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E-Book

Ein Spiel dauert 90 Millionen

Wie der Kommerz unserem Fußball die Seele raubt

AutorAndreas Hock
Verlagriva Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783959713733
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis2,99 EUR
DFB-Pokalfinale in Berlin. Halbzeit. Plötzlich pfeift ein ganzes Stadion Helene Fischer aus, die gerade zur Unterhaltung des Publikums einen Song zum Besten gibt. Doch die Pfiffe gelten nicht ihr. Sie gelten der Kommerzialisierung des Sports, dem Bruch mit Traditionen. Im Schlagerdunst wird allen klar: Früher war irgendwie alles besser. Da gab es nämlich keine Multifunktionsarenen mit bescheuerten Sponsorennamen, und wir Fans brauchten keine vegane Bratwurst als schicken Halbzeitsnack in der VIP-Lounge. Vertragslaufzeiten wurden zwischen Präsident und Spieler noch per Handschlag besiegelt, und die Transfersummen überstiegen nicht das Brutto- Inlandsprodukt von Dritte-Welt-Staaten. Bestsellerautor Andreas Hock beschreibt witzig, melancholisch und überraschend den Niedergang des Fußballs - vom Wunder von Bern bis zum Aufstieg von RB Leipzig. Er zeigt auf, dass dieser faszinierende, einzigartige und so emotionale Sport früher vielleicht erschütternd behäbig, furchtbar altmodisch und manchmal auch total uncool war, aber dafür noch eine wahre Seele hatte.

Andreas Hock schreibt seit 15 Jahren für verschiedene Zeitungen und Magazine. Von 2007 bis 2011 war er bei der AZ Nürnberg einer der jüngsten Chefredakteure Deutschlands. Heute arbeitet er als freier Journalist, Ghostwriter und Autor. Er lebt in Nürnberg.

