Das deutsche Umsatzsteuerrecht basiert grundsätzlich auf dem Netto-Allphasen-Mehrwertsteuer-System. Demnach schuldet gem. § 13a Abs. 1 Nr. 1 UStG grundsätzlich der Unternehmer die Umsatzsteuer, der eine steuerpflichtige Leistung erbringt.[29] Dieses System wurde in der letzten Zeit jedoch oft missbraucht, sodass vermehrt Betrugsfälle aufgetreten sind. Die Betrugsfälle bestehen darin, dass ein Unternehmer tatsächlich oder zum Schein in die Leistungskette eingeschaltet wird. Er weist Umsatzsteuer in seiner Rechnung aus, führt sie jedoch nicht an das Finanzamt ab. Der Leistungsempfänger erwirbt dagegen einen Vorsteuererstattungsanspruch gem. § 15 UStG gegen die Finanzbehörde, den er geltend macht. Anschließend ist der Aussteller der Rechnung bzw. der Leistungserbringer entweder zahlungsunfähig oder taucht unter, ohne seinen Verpflichtungen gegenüber der Finanzbehörde nachzukommen (auch als „Missing-Trader“ bezeichnet).[30] Der Finanzbehörde bleibt in diesem Fall keine Möglichkeit, ihren Steueranspruch beim Leistungserbringer durchzusetzen.[31]
Der sog. „Karussell“-Betrug ist eine erweiterte Form des „Missing-Trader“-Betrugs. Hier werden dieselben Gegenstände zwischen Mitgliedsstaaten zirkuliert, ohne dass tatsächlich eine Lieferung stattfindet. Auf diese Weise werden Steuerbeträge mehrfach unterschlagen.[32] Dieses Betrugsmodell ist besonders effektiv, da auch (Schein‑)Lieferungen ins Ausland vorgenommen werden. Aufgrund deren Steuerfreiheit gem. § 4 Nr. 1 Buchst. b und § 6a UStG verschaffen sich die Betrüger auf diese Weise eine noch größere Liquidität und stellen dementsprechend einen noch größeren Schaden für den Fiskus dar. Zudem wird es den Finanzbehörden durch die Beteiligung von ausländischen Unternehmern erschwert, das Umsatzsteuer-Karussellgeschäft aufzudecken.[33]
Beispiel:
Eine im Inland ansässige Firma A verkauft Waren im Wert von 1 Mio. Euro an Unternehmen B in einem anderen EU-Staat. Dieser Vorgang ist für beide Firmen umsatzsteuerlich neutral, da die Lieferung gem. § 4 Satz 1 Nr. 1b UStG umsatzsteuerfrei ist. B verkauft nun weiter an den im selben Mitgliedsstaat ansässigen C und stellt ihm dafür (beispielsweise) wegen der 19%igen Mehrwertsteuer insgesamt 1,19 Mio. Euro in Rechnung. Die Umsatzsteuer i. H. v. 190.000 Euro müsste B innerhalb einer bestimmten Frist an sein Finanzamt abführen, C hingegen bekommt die Mehrwertsteuer im Rahmen des Vorsteuerabzugs erstattet. B führt seinerseits die Umsatzsteuer nicht ab und taucht unter. Dadurch wurde der Staat um 190.000 Euro betrogen. C verkauft unterdessen die Ware steuerfrei zurück an Firma A.
Oft werden auch zusätzliche „Buffer“[34] in die Lieferkette eingeschaltet, um den Behörden eine Rückverfolgung zu dem eigentlichen inländischen Exporteur zu erschweren.[35]
Ein Karussellgeschäft mit Beteiligung eines Buffers und eines ausländischen Unternehmers wird durch folgende Skizze verdeutlicht:[36]
Abb. 1: Karussellgeschäft
Um die Durchsetzung eines Steueranspruchs in bestimmten Fällen zu vereinfachen, hat der Gesetzgeber erstmals im Jahre 1980 reagiert und für bestimmte Leistungen das so genannte Abzugsverfahren nach § 18 Abs. 8 UStG 1980, §§ 51 bis 58 UStDV 1980 eingeführt.[37] Damals war der Umsatzsteueranspruch insbesondere bei steuerpflichtigen Leistungen durch ausländische Unternehmer gefährdet, da diese für den deutschen Fiskus kaum greifbar waren.[38] Im Abzugsverfahren erhielt der leistende Unternehmer vom Gesamtrechnungsbetrag nur den Nettobetrag. Dem Leistungsempfänger war dagegen die Pflicht auferlegt, die Umsatzsteuer vom Rechnungsbetrag einzubehalten und unmittelbar an das Finanzamt abzuführen. Mit dieser Regelung sollte das Steueraufkommen gesichert und die Bürokratie abgebaut werden.[39]
