Am Morgen ihres Hochzeitstags geht Elizabeth Barrett am Arm ihrer Zofe aus dem Haus, angeblich, um einen alten Freund zu besuchen. Sie trägt ein Straßenkleid, denn ihr Vater darf nicht wissen, wohin sie strebt: von der Wimpole Street Nr.?50 im Nordwesten von London zum Droschkenstand in der Marylebone Street und von dort zur Kirche am Regent's Park, wo Robert Browning sie erwartet. Es sind nur ein paar hundert Schritte, aber ein großer Anlauf für den Sprung über den Abgrund, der sich hinter ihr auftun würde. Unterwegs läßt sie an einer Apotheke halten, um eine Portion Riechsalz zu kaufen, denn Miss Barrett, die in der Nacht zuvor kein Auge zugetan hat und alles in allem nicht sehr robust ist, weiß nicht, ob die Füße sie bis an ihr Ziel tragen würden.
Es ist der 12. September 1846, ein Samstag, und als die kleine Gesellschaft nach der Zeremonie um Viertel nach elf aus der Kirche tritt: das Brautpaar mit den Zeugen – ein Vetter von Mr. Browning und Miss Barretts Zofe Lily Wilson –, meint der Kirchendiener zum Dank für ein ordentliches Trinkgeld ihnen ein paar weise Worte über den heiligen Ernst der Ehe mit auf den Weg geben zu müssen – nur um in ersterbender Rede das Paar in zwei Kutschen steigen und in verschiedene Richtungen davonrattern zu sehen.
Elizabeth Barrett Browning fährt zu Mr. Boyd, dem blinden Freund, der als Vorwand für ihr Fernbleiben von zu Hause gedient hat. Mit keinem Wort verrät sie, daß sie soeben geheiratet hat, aber sie nimmt gern ein Glas Zypernwein. Robert Browning kehrt ins Haus seiner Eltern nach New Cross zurück, damals ein Londoner Vorort in Surrey. Während seine Frau ihren Ehering vom Finger dreht und in die Tasche steckt, schreibt er ihr den 280. Brief in den zwanzig Monaten ihrer Bekanntschaft. Er hat genau mitgezählt. Die Hochzeit ist ihre 91. Begegnung; sie hat dreißig Minuten gedauert. »Ich blicke zurück, und in jedem Punkt, jedem Wort und jeder Geste, jedem Brief und jedem Schweigen bist Du mir einfach vollkommen gewesen. Ich wollte kein Wort und keinen Blick zurücknehmen. […] Ich bin sehr stolz, daß mein Leben so von Dir gekrönt ward.«
Foto 2: Robert Browning
Sie antwortet ihm: »Liebster, in der Aufregung und Verwirrung von gestern morgen war doch noch Raum für einen Gedanken, der keine Empfindung war – denn ich dachte daran, daß keine von den vielen, vielen Frauen, die aus dem gleichen Anlaß an der gleichen Stelle gestanden hatten, wo ich jetzt stand, daß wohl nicht eine von ihnen so viel Grund gehabt haben konnte, dem Mann, den sie heiratete, zu vertrauen und sich ihm völlig hinzugeben wie ich – nicht eine. Und dann dachte und fühlte ich zugleich, daß es nur gerecht sei, daß jene anderen Frauen die liebevolle Zuneigung und Unterstützung ihrer Eltern oder Geschwister genossen, die mir fehlte, denn ich hatte sie weniger nötig, weil ich glücklicher war.«
Nach den gesellschaftlichen Regeln ihrer Zeit ist sie eine Mesalliance eingegangen. Sie hat einen Mann geheiratet, der jünger und ärmer ist als sie. Aber daran verschwendet sie keinen Gedanken. Sie würde alle Brücken hinter sich abbrechen. »Du hast mich aufgehoben und ins Leben, ins Sonnenlicht getragen … Was Du errettet und wiedererweckt hast, gehört Dir allein.«
Eine Woche später packt Elizabeth Barrett Browning das Nötigste und reist mit Robert Browning über Paris nach Italien. Das Paar hatte befürchtet, irgendein »Penny-pro-Zeile-Nachrichtenkrämer« – Vorläufer des modernen Leser-Reporters – könne im Kirchenregister blättern und die Zeitungen könnten Wind davon bekommen: Miss Elizabeth Barrett (40), die geheimnisvolle Einsiedlerin aus der Wimpole Street, eine unserer bedeutendsten Poetinnen, die seit Jahren nicht mehr in Gesellschaft gesehen wurde, und der mit einem Achtungserfolg (Paracelsus) hervorgetretene und mit seinem Folgewerk (Sordello) im Ansehen wieder gesunkene Nachwuchsdichter Robert Browning (34) haben sich unbemerkt von der Öffentlichkeit das Ja-Wort gegeben …
Aber kein Gesäusel rührt sich in diesen stillen Septembertagen. Nur Elizabeths Schwester Arabel, die ihr Geheimnis ahnt, wartet vergeblich auf ein Wort der Erklärung. Doch Elizabeth schweigt so gut sie kann, weil sie die Jüngere nicht als Mitwisserin dem Zorn ihres Vaters Edward Moulton Barrett, des »Donnergottes«, ausliefern will. »Er wird mich umbringen«, schreibt sie. Und doch ist es »entsetzlich … entsetzlich, einem Menschen aus freien Stükken Schmerz zuzufügen … das erste Mal in meinem Leben«.1
Das Abfahrtsdatum wird dreimal festgelegt und dreimal verworfen, und der reiseerprobte Browning, der von seinem Vater hundert Pfund geliehen hat, droht beim Buchen der Fahrkarten und Schiffspassagen kurzfristig außer Fühlung mit seinem praktischen Verstand zu geraten. Die Zofe Wilson packt Bücher, Kleider und Briefe zusammen und schickt die Kisten mit der Droschke in der Nacht vor der Abreise zur Vauxhall Station. »Ich hielt sie für verzagt und ängstlich«, schreibt Elizabeth, »und sorgte mich wegen ihrer Zaghaftigkeit. Aber allmählich komme ich dahinter, daß keiner so kühn ist wie die Zaghaften, wenn sie erst einmal richtig aufgebracht sind.« Wilson und Flush, der Hund, begleiten Elizabeth Barrett Browning, als sie am 19. September gegen halb vier die Tür der Wimpole Street Nr.?50 endgültig hinter sich schließt, um Robert Browning in Hodgsons Buchladen in der Great Marylebone Street (heute New Cavendish Street) zu treffen. »Nun werde ich nur noch Dich haben, mich zu lieben – mein Geliebter! Nur Dich! Als sagte einer nur Gott.« Ihren Vater sollte sie nie wiedersehen.
