das alles dem Magazin »Der Spiegel« zu verdanken. Sein süffisanter Artikel von Anfang der 1980er Jahre über den indischen Staatspräsidenten Morarji Desai war ein bedeutender Schlüssel. Was für ein Erlebnis, ihm 1994 zu begegnen (vgl. Band 2: Urin weltweit), und von ihm selbst zu erfahren, dass er auch im Alter von 98 Jahren immer noch ein Tässchen Eigenurin zum Frühstück trank und welche Wirkungen er diesem Vorgehen zuschrieb.
Ein weiterer, wichtiger Mensch war Monika Pionka. Eine wirkliche »femme sage«, also eine weise Frau, eine Hebamme, die noch viel von Naturheilmitteln in der Geburtshilfe wusste. Sie weckte das Interesse für alte Methoden. Denn die Begegnung mit den ungewaschenen Schafwoll-Windeln löste ja erst die Stoff- und dann die Urin-Recherche aus. Die Sendung über diese und andere Windeln hatte ein so großes Echo, dass deutlich wurde: Das Thema interessiert tatsächlich viele Menschen. Bis heute ist bedauerlich, dass die Person, die die Sendung wirklich angeregt hat, sich nicht getraut hat, dort hinzukommen. Zur Windel-Sendung hatte sie geschrieben, ihr sei angewidert fast das Frühstücksbrötchen im Hals stecken geblieben. Und: »demnächst würde „Hallo Ü-Wagen“ wohl noch eine Sendung über Pisse machen«.
Natürlich war das Thema den meisten zu der Zeit oberekelig. Aber schon die Sendung: »In aller Munde – die Spucke« hatte über neue und spannende Facetten von Körperfunktionen informiert. Daher stand außer Zweifel, dass auch die Neugier auf den »besonderen Saft« sicherlich völlig Unbekanntes zutage fördern könnte – zumal er doch die einzige Flüssigkeit ist, mit der alle Menschen täglich so oft bewusst Kontakt haben.
Schon die Urin-Recherchen zur ersten Sendung ließen allen in der Redaktion die Augen aus dem Kopf fallen. Was hatten sich die Menschen schon alles im Umgang mit Urin ausgedacht. Manches klang lächerlich und unglaubwürdig. Anderes löste Interesse und Erstaunen aus. Wieder anderes verblüffte.
Die Urin-Sendung am 21.07.1988 in Bad Münstereifel wurde auch für mich selber zu einem Schlüsselerlebnis. Mit einiger Skepsis und ziemlich spitzen Fingern ging ich daran. Zwar dachte ich nicht – wie andere im Vorfeld –, dass alle, die sich dafür interessierten, eigentlich nicht ganz dicht seien. Aber die Neugier übertraf bei Weitem die innere Reserve.
Und dann passierte das Unfassliche: Es kamen immer mehr glaubwürdige Zeugnisse ans Tageslicht: aus dem Krieg, von den Omas und Opas, aus anderen Kulturen. Es stellte sich heraus, dass den meisten Menschen die Anwendung von Urin im Handwerk, im Haushalt, in der Landwirtschaft und im medizinischen Bereich bereits bekannt war. Das Verdienst der Sendung war lediglich, die »Schleusen zu öffnen«, das Thema von Scham zu befreien und Erfahrungen wiederzubeleben, die zu versickern drohten.
In der Folge begannen viele Hörerinnen und Hörer neu, Urin anzuwenden, seine erstaunlichen Wirkweisen wahrzunehmen und darüber zu berichten. Das hinterließ Spuren bei allen, die das gehört haben. Auf keine der 976 Hallo-Ü-Wagen-Sendungen bin ich in den letzten 25 Jahren so oft und mit so lebendigen Erinnerungen an O-Töne angesprochen worden wie auf diese. Es war so beeindruckend, dass die Bereitschaft, in Briefen und auch mündlich, von Alt- und Neuversuchen zu berichten, stetig wuchs. Der Strom riss danach nicht mehr ab. Nicht lange nach der Sendung entwickelte sich etwas, was ich in den 20 Sendungsjahren zuvor nie erlebt hatte: Wildfremde Menschen aus dem Publikum fingen an, mich zu bestürmen, ein Buch zum Thema zu schreiben. Eine Frau bot per Brief an, umsonst zu tippen, damit diese Erfahrungen gesammelt werden könnten. Eine andere Hörerin sandte einen Umschlagentwurf für ein Buch, das ich unbedingt schreiben müsse.
