Hongkong – Sprungbrett zu China
Tief in der Nacht hebt die Air India in Bangkok ab und schwebt drei Stunden später über dem Flughafen Hongkongs, der inmitten des Häusergewirrs in Kowloon auf dem Festland liegt. Die Sonne ist aufgegangen, die Inseln schimmern im blauen Meer. Die Wolkenkratzer an der Küste des Festlandes wirken wie eine Mauer vor den steilen Hügeln der Landschaft in der Ferne. Der Pilot streift fast die Dächer, ehe er auf der kurzen Landebahn steil und gekonnt aufsetzt. Eine scharfe Kontrolle findet im Zoll statt.
Bus 201 bringt mich zur Nathan Road, der Hauptverkehrsader Kowloons, die sich von Süden nach Norden durch die Stadt zieht. Im Chunking Mansion in der unteren Nathan Road befindet sich im 16. Stock das Travellers Hostel für Rucksackreisende, das ich ansteuere und in dem ich unterzukommen hoffe. Im Eingangsraum liegt eine Matratze neben der anderen auf dem Boden für diejenigen, die keinen Platz mehr in den Schlafräumen finden — ungemütlich, laut und von der Öffentlichkeit nicht abgeschirmt! Denis, ein Kanadier, den ich in Bangkok kennengelernt habe, läuft mir über den Weg und wir teilen uns ein Zimmer im dritten Stock des Hochhausblocks im Princess Hotel, das auch nicht die Welt kostet.
Denis, mein Zimmergenosse, will wie ich so schnell wie möglich nach China einreisen. In zwei Reisebüros erkundigen wir uns nach den Visabedingungen. Sie behaupten, Ausländer müssten eine Tour buchen, um ein Visum zu bekommen. Allein dürften sie nicht einreisen. Vom Flug bin ich noch müde und alles nervt mich, die Hitze, die Autoströme in den Straßen, die vielen Menschen, die sich über die Bürgersteige schieben und einander anrempeln, die vor Schmutz starrenden Treppenaufgänge im Chunking Mansion, die ich benutze, wenn der kleine, ewig überlastete Aufzug nicht kommt.
Erst am Abend bessert sich meine Stimmung. Die immer noch belebten Straßen glänzen im Lichterschein. Riesige Leuchtreklamen überspannen die Nathan Road. Von der Fähre, die zwischen Kowloon und Hongkong Central im Zehnminutentakt verkehrt, der Star Ferry, blicke ich über den Hafen auf die erleuchteten Wolkenkratzer und Straßenzüge auf der anderen Seite. Die Lichter ziehen sich die Hügel hinauf bis zum 550 Meter hohen Victoria Peak, dem beliebten Aussichtspunkt der Stadt.
Mit der Star Ferry setze ich am nächsten Tag nach Hongkong Central über. Trotz der vielen Leute, die die Fähre täglich benutzen, entsteht kaum Gedränge. Sanft ergießen sich die Menschenströme auf die beiden Decks des weißgrünen Boots. Für viele Leute mag die Überfahrt der Augenblick des Verschnaufens im sonst quirligen Getriebe Hongkongs bedeuten, untermalt durch das beruhigende Tuckern der Maschine. Wir sind umhüllt von den Gerüchen des Hafens, die von Algen, vermodertem Tang und Ölflecken auf den Wellen des Hafenbeckens aufsteigen und die schwüle Luft der Subtropen durchsetzen.
Auf der Insel ragt ein Wolkenkratzer höher als der andere in den Himmel, moderne Shopping-Arkaden reihen sich aneinander. Eine alte, zweistöckige Straßenbahn quietscht die Des Voeux Road entlang. Zum Westen hin, außerhalb des Geschäftskerns, stehen die älteren Hochhäuser Hongkongs mit vor Staub blinden Fensterscheiben, die in grünen Eisenrahmen hinter Eisengittern stecken. Von den verwitterten Fassaden bröckelt der Putz, in den Fensterrillen liegt Schmutz. In den engen Seitenstraßen zwischen Des Voeux Road und Queens Road bieten chinesische Händler in Marktbuden tausenderlei Krimskrams an: Textilien, Taschen, Gürtel und Turnschuhe.
Später sitze ich im Dachgarten des YMCA in der Salisbury Road auf der Kowloon-Seite und genieße den unvergleichlichen Blick über den Hafen und auf Hongkong bei Nacht. Ich stehe auf und schlendere durch die Straßen. Plötzlich treffe ich Jim, einen Amerikaner, der seit sechs Jahren in Hongkong lebt. Er lädt mich ins feudale Regent Hotel zum Tee ein. Durch die riesigen Panoramascheiben des Restaurants schimmert das Lichtermeer der Stadt und ich komme mir vor wie in einem Planetarium, umgeben von glitzernden Sternen auf blauem Nachtgrund.
Mit der Trambahn fahre ich am nächsten Nachmittag zum Victoria Peak hinauf und blicke von oben auf die Wolkenkratzer, die wie schlanke Säulen vor den Hügelketten in der Ferne aufragen und den Hafen umranden. Das Hafenbecken geht über in das weite Chinesische Meer, das mit unzähligen Inselchen durchsetzt ist. Macao ist in der Ferne zu erkennen, die Inseln Lantau und Lamma stechen wegen ihrer Größe hervor. Frachter und chinesische Dschunken ziehen durchs Wasser, unzählige Schiffe liegen vor Anker. Dampfer tuten, Motoren brummen dumpf und Möwen kreischen. Gibt es einen schöneren Hafen? Auf der ganzen Welt nicht!