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Leseprobe

VORWORT


VON PETER NEURURER


Um vorab eins klarzustellen: Ich liebe den Fußball! Das meine ich ernst, darüber hinaus liebe ich nur noch meine Frau und meine beiden Kinder. Aber ich bin ein Fußballverrückter, der Fußball ist mein Leben. Ich gehöre zu den Menschen, die sich an sieben Tagen in der Woche von mittags bis abends Spiele im Fernsehen anschauen können, ohne dass es ihnen dabei langweilig wird. Ich gehe gern in die Stadien und beobachte mit Freude, wie temporeich dieser Sport geworden ist und auf welch hohem technischem Niveau heute in der Bundesliga gespielt wird. Das Problem ist nur: Ich bin nicht der Maßstab.
Denn ich bin Trainer, seit meinem 29. Lebensjahr. Ich habe schlimme Niederlagen erlitten, Mannschaften vor dem Abstieg gerettet und den VfL Bochum in den Europapokal geführt. Mir sind in all den Jahren unzählige irre Geschichten passiert, und ich bin in ein paar schmutzige Intrigen hineingeraten. Manchmal hatte ein einfacher Handschlag mit einem Präsidenten länger Bestand als jeder Vertrag, und manchmal besaß der bereits unterschriebene Kontrakt eines Managers nicht einmal den Wert des Papiers, auf dem er gedruckt war. Ich kann also, ganz ohne Übertreibung, durchaus behaupten, dass ich schon so gut wie alles im Fußball erlebt habe.
Aber noch nie habe ich mir solch große Sorgen um ihn gemacht wie heute. Ich befürchte nämlich, dass er sich immer weiter von der Basis entfernt. Dass die Fans in den Kurven bald nichts mehr anfangen können mit dem, was unten auf dem Platz passiert.
Das fängt schon damit an, dass es kaum noch Spieler gibt, die einen Bezug zu dem Verein besitzen, für den sie gerade auflaufen. Man glaubt ja immer, Loyalität und regionale Verbundenheit gab es zuletzt in den Fünfzigerjahren. Aber als ich 1989 bei Schalke anfing, standen dort zum Beispiel Werner Vollack, Ingo Anderbrügge, Carsten Marquardt, Michael Wollitz oder Peter Sendscheid im Kader, um nur einige zu nennen. Vollack kam aus Duisburg, Anderbrügge aus Datteln, Marquardt aus Oberhausen, Wollitz aus Brakel und Sendscheid aus Niederbardenberg. Diese Jungs brannten für S04, weil ihnen der Verein, das Trikot, das Logo wirklich noch etwas bedeuteten. Die kannten alle die Region und wussten, was die Leute im Stadion dachten und fühlten. Da war jemand wie Jürgen Luginger, der mit einem bayerischen Akzent sprach, in der Truppe schon ein Exot, und Ausländer hatten wir genau drei.
Heute grasen die reichen Klubs ab der D-Jugend bundesweit alles ab, was geradeaus laufen und gegen einen Ball treten kann, und stecken sie in Internate, wo sie dann zu regelrechten Fußballmaschinen ausgebildet werden, denen es im Grunde egal ist, wo sie einmal unter Vertrag stehen. Und die ärmeren Vereine kaufen eben auf der ganzen Welt fertige Kicker ein, weil sie sich die teure Jugendarbeit nicht mehr leisten können. Im Extremfall kommt dann eine Mannschaft dabei heraus, die ohne einen einzigen deutschen Spieler antritt – wie etwa Eintracht Frankfurt in der abgelaufenen Saison. Bei Erfolg ist das den Leuten vielleicht noch egal. Identifikation sieht trotzdem anders aus. Da braucht man sich auch nicht zu wundern, wenn die Funktionäre nur noch von »Spielermaterial« sprechen, einem Begriff, bei dem ich das Kotzen kriege, weil es immer noch um Menschen geht. Aber Material lässt sich halt beliebig austauschen.
Dass da irgendwann auch die Moral auf der Strecke bleibt, ist eine logische Konsequenz. Ich will gar nicht vom vielen Geld reden, das mittlerweile im Fußball im Umlauf ist – ich gönne wirklich jedem das Gehalt, das er verdient, und dass Ablösesummen wie im Fall Neymar einfach nur pervers sind, habe ich schon oft genug gesagt. Aber wenn ein Verein von manchen seiner Spieler nur noch verarscht und erpresst wird, damit sie zum nächstbesten Klub weiterziehen können, dann müssen wir uns alle nicht wundern, wenn der Ton insgesamt rauer wird, wenn in sozialen Netzwerken anonyme Anfeindungen auf der untersten Schiene ausgesprochen werden oder wenn Ultragruppen die eigene Mannschaft bedrohen. Früher gab es noch einen direkten Bezug zwischen Spielern und Fans. Diese gegenseitige Akzeptanz hat in vielerlei Hinsicht geholfen. Wer da zu abgehoben war, wurde schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Dafür herrschten auch in den Blöcken noch der nötige Respekt und Anstand, wenn die Leistung stimmte.
