KAPITEL 1 TRÄUMER
Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang geschäftsmäßig. Kurz und trocken, aber nicht unsympathisch. »Hier ist die Redaktion des Scotsman, mein Name ist Sonja – wie kann ich Ihnen helfen?« Ich stotterte los wie ein rostiger Außenborder: »Ah ja, äh … Könnte ich Iain sprechen? Ich bin’s, Guy, aus dem zweiten Stock.« Ich hoffte, meine Taktik, nach Iain zu fragen, würde Eindruck machen. Aber Sonja war eine erfahrene Sekretärin. Sie kannte alle Tricks.
»Darf ich fragen, was Sie von Iain wollen?« Höflich, aber ich konnte ihre Verwunderung hören, dass sich ein einfacher Mitarbeiter aus dem Vertrieb beim Herausgeber der ehrwürdigsten Tageszeitung Schottlands meldete.
»Wäre es möglich, einen Termin bei Iain zu bekommen?«
»Er hat gerade sehr viel zu tun, Guy. Worum geht es denn?«
Kurz überlegte ich, ob ich ihr nicht einfach die Wahrheit sagen sollte. Dass ich nämlich kurz davor war durchzudrehen und den Punkt erreicht hatte, an dem es kein Zurück mehr gab. Dass ich nur noch eine Möglichkeit sah, den Kerker meiner Existenz in diesem Büro hinter mir zu lassen: nämlich die Flucht an einen der einsamsten, wildesten Orte der Erde, Welten entfernt von meiner Familie und mit der Aussicht, dabei womöglich draufzugehen.
Stattdessen sagte ich: »Sonja, es mag vielleicht seltsam klingen, aber könnten Sie ihm bitte ausrichten, dass er einen Termin mit mir nicht als totale Zeitverschwendung sehen wird?«
Sie lachte, ein gutes Zeichen. »Guy – um was geht es denn eigentlich?«
»Weiß ich auch nicht so genau, um ehrlich zu sein. Aber ich glaube, dass mir Iain weiterhelfen kann.«
»Warten Sie bitte.« Im Hintergrund klingelten Telefone, es raschelte kurz, Sonja blätterte im Kalender ihres Chefs. Dann war sie wieder dran: »So. Morgen um halb sechs könnte gehen. Kommen Sie einfach rauf, dann sehen wir weiter. Ich kann aber nichts versprechen …«
»Danke, Sonja! Ich werde pünktlich da sein.«
Ich legte auf und erkannte die Gestalt meines Vorgesetzten vor meinem Schreibtisch. Er fixierte mich mit einem seltsamen Gesichtsausdruck. »Sagen Sie, Guy, was ist eigentlich aus der Kalkulation geworden, die Sie mir versprochen hatten?«
Mit einem Blick, der professionelle Konzentration demonstrieren sollte, schaute ich kurz auf und hackte ein dynamisches Stakkato in meine Tastatur. »Bin mittendrin. Kriegen Sie morgen, okay?«
»Morgen. Aber das ist Ihre letzte Chance, Guy. Haben wir uns verstanden?«
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich seit fünf Jahren in der Marketingabteilung des Scotsman in Edinburgh gearbeitet und auf verschiedenen Posten, nicht ohne Erfolg, daran mitgewirkt, neue Wege zu erschließen, wie das Unternehmen auch in Zeiten sinkender Auflagen Gewinn machen konnte. 2002, rund zweieinhalb Jahre nach meinem Einstieg beim Scotsman, entschloss sich ein wohlmeinender Geschäftsführer (der möglicherweise ebenso ratlos war, was meine Zukunft betraf, wie ich selbst ) auszuprobieren, ob ich auch in der Lage sein würde, eine leitende Position zu übernehmen.
Man beförderte mich von meinem Posten als niederer Vertriebsangestellter zum »Leiter der Abteilung Marketingstrategien« und richtete mir eines der kleinen, aber schicken Büros im obersten Stockwerk ein. Eine Zeit lang war ich tatsächlich hochmotiviert: Vielleicht war dieser Wechsel ja der Anfang von etwas Größerem. Ich schmiedete Pläne, tüftelte an Strategien und fühlte mich wie zu Hause in der Chefetage. Regelmäßig hielt ich Meetings ab an meinem Konferenztisch aus Mahagoni-Imitat und servierte meinen Kollegen stolz Kaffee und Kekse.
Die Zeit verging, Wochen wurden zu Monaten, und die Manager warteten geduldig auf meine neuen Impulse. Man munkelte, dass ich an einem Bonusprogramm arbeiten würde, und dabei lag die Gerüchteküche gar nicht so weit daneben. Tatsächlich hatte ich mit Bauhäusern und Gartenmärkten verhandelt und Rabatte für unsere neuen Abonnenten herausschlagen können. Zusätzlich sollte es für jeden neuen Leser ein Geschenk geben: einen Buddelhund aus Porzellan, also eine von diesen Deko-Figuren für den Garten, die scheinbar mit dem Kopf im Sand stecken und wühlen. Der Schwanz unseres Buddelhunds war beweglich, er wedelte im Wind.
Wenn ich mich abends auf den Weg nach Hause machte, drehten sich meine Gedanken um nichts anderes als Bonusprogramme und Abo-Prämien. Zum Glück wohnten wir weit draußen, und bis ich zu Hause war, hatte ich den Tag weitgehend abgehakt. Ich saß jeden Tag drei Stunden im Auto, aber das war mir das Leben auf dem Land wert. Meistens kam ich gerade noch pünktlich, um unserem zweijährigen Sohn Oscar eine Gutenachtgeschichte vorzulesen. Dann verschlangen meine Frau Juliet und ich ein spätes Abendessen, und viel mehr Zeit blieb uns nicht. Am folgenden Morgen schlüpfte ich in aller Frühe aus dem Bett und verließ das Haus auf Zehenspitzen, während meine Familie noch schlief.