Im Peak Tower entdecke ich Restaurants, Läden und einen Dachgarten. Ich verlasse den Peak Tower und klettere auf der Mt. Austin Road zur Bergspitze hinauf. Der Sonnenuntergang beginnt. Eine blaue Dämmerung verschleiert die Sicht, dann bricht die Nacht herein: In Tausenden von Räumen gehen nach und nach die Lichter an, Hongkong erstrahlt. Um die Aussicht lange genießen zu können, laufe ich auf einer menschenleeren Panoramastraße den Berg hinunter. Der Weg zieht sich lang hin, zu lang, denn jetzt bin ich zu müde, um durch die Lichterstraßen Kowloons zu bummeln.
Die doppelstöckige Straßenbahn, die seit 1904 existiert, ruckelt nach Shankiwan im Osten der Insel. Einst war Shankiwan ein Piratenunterschlupf, heute liegt hier die zweitgrößte Fischerflotte Hongkongs. In Stanley auf der anderen Seite der Insel tummeln sich die Menschen an den Stränden der Landzunge. Ein großer Markt, den ich besuche, bildet das Textileinkaufsparadies des Ortes. Stand steht neben Stand, in den schmalen Gassen reiht sich ein Laden an den anderen. Außerhalb des Zentrums befinden sich die niedrigen Häuser der Fischer. In der Repulse Bay fallen die Hügel steil zum Wasser ab. Große und kleine Inseln ragen in einer anmutigen Meereslandschaft auf.
Im Vergnügungspark Lai Chi Kok stehen Karussells und Buden, Textil- und Essstände, Wahrsager lesen ihren Kunden aus der Hand und in einer Ecke trällern Sänger eine Geschichte für das Volk. In einem schmucklosen Saal erklingt die Musik einer chinesischen Oper. Für fünf Hongkong-Dollar sitze ich in der ersten Reihe. Ein Dreimann-Orchester spielt die für europäische Ohren eigenartige, chinesische Musik. Die Sänger zwitschern in hohen, kurzen Tönen, ihr Gesang ertönt als rufendes Schreien. Ein Liebesdrama spielt sich ab. Die verheiratete Heldin verliebt sich in einen anderen Mann. Als sie schwanger wird, muss sie in den Karzer, wie Gretchen in Goethes Faust. In den letzten beiden Akten spitzt sich das Geschehen zu. Die Kostüme der Sänger glitzern, ihre Gesichter sind wie bei Pantomimen grell und maskenhaft bemalt. Die Frisuren türmen sich hoch auf.
Die chinesische Oper entwickelte sich aus Gesang und Tanz des Volkes während der Tang-Dynastie (618 – 906). Sie vereint Instrumentalmusik, Gesang, Schauspiel, Pantomime, Tanz und Akrobatik.
Im gut gefüllten Saal geht es zwanglos zu. Jeder kommt und geht, wann er will. Es herrscht kein Dresscode. Die Leute unterhalten sich, wenn ihnen danach ist, naschen, schnabulieren und knabbern, holen sich etwas zu trinken und fläzen sich im Sessel. An den Wänden hängen Schilder: NO SMOKING! Viele rauchen, ich auch.
Am nächsten Tag komme ich auf der Star Ferry mit einem älteren Chinesen ins Gespräch, der fließend Deutsch spricht. Gemeinsam nehmen wir einen Bus nach Aberdeen, der schwimmenden Stadt der Wasserchinesen auf der Insel Hongkong. 20 000 Menschen leben dort auf Hausbooten, den Sampans. Die schmale Bucht liegt voll mit Booten. Man schüttet sie zu, um Bauland zu gewinnen. Auf dem Festland rundum erheben sich eckige Wolkenkratzer mit Sozialwohnungen. Wir laufen die Marktstraßen entlang zum Aberdeen Square, überqueren die große Brücke und schlendern auf der anderen Seite durch die schmalen Gassen, die von baufälligen, einfach zusammengeschusterten Hütten gesäumt sind. In einigen befinden sich Werkstätten, andere sind bewohnt. Mein Begleiter zeigt mir das »Visa Office of China« in der Nähe von Aberdeen. Das gibt es also! Ich nähere mich meinem Ziel! China rückt näher! Vergnügt nehme ich die Straßenbahn zur Star Ferry zurück und falle im Hotel todmüde ins Bett.
Am nächsten Tag erkundige ich mich im Visa-Büro und verlasse es zutiefst enttäuscht: Es bietet nur Touren zu gesalzenen Preisen an. »Gehen Sie zu ›China International Travel Service‹ (CITS), Floor M, 2025 East Wing, Hotel Miramar, 134 Nathan Road in Kowloon«, empfiehlt die Angestellte. CITS, das Reisebüro, das es auch in allen großen Städten Chinas gibt, liegt in der Nähe meines Hotels. Gespannt frage ich dort nach. Ja, hier bin ich endlich richtig!
Man wird mir unter zwei Bedingungen ein Visum ausstellen: In der ersten Stadt meines Aufenthalts muss ich mich mit einem Reiseführer treffen und die Zugfahrkarte zur ersten Stadt meines Aufenthalts muss ich hier, bei CITS,...