Auch die zerstückelten Anstoßzeiten halte ich für gefährlich. Unabhängig davon, dass das zu Riesenstress in der Familie einerseits und zu einer totalen Übersättigung selbst bei hartgesottenen Anhängern andererseits führen kann, wenn an jedem Tag der Woche irgendeine Partie übertragen wird: Dass die Bundesliga in aller Regel am Samstag um halb vier gespielt hat, hatte schon seinen Sinn. Dem DFB war damals noch der Amateurfußball wichtig, denn von dort kamen ja die meisten Talente. Und für viele Menschen besaß es eine verdammt große emotionale Bedeutung, ihre Heimatteams zu unterstützen, auch wenn sie sich ansonsten für die Bundesliga begeisterten. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, dass die berühmten Bocholter Derbys zwischen dem 1. FC und dem FC Olympia in den Siebzigerjahren vor 10 000 Zuschauern und mehr stattfanden – je nachdem, in welchem Stadion am Hünting man gegeneinander spielte. Ausverkauft war aber immer. Auch damals waren viele Bocholter sicherlich Schalke-, Gladbach- oder Dortmund-Fans. Aber die Profis kamen erst an die Reihe, wenn die Amateure fertig waren.
Doch wenn bloß wegen des Fernsehens in der ersten und zweiten Liga um 13 Uhr oder demnächst vielleicht sogar noch früher angepfiffen wird, dann geht das nicht mehr. Dann stehen in Bocholt und anderswo in den unteren Klassen noch hundertfünfzig Unentwegte auf dem Graswall und erinnern sich wehmütig an die guten alten Zeiten. Der Rest sitzt zwangsläufig in den schicken Arenen oder vor der Glotze und vergisst, dass es auch etwas anderes gibt als das, was auf Sky übertragen wird: das nämlich, was über viele Jahrzehnte hinweg die Seele des Fußballs ausgemacht hat. Davon mal ganz abgesehen, ist für die Spieler solch ein Hochleistungssport zur Mittagszeit sogar richtiggehend ungesund – es sei denn, sie werfen sich zum Frühstück die nötigen Kohlehydrate wie Nudeln oder Reis ein, aber wer will das schon? In England jedenfalls reichen die Anstoßzeiten künftig vom Vormittag bis zum späten Abend. Das ist doch alles nicht mehr normal!
Worüber ich mich auch richtig ärgern kann, ist, dass Fußball heute oft wie eine komplizierte Wissenschaft verkauft wird. Und diejenigen, die meinen, eine Ahnung zu haben, glauben auch noch, das Exklusivrecht darauf zu besitzen. So wird heute hochtrabend von »falscher Neun« und »Doppel-Sechs« doziert, von »Pressing« und »Gegenpressing«, von »Vertikalpässen«, »horizontaler Raumaufteilung« und anderem theoretischem Tinnef. Das kapieren vielleicht einige Schlauberger, die meisten normalen Leute aber längst nicht mehr. Dabei ist das Spiel an sich gleich geblieben, seit ich 1987 bei Rot-Weiß Essen meinen ersten Job im Profifußball angenommen habe. Natürlich hat die Geschwindigkeit zugenommen und sind andere Systeme hinzugekommen. Aber es geht im Kern immer noch darum, ein Tor mehr zu schießen als der Gegner; es geht um Sieg, Unentschieden oder Niederlage. So einfach ist das. Aber so mancher selbst ernannte Konzepttrainer will das nicht begreifen. Ich bin mal gespannt, wie viele von denen in dreißig Jahren noch im Geschäft sind, so wie es Erich Ribbeck, Christoph Daum, Otto Rehhagel oder, bei aller Bescheidenheit, auch ich geschafft haben. Wir hätten auch von »Variabilität«, »flacher Vier« und »Umschaltbewegungen« reden können und bei den Pressekonferenzen Phrasen dreschen. Aber wir wollten lieber verstanden werden.
Wir brauchten auch keine aufwendigen Datenbanken von einer mit zehn Fachkräften bestückten Scouting-Brigade, um zu wissen, wer am besten wo eingesetzt werden kann. Wir verließen uns auf unsere Augen, unser Bauchgefühl und unsere Menschenkenntnis. Und ich mich zusätzlich auf meine dreitausendsechshundert Dossiers über alle Spieler, die ich jemals in meiner Laufbahn beobachtet habe. Weil ich mit so manchen technischen Neuerungen auf Kriegsfuß stehe, habe ich die Informationen im Lauf der Zeit allesamt auf Band gesprochen, und ein Freund hat sie mir irgendwann in eine Datei auf meinem Computer gezogen. So wurde ich gewissermaßen autodidaktisch zum allerersten »Laptoptrainer«, lange bevor dieser bescheuerte Begriff aufgekommen ist.
Es wird ja immer beklagt, dass es keine echten Typen im Fußball mehr gibt. Das glaube ich gar nicht. Ich denke nur, dass sich die Typen einfach nicht mehr zu erkennen geben dürfen. Egal, ob Spieler oder Trainer: Wer heute ein Sturschädel mit Ecken und Kanten ist, der wird von der Medienabteilung seines Vereins abgeschliffen und weichgespült. Und wer ausnahmsweise mal nach einem Spiel um die Häuser zieht, der findet sich ein paar Stunden später auf einem unscharfen Foto im Internet wieder, am besten noch versehen mit dem Hinweis, dreißig Pils getrunken zu haben – was zumindest in meinem Fall schon mal nicht sein kann, weil ich viel lieber Rotwein mag. Und weil da verständlicherweise keiner Bock drauf hat, bleibt man eben lieber unter sich. Auch dadurch ist eine Parallelwelt entstanden, die dem Fußball ganz sicher nicht gutgetan hat.
Wenn ich die Uhr zurückdrehen könnte und zwei Wünsche frei hätte, dann würde ich das Bosman-Urteil aufheben, das Verträge im Grunde obsolet und die ganze Beraterbranche erst richtig reich gemacht hat. Und ich würde die unsäglichen Anstoßzeiten wieder vereinheitlichen. Auch wenn einige Leute gerne behaupten, ich hätte nicht alle Latten am Zaun, weiß aber selbst ich, dass das leider nicht...
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