Der Startschuss für meine Abo-Aktion kam – und sie entpuppte sich sofort als spektakulärer Flop. Mein Büro war fortan nicht mehr die erste Station auf der Karriereleiter eines jungen Managers auf dem Weg zum Ruhm. Sondern eine Abstellkammer für mehr als tausend Kartons mit der Aufschrift: Buddelhund. Unauffällig wurde ich zurück in die Vertriebsabteilung komplimentiert.
Und das war der Moment, wo ich anfing zu träumen – von meiner Flucht in die Wildnis.
Juliet stand kurz vor der Geburt unseres zweiten Kindes, die Darlehenszinsen für das Haus und die Rückzahlungen für die Kreditkarte machten uns fertig. Wir waren mit solchen Sorgen nicht allein, fast allen unseren Freunden ging es so oder sogar noch schlimmer, aber ich wollte nicht akzeptieren, dass es aus dieser Tretmühle kein Entkommen gab. Es schien, als ob alles, was wir erreicht hatten, auf einem Schuldenberg aufgebaut war, und diese Schulden ließen mir keine andere Wahl, als mich jeden Tag wieder auf den deprimierenden Weg zu meiner kleinen Ecke in der Hölle des Großraumbüros zu machen. Ich stand in der Blüte meines Lebens und verbrachte jeden Tag acht Stunden damit, an einem vollklimatisierten Arbeitsplatz auf einen Computerbildschirm zu starren. Dazu kamen weitere drei Stunden, die ich im Auto saß. Ich fühlte mich wie ein Gefangener.
In meinen Mittagspausen ging ich in den Fitness-Club auf der anderen Straßenseite, wo ich allerdings schon bald einen großen Bogen um die solariengebräunten Typen auf den Laufbändern vor der Spiegelwand machte. Stattdessen fing ich an, draußen zu laufen. Das war meine kleine Flucht vor der Musikberieselung und den vielen aufdringlichen Egos, mein eigenes eingeschlossen, und wahrscheinlich habe ich mit dem Laufritual sogar meine Seele gerettet. Denn jetzt konnte ich die Jahreszeiten nicht nur vom Fenster aus sehen, ich konnte sie riechen. Ich spürte den Schmerz, wenn meine Strecke steil nach oben führte, und die Kälte, wenn ich Wind und Regen ausgesetzt war. Und das fühlte sich gut an.
Mit meinem Lauf entkam ich der trivialen Ödnis meiner Büroexistenz, und ich entdeckte meinen Körper neu. Doch der Genuss, draußen an der frischen Luft zu sein, war gleichzeitig der Auslöser für meine private Rebellion. Zunächst war es nur eine Laune, eine verrückte Idee, aber es dauerte nicht lange und ich verfolgte diesen Gedanken mit zunehmender Ernsthaftigkeit: Ich sehnte mich nach einem Leben in der absoluten Wildnis. In meinen Träumen ließ ich die Fesseln des Alltags hinter mir: diese Welt, in der es auf schicke Büros und Firmenwagen ankam und die allein von Ertragszielen regiert wurde. Was ich stattdessen wollte, waren Bäume und weites Land, jedenfalls genügend Freiraum, um mich selbst zu vergewissern, was es eigentlich bedeutete, ein Mann zu sein, und dabei vielleicht gleich noch einen Weg zu finden, wie ich mit meiner Familie ein größeres Maß an Freiheit erleben konnte.
Meiner Frau fiel es nicht leicht zu verstehen, was mich da gepackt hatte. Auch sie war nicht glücklich mit dem Leben, das wir uns aufgebaut hatten. Was blieb denn übrig davon, wenn man sich den Firmenwagen und das hübsche Haus einmal wegdachte? Wir hatten nichts, keine Reserven, und unser Alltag bestand eigentlich vor allem darin zu strampeln, um nicht unterzugehen. Ich verbrachte so viel Zeit bei der Arbeit und mit dem Pendeln, dass Juliet den größten Teil der Woche auf sich selbst gestellt war – wie eine alleinerziehende Mutter, das war leider die Realität. Sie litt unter meiner wachsenden Verzweiflung, aber verständlicherweise machte sie sich Sorgen, wie es denn weitergehen sollte, wenn ich meinen Job hinschmiss, ohne eine Alternative gefunden zu haben. Im Vergleich zu vielen anderen Menschen ging es uns doch eigentlich gut: ein schönes Zuhause, ein gesunder Sohn und ein zweites Kind auf dem Weg, dazu ein gut bezahlter Job. Warum konnte ich denn damit nicht zufrieden sein? Was wollte ich denn noch? Tief in ihrem Herzen spürte auch Juliet, dass es eben nicht genug war, für uns beide nicht, und dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis wir daran zugrunde gingen.
IM LAUFE DES FOLGENDEN JAHRES verbrachte ich jede freie Minute damit, zu Hause wie im Büro, nach einem Ziel für den Aufbruch in mein neues Leben zu suchen. Bis tief in die Nacht recherchierte ich im Netz und nahm Kontakt zu Menschen am anderen Ende der Welt auf, die mir bei meinem Vorhaben eventuell helfen konnten. Alaska stand schon früh an der Spitze meiner Favoriten: reichlich unberührte Natur, und auf einer gigantischen Fläche von...