Eine Mitarbeiterin redete mir eindringlich zu und bot Hilfe an, dass ich unbedingt jetzt aufschreiben solle, was ich jetzt erführe. Schließlich kam nach einer Sendung eine Frau auf mich zu. Sie hatte zwei hölzerne Pfeifen in der Hand, fast unterarmlang. Die eine mit einem breiteren Kopf wie ein ovaler Trichter, die andere wie ein kleiner Pfeifenkopf. »Ich war gerade in der Osttürkei«, berichtete sie. »Da habe ich auf einem Markt diese Pfeifen gesehen und erfahren, dass es sich dabei um türkische Windeln handelt, die in Wickelsteckbrettern befestigt werden. Die breite Pfeife ist die Mädchenwindel und die mit der kleinen Öffnung die Jungswindel. So kann der Urin direkt auf den Boden laufen, und die Kinder werden nicht nass. Da habe ich auf dem Markt gestanden und gedacht, dass ich Ihnen, Frau Thomas, diese Pfeifen schenken werde, wenn Sie mir versprechen, ein Buch über das, was Sie jetzt an Erfahrungen sammeln, zu schreiben.«
Türkische Windelspfeifen: Die obere ist für Mädchen, die untere für Jungen
Na, und da ich diese Windeln haben wollte, beschloss ich, das Buch nun umgehend zu beginnen.
Einen Monat später – ich hatte gerade 50 Seiten zusammen – rief mich Dr. Reinhold Neven Du Mont, der Verleger von Kiepenheuer & Witsch, an. Er wolle mich zum Mittagessen einladen. Ich kannte ihn nur flüchtig und war neugierig. Ob ich nicht Lust hätte, mal ein Buch für seinen Verlag zu schreiben, wollte er wissen. »Was für ein Zufall«, sagte ich. »Ich schreibe gerade eins.« Als er das Thema erfuhr, war er überrascht. Er hatte noch nie etwas von den vielfältigen Anwendungsweisen des Urins gehört, wirkte aber offen und interessiert. »Ich werde in unserer Lektoratsrunde darüber diskutieren. Nächsten Mittwoch sage ich Ihnen Bescheid.«
Am Montag darauf traf ich meinen alten Studienkollegen Jean Pütz, den Moderator der Hobbythek rein zufällig. Wir verabredeten uns nach vielen Jahren, in denen wir zwar als Kollegen in der gleichen Anstalt arbeiten, aber wenig Umgang miteinander haben, zusammen zu essen. Im Laufe des Gespräches sagte Jean: »Warum schreibst du nicht mal ein Buch über deine Arbeit?« Ich musste lachen. Schließlich werde ich nicht dauernd von Menschen gefragt, ob ich Bücher schreiben möchte. Nun schon der zweite innerhalb von fünf Tagen.
»Ich schreibe gerade eins«, erzählte ich. »Und vielleicht habe ich sogar schon einen Verleger.« Ich berichtete vom Treffen mit Neven Du Mont. »Ach – der ist doch nicht der Richtige dafür«, sagte Jean etwas kritisch. Er schwärmte mir von seinem Verleger vor, der ein offener Mann sei und sich bestimmt für das Thema interessiere. Er könne einen Kontakt herstellen. Gesagt, getan. Am Nachmittag des nächsten Tages besuchte mich Dr. Heinz Gollhardt vom vgs-Verlag.
Zu meiner Überraschung – denn schließlich ist das Thema zu dieser Zeit noch so tabu, dass vielen Leuten bereits der Gebrauch des Wortes Urin Schamesröte ins Gesicht trieb – reagierte er nur einen Hauch erstaunt, sonst aber aufgeschlossen. »Sie müssen sich rasch entscheiden«, sagte ich zu ihm, »denn morgen erhalte ich einen Rückruf von Kiepenheuer & Witsch.« Tatsächlich gab er mir ohne weitere Bedenkzeit den Zuschlag. Reinhold Neven Du Mont rief am nächsten Tag an und sagte ab. »Wir halten ein Buch zu diesem Thema für unverkäuflich.« Also landete ich beim vgs-Verlag. Aufgrund der Riesenreaktion des Publikums bis zu diesem Zeitpunkt war mir sonnenklar, dass das Buch kein Flop werden könne. Das die Geschichte fünf Jahre später dann total einschneidende Folgen haben würde, konnte niemand damals ahnen (siehe auch S. 267: Lebensveränderndes durch Urin).
Die Pressekonferenz zum Erscheinen von »Ein ganz besonderer Saft – Urin« war schlecht besucht. Die bürgerlichen Medien reagierten kaum. Das Buch verkaufte sich dennoch gut. Auftritte in Talkshows brachten dann den großen Durchbruch. Der Gesamtverlauf war typisch für echte Veränderungen nach dem Muster: Erst ignoriert, dann verlacht, dann bekämpft, und dann übernommen. (Alfred Biolek hat später erzählt, dass die Sendung mit dem Urin-Thema die mit der höchsten Einschaltquote gewesen sei.)
Ein schöner Nebeneffekt der etwas mager besuchten Pressekonferenz: Ich lernte dort Coen van der Kroon kennen. Der Holländer hatte sich schon einige Zeit auch praktisch mit Urin in Indien beschäftigt und war Menschen begegnet, die in Urin-Kliniken arbeiteten. Er schrieb gerade selbst an einer Veröffentlichung zum Thema und hatte eine eigene wichtige Heilerfahrung mit seinem zerschmetterten Zeh gemacht. Statt ihn, wie ihm die Ärzte empfohlen hatten, abnehmen zu lassen, war der Zeh spektakulär wieder...