Dass der Leistungsempfänger im Rahmen des Abzugsverfahrens nach § 18 Abs. 8 UStG 1980, §§ 51 bis 58 UStDV 1980 jedoch lediglich der Haftungsschuldner und der leistende Unternehmer weiterhin der Schuldner der Umsatzsteuer war,[40] hat in der Vergangenheit zu Anwendungsproblemen geführt.[41] Der Leistungsempfänger hatte für die Zahlung einer Steuerschuld zu sorgen, die rechtlich die Schuld seines Geschäftspartners war.[42] Des Weiteren kam es beim Abzugsverfahren zu gemeinschaftsrechtlichen Bedenken, da diese Regelung nicht im Einklang mit der 6. EG-Richtlinie 1977 stand und somit nicht gemeinschaftskonform war.[43]
Die Vorschriften der 6. EG-Richtlinie 1977[44] sehen vor, dass die Umsatzsteuerschuld unter bestimmten Voraussetzungen vom leistenden Unternehmer auf den Leistungsempfänger verlagert wird.[45] Der Leistungsempfänger schuldet zwar die Umsatzsteuer, hat jedoch gleichzeitig einen Vorsteuerabzug aus der empfangenen Leistung, soweit er gem. 15 UStG vorsteuerabzugsberechtigt ist. So saldiert sich beim Leistungsempfänger die Umsatzsteuerschuld mit dem Vorsteuerabzug, was für ihn einen „durchlaufenden Posten“ und somit keine finanzielle Belastung darstellt.[46] Folglich kann dem Fiskus kein finanzieller Schaden entstehen, da der Vorsteuerabzugsberechtigte und der Schuldner der Umsatzsteuer ein und dieselbe Person sind. Dadurch ist der Leistungsempfänger nicht lediglich der Haftende, sondern schuldet auch ausschließlich allein die Umsatzsteuer.[47] Dieses Verfahren wird international als „Reverse-Charge“ bezeichnet. Die Möglichkeit der Einführung dieser Vorschrift in die nationalen Gesetze der Mitgliedsstaaten räumte Art. 21 Abs. 2 Buchst. c der 6. EG-Richtlinie[48] ein.[49]
Mit Wirkung vom 1. Januar 2002 hat die Bundesrepublik Deutschland als letzter EU-Mitgliedsstaat diese Regelung eingeführt; alle anderen damaligen Mitgliedsstaaten der EU haben diese Regelung bereits früher in ihr jeweiliges nationales Recht umgesetzt.[50] In diesem Zusammenhang wurde § 13b in das Umsatzsteuergesetz aufgenommen.[51] Seither gelten in allen Mitgliedsstaaten identische Handhabungen, was zu einer weiteren Vereinheitlichung und damit Entbürokratisierung innerhalb der Europäischen Union beiträgt.[52]
Die Grundsätze des Abzugsverfahrens gem. § 18 Abs. 8 UStG 1980, §§ 51 bis 58 UStDV 1980 blieben bei der Einführung des Reverse-Charge-Systems gem. § 13b UStG 2002 zunächst unverändert.[53] Bis zum 31. März 2004 ging die Steuerschuldnerschaft auf den Leistungsempfänger für Werklieferungen und Leistungen ausländischer Unternehmer, Lieferungen sicherungsübereigneter Gegenstände durch den Sicherungsgeber an den Sicherungsnehmer außerhalb eines Insolvenzverfahrens sowie Lieferungen von Grundstücken im Zwangsversteigerungsverfahren über.[54]
Mit dem Haushaltsbegleitungsgesetz 2004[55] durchbrach der Gesetzgeber erneut das Mehrwertsteuersystem und bestimmte gem. § 13b Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 UStG 2004 mit Wirkung vom 01. April 2004 den Leistungsempfänger auch bei gewissen Bauleistungen zum Steuerschuldner.[56] Gleichzeitig wurde das Reverse-Charge-Verfahren gem. § 13b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG 2004 auf alle steuerpflichtigen Umsätze, die unter das Grunderwerbsteuergesetz fallen, ausgedehnt.[57]
Bereits einige Monate später gab es die nächste Erweiterung im Bereich des nationalen Reverse-Charge-Verfahrens. Ab dem 1. Januar 2005[58] wurde die Vorschrift des § 13b UStG um Lieferungen von Gas und Elektrizität eines im Ausland ansässigen Unternehmers gem. § 13b Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 UStG 2005 erweitert.[59]
Zum 1. Juli 2010 wurde der Handel mit Treibhausgas-Emissionszertifikaten gem. § 13b Abs. 2 Nr. 6 UStG 2010 dem Anwendungsbereich des § 13b UStG hinzugefügt.[60]
Im Rahmen des Jahressteuergesetzes 2010[61] hat der Gesetzgeber die Lieferungen von werthaltigen Abfallstoffen gem. § 13b Abs. 2 Nr. 7 UStG 2011, Gebäudereinigungsleistungen gem. § 13b Abs. 2...