Start ins Leben
Als ich auf die Welt komme, ist sie schon da. Meine Schwester ist knapp 19 Monate älter als ich, und alle nennen sie »Mausi«. »Mau« sage ich, als ich mit dem Sprechen anfange. Dann »Mausiii« – mit vielen Is. Vor allem wenn sie nicht in meiner Nähe ist. Für mich ist sie mehr als meine große Schwester. Sie ist mein zweites Ich. Und das gehört natürlich an meine Seite. Klar, dass ich Mama und sie zu Mausis Einschulung in die Berliner Lynarstraße begleite. Jedes Kind wird einzeln aufgerufen. Beim Namen »Gertrud« meldet sich niemand. Mama beugt sich zu Mausi: »Du bist gemeint. Gertrud ist dein offizieller Name. Aber für uns bleibst du die Mausi.«
Ich bin seit 1938 auf dieser Welt und bis heute die Grit. So steht’s auch in meinem Pass. Dass auf meiner Geburtsurkunde ein anderer Vorname eingetragen ist, erfahre ich wie Mausi erst bei der Einschulung. Da heiße ich auf einmal Margit. Mamas Erklärung diesmal: »Damals, bei deiner Geburt, waren kurze Vornamen nicht erwünscht. Der Hitler mochte sie wohl nicht.«
Mehr sagt sie nicht, und ich frage nicht weiter. Dass Eltern und Kinder über vieles reden, sich vertrauensvoll austauschen, das ist damals keine Selbstverständlichkeit, eher ein Unding. Mausi, unsere Freundinnen und ich kennen es nicht anders und vermissen den ehrlichen Austausch daher nicht. Auch der Krieg ist bei uns daheim tabu.
»Es gibt Weihnachten, Ostern, Geburtstage, und es gibt Krieg«, erklärt Mama es kurz. »Merkt euch einfach: Es kommt, wie es kommt.«
Es kommt, wie es kommt. Diesen Satz habe ich schon früh verinnerlicht. Und auf meine Art interpretiert: Was und wie es auch kommt, Mausi und ich müssen es hinnehmen. Kein Drama daraus machen, sondern lieber das Beste. Es zumindest versuchen.
Das tue ich bereits mit vier – auf etwas kuriose Art und Weise. Mama isst gern Innereien, besonders Nieren. Mausi auch. Ich nicht. Da bei uns aber »gegessen wird, was auf den Tisch kommt« und ich Mama nicht verärgern möchte, entwickle ich einen Plan und mache ihn meiner Schwester schmackhaft: »Wenn du meine Portion mitisst, kriegst du was von mir.«
»Was?«, fragt sie sofort.
»Die nächste Zuckerstange, die uns der Bäcker schenkt«, verspreche ich.
Mausi nimmt das Angebot an. Da Mama meist vor oder nach uns isst, bekommt sie unseren Handel nicht mit. Und wenn Mausi mal keine Lust auf eine zweite Portion hat, vergrabe ich die Nierchen einfach in den Kästen auf unserem Balkon. Ein schlechtes Gewissen habe ich nicht. Hauptsache, Mama muss nicht schimpfen, weil ich meinen Teller nicht leer esse. Ohrfeigen tut sie uns nie. »Wenn ihr frech seid, gibt’s Hausarrest«, warnt sie uns manchmal vor. »Oder ich rede eine Woche nicht mit euch.«
Eine Woche kein Wort! Das wollen und können wir uns nicht vorstellen. Nein, wir möchten Mama nicht ärgern. Sie hat genug zu tun. Wie viele Frauen, deren Männer im Krieg sind, erzieht sie uns allein, ist gleichzeitig Mama und Papa. Als Sekretärin verdient sie für uns drei das Geld. Nebenher schmeißt sie den Haushalt und organisiert Mausis und meinen Alltag während der Stunden, in denen sie unterwegs ist. Viel Zeit für sie selbst bleibt da nicht. Auch nicht zum Schmusen mit uns oder zum Vorlesen.