Wie erwartet, erhebt sich ein Sturm hinter den beiden. Nicht, daß die Londoner literarische Szene entrüstet wäre. Keine Ächtung straft das Paar wie dreißig Jahre zuvor Percy Shelley und Mary Godwin oder acht Jahre nach ihnen Miss Evans alias George Eliot und George Henry Lewes, als sie zusammen Richtung Kontinent verschwinden. Keiner – außer Barrett Père – weigert sich später, das Paar zum Tee zu bitten, seine Briefe zu empfangen oder seine Bücher zu kaufen. Nur der alte Wordsworth brummt: »Na, hoffentlich verstehen sich wenigstens die beiden, da sie sonst niemand versteht.«
Die bessere Gesellschaft ist entbrannt von diesem romantischen Streich. »Haben Sie gehört, daß Miss Barrett, die angeblich im Sterben lag, aus dem Bett gesprungen und mit Robert Browning durchgebrannt ist?« fragt eine himmlisch aufgeregte Dame ihre Freundin. Diese hat es natürlich vernommen. Und ein Freund Brownings schreibt an einen anderen: »Miss Barrett ist, wie Sie wissen, unsere größte, zeitgenössische, englische Poetin. Jahrelang leidend, lebte sie abgeschieden zu Hause im Krankenzimmer zusammen mit einem dieser selbstsüchtigen, tyrannischen, puritanischen Halunken, wie sie geschmeidig durch die Welt laufen, dort den Calvinismus predigen und daheim den Despoten spielen. Unter der Knute dieses Mannes […] hat sie ihren Geist zu höchster Blüte kultiviert. Sie hat Sprachen gelernt, sie liest griechisch und hat die bisher beste metrische Übersetzung des Gefesselten Prometheus vorgelegt und dazu drei Bände mit Gedichten geschrieben, deren letzter ihren Rang gleich nach Tennyson und Browning bestätigt. […] Der alte Schurke von Vater schäumt natürlich und rauft sich den Bart«, schreibt der Freund, als sei er dabei gewesen, »aber glücklicherweise muß sein Zorn ziellos verpuffen, denn sie verfügt über ein eigenes Einkommen von 350 Pfund im Jahr, von dem die beiden recht behaglich leben können. […] Sie ist schon etwas ältlich – zu alt für Browning –, aber mit einem Wort: Sie lieben sich, und die Liebe macht uns alle wieder jung.«
Tatsächlich strahlte Elizabeth Barrett Browning auch in späteren Jahren noch etwas Mädchenhaftes aus, »klein und schwarz wie Sappho«, beschreibt sie sich, »fünf Fuß, ein Inch groß [1,55?m], keine nennenswerte Nase, ganz sicher kein Überfluß an Nase vorhanden, dafür ein Mund, der zu einer umfangreicheren Person paßte – und, oh, ein sehr, sehr schwaches Stimmchen, schwarze Haare, dunkler Teint, kleines Gesicht etcetera.« Auf ihrem bekanntesten Bild, das sie ein Jahr vor ihrem Tod zeigt, blickt sie groß und weh unter dunklen, geraden Brauen. Ihre Mundwinkel sehen ein wenig bitter aus, aber aus ihren Briefen wissen wir, daß sie sehr ironisch sein konnte. Zwei Matten ihres schwarzen, gelockten Haares fallen ihr vom Mittelscheitel auf die Schultern, eine Haartracht, die in ihrer Jugend Mode war und die sie nie änderte.
»Kleine Portugiesin« war einer von Brownings Kosenamen für sie, und vielleicht war am Stammbaum ihres Urgroßvaters Edward Barrett, eines Plantagenbarons, der über große Teile der jamaikanischen Nordküste und über zehntausend Sklaven geherrscht hatte, zwischen den legitimen hellen einmal ein dunkles Blatt gesprossen. Der Grund für das Heiratsverbot, das Elizabeths Vater seinen sämtlichen Nachkommen auferlegte, soll seine Furcht vor dem möglichen Auftauchen des afrikanischen Erbes in den Physiognomien seiner Enkel gewesen sein. Elizabeth selbst glaubte, sie habe »schwarzes Blut«, und deutet Browning gegenüber einmal die »sichtbaren äußeren Zeichen« an, das dunkle Haar und den Teint (»nach weiterem magst Du meine Schwestern fragen!«). Und an anderer Stelle: »Ich würde zehn Städte in Norfolk (so ich sie denn besäße) für eine reinere Herkunft hergeben als es das Blut der Sklaven ist! – Verdammt sind wir von Generation zu Generation!«2
Auch Robert Brownings Ahnen wurden von Biographen unter die Lupe...