Kapitel 1: «So endete der Herbst.»
Hanns Martin Schleyer und die Toten von Stammheim
Geschichte der Bundesrepublik. Am 25. Oktober 1977 findet der Staatsakt für Hanns Martin Schleyer statt. Vierundvierzig Tage war er als Geisel in der Gewalt der linksterroristischen Gruppe «Rote Armee Fraktion» gewesen. Dann ermordeten ihn die Terroristen.
Bundespräsident Walter Scheel führt Waltrude Schleyer, die Witwe, durch den Mittelgang der Stuttgarter Domkirche Sankt Eberhard. Sie nimmt in der ersten Reihe Platz – zwischen dem Bundespräsidenten und Bundeskanzler Helmut Schmidt, zu dessen anderer Seite Hanns-Eberhard Schleyer sitzt, ihr ältester Sohn – ein Stück weiter die drei jüngeren Brüder: Arnd, Dirk und Jörg.
Allen sind Trauer, auch Verzweiflung, anzusehen. Helmut Schmidt sitzt in sich zusammengesunken da. Mal hält er die Hand über die Augen, mal legt er sie über den Mund. In den Bänken hinter der Familie haben sich die Mitglieder des Krisenstabs versammelt.
Bundeskanzler Helmut Schmidt zwischen Waltrude und Hanns-Eberhard Schleyer beim Staatsakt in der Stuttgarter Domkirche Sankt Eberhard
In seiner Rede sagt der Bundespräsident, auch die anderen Staaten hätten jetzt begriffen, dass durch den Terrorismus ihre Ordnung, ja jede Ordnung gefährdet sei. Das merke man unter anderem daran, dass sowohl die Regierung der Sowjetunion als auch die der DDR «uns in diesen Tagen ihre Hilfe anboten». Wie aufrichtig dieses Angebot ist, zeigt sich nach dem Niedergang der DDR, als nach und nach ans Licht kommt, wie umfangreich das Ministerium für Staatssicherheit die terroristischen Gruppen in der Bundesrepublik unterstützt hat. Neben der RAF gehören dazu auch die «Bewegung 2. Juni» und die «Revolutionären Zellen».
In seiner Rede beschwört Scheel die Weltgemeinschaft, eine Konvention gegen Terrorismus zu beschließen. Wenn man auf die Forderungen der Entführer eingegangen und inhaftierte Terroristen freigelassen hätte, wäre ein «Flächenbrand» ausgebrochen. Um das zu verhindern, habe man Opfer bringen müssen. Scheel bittet die Familie Schleyer deshalb «im Namen aller deutschen Bürger» um Vergebung. Hanns Martin Schleyers Tod müsse man als Einschnitt in der Geschichte begreifen.
Fünf Tage zuvor, am Morgen des 20. Oktober, hatte Helmut Schmidt vor den Abgeordneten des Bundestags eine Regierungserklärung abgegeben. Seine ersten Worte darin lauten:
Helmut Schmidt bei seiner Regierungserklärung am 20. Oktober 1977
«Das Bundesverfassungsgericht hat in den frühen Morgenstunden des 16. Oktober im Namen unseres Volkes für Recht erkannt: Die Artikel 1 und 2 unseres Grundgesetzes verpflichten den Staat, jedes menschliche Leben zu schützen. Diese Schutzpflicht ist umfassend. Sie gebietet dem Staat, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen; das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen Angriffen von Seiten anderer zu bewahren. An diesem Gebot haben sich alle staatlichen Organe, je nach ihren besonderen Aufgaben, auszurichten.
Alle staatlichen Organe! Das Verfassungsgericht hat hinzugefügt: Das Grundgesetz begründet eine Schutzpflicht nicht nur gegenüber dem Einzelnen, sondern auch gegenüber der Gesamtheit aller Bürger.
Die Wahrnehmung dieser doppelten Pflicht setze voraus, dass die staatlichen Organe ihre Maßnahmen der Vielfalt der jeweiligen konkreten Situation ohne Festlegung auf ein bestimmtes Verhalten anpassen können.»
In seiner Rede rechtfertigt Helmut Schmidt darüber hinaus das Vorgehen innerhalb der letzten sechs Wochen und lobt, wie die Parteien, wie Opposition und Regierung miteinander kooperiert hätten, «im Handeln und in der Verantwortung». Schmidt betont, dass diese vollständige Zusammenarbeit natürlich eine Ausnahme darstelle, lässt aber keinen Zweifel daran, dass sie notwendig gewesen sei.
Nach ihm erhält der Oppositionsführer Helmut Kohl das Wort. Er spricht den Angehörigen von Hanns Martin Schleyer seine Anteilnahme aus, erzählt von seiner Trauer und der Freundschaft, die ihn mit Schleyer verband. Am Schluss seiner Rede mahnt er, da ein Ende des Terrorismus nicht absehbar sei, jetzt «so zügig, so schnell wie möglich alle notwendigen Maßnahmen zu treffen, in der Gesetzgebung genauso wie bei der notwendigen Verbesserung von Organisation und Ausbildung unserer Polizei- und Sicherheitsorgane».
Beide, sowohl Schmidt als auch Kohl, stellen die Wochen des Deutschen Herbsts als schwere Krise des Rechtsstaats dar, die nun beendet sei. Zu diesem Ende gehören die Ermordung des zweiundsechzigjährigen Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, seines Fahrers Heinz Marcisz, der einundvierzig Jahre alt war, der Polizeibeamten Roland Pieler (20), Helmut Ulmer (24), Reinhold Brändle (41) und des siebenunddreißigjährigen Piloten Jürgen Schumann sowie der Suizid der RAF-Gefangenen Andreas Baader (34), Gudrun Ensslin (37) und Jan-Carl Raspe (33).