Papa ist als Soldat erst in Frankreich stationiert, dann in Jugoslawien. Mama spricht nicht über ihn. Vielleicht fürchtet sie, dass sie dann weint. Das macht sie nie vor uns. Nur einmal sehe ich zufällig, wie sie ein Foto von Papa in der Hand hält und ihre Augen feucht schimmern. Sie hat sich immer unter Kontrolle – unseretwegen. Mausi und ich spüren das instinktiv. Es sind schwere Zeiten, das hören wir Kinder ständig da und dort. Mama sagt das nicht, sie möchte uns unsere Kindheit möglichst leicht machen.
Manchmal, wenn wir schon im Bett liegen, sitzt sie abends mit unserer Nachbarin Elsa in der Küche. Wir wissen nicht, worüber sie sprechen, aber sie lachen oft laut. Dann lächeln Mausi und ich uns an – und schlafen heiter ein.
Nicht vor anderen weinen – das übernehme ich schon früh von Mama. Wenn ich traurig bin oder mich verletzt fühle, mache ich das mit mir aus. Bis heute. Nur mit einem Unterschied: Als Kind habe ich mich zum Weinen auch mal in den Ästen von einem der Bäume in unserer Straße versteckt. In meinem Alter klettere ich nicht mehr.
Spielsachen haben Mausi und ich damals nicht – wie die meisten Kinder in unserem Mietshaus in Berlin-Spandau am Wolmirstedter Weg 7. Wir wohnen im zweiten Stock, haben zwei Zimmer. Ein Paar nebenan teilt sich eine Kammer. Eine fünfköpfige Familie mit viel Geld, so tuschelt man, residiert im Parterre mit Terrasse. Die Tochter ist ein paar Jahre älter als wir und trägt Kleider, die wir nur aus Schaufenstern kennen. Manchmal treffen wir uns alle ganz unten im Luftschutzkeller. Da hängen Gasmasken. Wenn alles ruhig ist, setzen wir sie auf und erschrecken uns gegenseitig. Die Erwachsenen lächeln dann nur.
Am liebsten spielen wir draußen auf der Straße. Da fahren kaum Autos, und es gibt Platz genug für Kästchenhüpfen, Ballspiele, Verstecken oder Rollschuhlaufen. Birgit, ein drei Jahre jüngeres Nachbarmädchen, hat welche. Die kann man kleiner und größer einstellen, und manchmal leiht Birgit sie mir. Ich habe schnell den richtigen Schwung raus, schwebe dahin, drehe Pirouetten.
»Dass dir nicht schwindlig wird«, wundert sich Mausi.
»Niemals«, erwidere ich. »Vielleicht werde ich ja mal Tänzerin.«
»Das ist doch kein Beruf«, sagt sie. »Ich werde Krankenschwester. Wie die Frau im Hinterhaus, die immer so ein Häubchen auf dem Kopf hat. Die hat mir gesagt, dass es wichtig ist, kranken Menschen zu helfen.«
Dazu fällt mir nichts ein. »Komm, lass uns Marienkäfer suchen!«
Das ist eines meiner Lieblingsspiele. Eng aneinandergedrängt, Flügel an Flügel sitzen sie in den grünen Büschen in unserem Viertel. Manche haben gelbe Punkte, die schimmern wie Gold. Wir Kinder sammeln sie in kleinen Schachteln mit Luftlöchern. Wer nach einer Viertelstunde die meisten Käfer hat, hat gewonnen. Dann lassen wir sie wieder fliegen. Ich gewinne oft. Als ich Mama davon erzähle, sagt sie: »Vielleicht bist du ein Glückskind, Grit. Die kleinen Käfer gelten als Symbol für Glück und Fleiß.«
Mausi hört zu und zieht die Mundwinkel nach unten. »Ich möchte auch ein Glückskind sein. Aber ich mag das Spiel nicht.« Sie hat’s überhaupt nicht so mit Tieren. Wenn ich eine Schnecke von der Straße ins Gebüsch setze oder einen Wurm vor einem Vogel rette, sagt sie »Igitt« und schüttelt sich.