Hanns-Eberhard Schleyer
Die Nachricht vom Tod meines Vaters nahm ich in der Nacht vom 19. Oktober 1977 entgegen. Es muss kurz vor Mitternacht gewesen sein. Meine Brüder, meine Mutter und ich hatten auf den Anruf des damaligen Justizministers Hans-Jochen Vogel mehrere Stunden lang gewartet. Die Anspannung dieser Stunden und der letzten Wochen wich mit einem Mal. Ich spürte nur noch eine große Leere, als Vogel uns mitteilte, dass die Suche nach meinem Vater vorbei sei. So endete der Herbst.
Nachdem Hanns Martin Schleyer sechs Wochen zuvor entführt worden war, hatten sich zwei Gremien gebildet, um darüber zu entscheiden, wie in diesem Fall vorzugehen sei: In dem «Großen Politischen Beraterkreis» waren durch die Fraktions- und Parteivorsitzenden paritätisch alle im Bundestag repräsentierten Parteien vertreten.
Die Linie gab im Wesentlichen die «Kleine Lage» vor, bestehend aus Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD), Bundesinnenminister Werner Maihofer (FDP), Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP), dem Innenminister von Nordrhein-Westfalen Burkhard Hirsch (FDP), Staatsminister Hans-Jürgen Wischnewski, den Staatssekretären Manfred Schüler, Siegfried Fröhlich und Heinz Ruhnau (alle SPD), dem BKA-Präsidenten Horst Herold, Generalbundesanwalt Kurt Rebmann sowie Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel (SPD). Die beiden Gremien tagten und berieten während der Dauer der Entführung, die alle im Land in Atem hielt, ununterbrochen – in ständigem Austausch mit dem Kabinett.
Hans-Jochen Vogel
Gegen 23 Uhr rief ich Hanns-Eberhard Schleyer an. «Der Tod Ihres Vaters steht nunmehr amtlich fest», sagte ich ihm. Als Justizminister hatte ich den Auftrag gehabt, während der Dauer der Entführung täglich mit ihm zu telefonieren und ihn über den Fortgang der Fahndung zu informieren. Von den Hunderttausenden Gesprächen, die ich in meinem Leben geführt habe, waren das nicht nur die ungewöhnlichsten, sondern auch die schwersten.
Der Audi, in dessen Kofferraum Hanns Martin Schleyers Leiche am 19. Oktober 1977 gefunden wurde, im elsässischen Mülhausen
Schon eineinhalb Stunden zuvor hatte die Deutsche Presse-Agentur (dpa) gemeldet, dass es sich bei dem im Kofferraum eines Audi Typ 100 gefundenen Toten um Hanns Martin Schleyer handelte. Die Rote Armee Fraktion, namentlich die Terroristen Peter-Jürgen Boock, Willy Peter Stoll, Stefan Wisniewski und Sieglinde Hofmann, hatten den Präsidenten der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und des Bundesverbandes der Deutschen Industrie am 5. September 1977 in Köln entführt.
Schleyer war von den Terroristen zuletzt in einer Wohnung in Brüssel gefangen gehalten worden. Im Austausch gegen ihn sollten die RAF-Mitglieder Gudrun Ensslin, Andreas Baader, Jan-Carl Raspe, Irmgard Möller, Werner Hoppe, Verena Becker, Hanna Krabbe, Karl-Heinz Dellwo, Bernhard Rössner, Ingrid Schubert und Günter Sonnenberg aus der Haft freigepresst werden.
Hanns Martin Schleyer war, zu diesem Ergebnis kamen die Ermittler später, im Freien durch drei Kopfschüsse getötet worden. An seiner Kleidung hingen Tannennadeln und Grashalme. Nachdem die Identität der Leiche feststand, hatte Innenminister Werner Maihofer die Suche umgehend einstellen lassen.
Hans-Jochen Vogel
Trage ich Schuld am Tod von Hanns Martin Schleyer? Im hohen Alter, gerade jetzt, da der eigene Tod näher rückt, denke ich oft darüber nach. Am 20. Oktober 1977, einen Tag nachdem die Polizei Hanns Martin Schleyer tot aufgefunden hatte, beendete Helmut Schmidt seine Regierungserklärung im Bundestag mit den Worten: «Gott helfe uns!»
Die tiefe Trauer, die wir alle angesichts der Tragödie empfanden, spiegelt sich in diesen Worten wider. Denn Schmidt ist kein gläubiger Mensch gewesen. Ich kann mich nicht erinnern, je wieder eine ähnliche Formulierung von ihm gehört zu haben. Haben wir uns schuldig gemacht? Die Frage begleitet mich seit 1977. Und die anderen von damals, die noch leben, sicher auch. Vier Jahrzehnte des Nachdenkens, aber ich komme immer wieder zu demselben Ergebnis: Ich habe Hanns Martin Schleyers Tod zwar nicht verschuldet, aber mitverursacht habe ich ihn doch. Mir, uns allen, die der «Kleinen Lage» angehörten, war klar, dass unsere Entscheidungen Einfluss darauf nahmen, ob er überleben würde. Man hoffte natürlich. Man glaubte bis zum Schluss,...