Sind wir uns sonst ähnlich? Wir sind beide blond wie unsere Mama. Mausi dunkel-, ich hellblond. Ich habe Streichholzbeinchen, sie nicht. Und was unsere Charaktere betrifft: Ich habe von klein auf meinen eigenen Kopf, sie passt sich schneller an. Aber das alles trennt uns nicht. Ob wir uns über Kleinigkeiten streiten, ich sie mal auf dem Balkon aussperre oder sie mich – zu zweit fühlen wir uns am besten.
Erst recht, als eine Nachbarin, die als Kinderschneiderin ihr Geld verdient, uns Stoffreste schenkt. Und dazu zwei kleine Püppchen, jedes circa zehn Zentimeter groß. »Ran an die Arbeit«, ermuntert uns Tante Tutta, wie wir sie alle nennen. »Die beiden Nackedeis brauchen eine Garderobe für alle Gelegenheiten.« Sie gibt uns auch noch Nadel und Faden und bringt uns die wichtigsten Stiche bei.
Was für ein Riesenspaß! Stundenlang entwerfen wir, schneidern und nähen: Kleider, Hosen, Jacken und den ganzen Rest. Mausi ist da geschickter und exakter. Ich bin etwas großzügiger, nicht so sorgfältig. Bei mir reißt eine Hose schnell wieder auf, bei ihr hält sie ein Puppenleben lang.
Tante Tutta näht auch ab und zu für uns. Mein Lieblingskleid ist hellblau, hat Puffärmel und einen leicht gefalteten Rock. Ich trage es, bis es nicht mehr passt und die Nähte platzen. Von da an faszinieren mich Falten- und vor allem Plisseeröcke. Die sind aber zu teuer für uns. Später, als ich mein erstes Geld verdiene, möchte ich mir einen Plisseerock kaufen. Als ich mich bei der Anprobe im Spiegel des Kaufhauses sehe, ziehe ich den Rock sofort wieder aus. Meine Beine, die ich bis heute zu dünn finde, sehen unter den Falten noch dürrer aus.
Von den Beinen zu den Füßen. Die wachsen in unserem Alter natürlich schnell – zu schnell für Mamas Geldbeutel. Ein-, zweimal im Jahr geht sie mit uns in einen Schuhladen in der Nähe. Beim Reinkommen sehe ich ein Paar in Mahagoni mit rötlichem Lack vorn an der Spitze. Die und keine anderen möchte ich haben. Es gibt sie nur noch in einer Größe. Zuversichtlich probiere ich sie an. Zu eng. Ich kneife meine Zehen so fest wie möglich zusammen, schnüre die Schuhe zu und mache ein paar Probeschritte. »Die sind so schön«, schwärme ich Mama vor, »und die passen ganz toll.« Ich bin keine gute Schwindlerin. Mama durchschaut mich sofort.
»Du gehst so komisch, Grit. Zieh sie bitte aus, wir messen mal deine Füße aus.«
Tschüs, Mahagonis! Die Schuhe, die Mama dann kauft, sind etwas zu groß, aber passen mit Einlegesohle genau und halten lang.
Sie überstehen auch unseren Aufenthalt bei Tante Anni und Onkel Gerd in Klein Kreutz bei Brandenburg. 1943 fahren wir mit Mama hin. »Wird Zeit, dass wir sie mal wieder besuchen«, sagt sie nur und drängt zur Eile.
Das Haus in Klein Kreutz liegt zwischen lauter Weinreben, es klebt regelrecht an einem Berg. Drinnen ist es ziemlich dunkel. Viele Fenster sind kaputt und mit Pappe verkleidet. Der Onkel murmelt irgendwas von »Luftangriffen«. In der Nähe hat er einen Bunker tief in die Erde gebaut und oben mit Sand zugeschüttet. Ganz flach, »damit die feindlichen Flieger ihn nicht...