Vorwort
Mitte der 1960er-Jahre endete – nach harmlosen Anfängen – eine Affäre um einen Hochschulprofessor tragisch. In mehreren Etappen hatten sich die Mitschriften einer Vorlesung als Zündstoff für eine Reihe von Ereignissen erwiesen, an deren unmittelbarem Ende das erste politische Todesopfer Österreichs nach 1945 stand. Kaum etwas liefert einen besseren Einblick in das Innenleben einer Gesellschaft als eine Affäre – ein Geschehen, das sich weitgehend der steuernden Planung und Vernunft entzieht. Affären rühren unmittelbar an unsere Gefühle, genauer: an die unverdauten und unverstandenen, und bringen sie so in reinster Form zutage. Doch Affären sind weder Antwort noch Lösung, vielmehr stehen sie immer am Beginn von Fragen. Im März 1965 hatten sich Symptome, deren Ursachen bis weit in die österreichische Vergangenheit reichten, so sehr angehäuft, dass sich ein sozialistischer Nationalratsabgeordneter mit Fragen nicht mehr zurückhalten wollte:
Meine Damen und Herren! Wo leben wir? In welcher Zeit leben wir? Ist das die demokratische Republik Österreich oder ein Teil des Dritten Reiches? Haben wir 20 Jahre des Wiederaufbaues und des Neubaues unseres Vaterlandes hinter uns, oder stehen wir im Jahre 1939 kurz vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges? Ist denn alles Grauen, aller Schrecken spurlos an solchen Bildnern der Jugend vorübergegangen? Hat nichts auf sie Eindruck gemacht, das sie geändert hätte?1
Als der Abgeordnete am 31. März 1965 im Parlament seine Empörung über die jüngsten neonazistischen Geschehnisse um einen Hochschulprofessor zur Kenntnis brachte, kam es zeitgleich – ohne dass die Parlamentarier davon wussten – zu den gewaltsamsten Straßenkämpfen der Zweiten Republik. Zwanzig Jahre trennten die Österreicher vom Ende des Dritten Reiches, und ein Jahrzehnt war seit der Unterzeichnung des Staatsvertrages und dem darauf folgenden Abzug der alliierten Besatzungsmächte vergangen, doch Österreich sollte immer wieder an seine Verstrickung in das Dritte Reich erinnert werden. Verdrängen und Verleugnen hatten nur eine aufschiebende Wirkung, und so kam es in jenen Märztagen nach längerem Anlauf zum Höhepunkt in einer Affäre, die zum ersten Mal in der Geschichte der jungen Republik die Symptome einer noch unbewältigten Vergangenheit deutlich machte. Der Skandal um Taras Borodajkewycz, Professor an der Wiener Hochschule für Welthandel, war zur Explosion gekommen, nachdem er sich in den frühen Sechzigern nach und nach entwickelt hatte. Es sollte schließlich knapp dreieinhalb Jahre dauern, bis durch einige Zufallsereignisse und gewolltes sowie ungewolltes menschliches Handeln aus einer Hochschulaffäre eine nationale Affäre geworden war.
Als die Affäre von der Hochschule auf Gerichtssäle, das Parlament und schließlich auf die Medien und die Straße übergesprungen war, hatte sie alle relevanten Ebenen der österreichischen Gesellschaft erfasst. Sie war der erste und ausdrucksstärkste Fall der Nachkriegsjahre, durch den sich die versäumte Entnazifizierung und die Spannungsverhältnisse zwischen den verschiedenen österreichischen Traditionen offenbarten. Die Kontinuität alter Identitäten – deutschnationaler, faschistischer, monarchistischer – war noch immer von Mythen bedeckt und geschützt. Es war nur eine Frage der Zeit, wann der künstliche und verlogene Bruch mit der Vergangenheit offenbar würde. Es dauerte in jeder Hinsicht lange, doch erst durch das in der Causa Borodajkewycz angestoßene politische und mediale Erwachen brachen psychische Barrieren. Die eingelernte Schweigekultur um die Ursachen des bisweilen freudigen Mitmachens im Dritten Reich erfuhr einen ersten schweren Schlag. Doch Symptome lassen sich in der Regel nicht dauerhaft heilen, sie kommen wieder, wenn die Ursachen, in diesem Fall die Geister der unbewältigten Vergangenheit, einen neuen Ausdruck gefunden haben.
Das »Personal« dieser Affäre operierte freilich nicht in Absprache miteinander. Ihr Zusammenspiel und mehr noch ihr gewaltsames Zusammentreffen am 31. März war somit in keiner Weise geplant. Nur der historische Blick von außen kann das Geschehen zu einem Gesamtbild fügen.
Mithilfe der Erinnerungen von Zeitzeugen mit einer gewissen Distanz zur Affäre und durch Befragung einiger der Hauptakteure möchte ich die Leserinnen und Leser durch die verschiedenen Schauplätze des Geschehens führen. Jeder Einzelne beleuchtet eine ganz spezielle Dimension des Konfliktes, der im Dezember 1961 in einem Vorlesungssaal an der Hochschule für Welthandel in Wien seinen Ausgang nahm. Hier konnten Professoren noch recht ungestört der studierenden Jugend und zukünftigen Wirtschaftselite des Landes ihr antidemokratisches und österreichfeindliches Gedankengut vermitteln. Bis es schließlich zur großen und gewalttätigen Demonstration mit Todesfolgen am 31. März 1965 kam, durchlief die Affäre mehrere Schauplätze: Gerichtssäle, Verlagshäuser, eine ungeplante Pressekonferenz, spontane Redaktionssitzungen sowie das Parlament. Nicht alle Schauplätze konnten in diesem Buch berücksichtigt werden; wir wissen wenig darüber, was die Affäre in österreichischen Haushalten ausgelöst hat.
Arbeiten, die sich bisher mit dem Fall Borodajkewycz befasst haben, ist das Verdienst zuzuschreiben, die Affäre nicht aus dem Gedächtnis Österreichs entlassen zu haben. Mein Anliegen ist es, die Geschichte nicht neu, aber doch mit neuem Material zu erzählen. Neben den Zeitdokumenten sind meine Quellen zur Affäre Interviews, also Rückblicke – die aus der Distanz mithin eine kühlere Beurteilung enthalten, als es zur Zeit der Affäre wohl möglich gewesen wäre. Das Gedächtnis ist kein unveränderlicher Block – kein für immer gefestigtes Gebilde. So kann es sein, dass manches aus der Distanz, oft auch schon aus kurzer, eine neue Färbung erhält, sich »Tatsachen« einschieben, die es so nicht gab. Aber selbst unter dem zeitlichen Einfluss eines aktuellen Geschehens ist auf die Wahrnehmung nicht immer Verlass. Gerade die Borodajkewycz-Affäre war von wütenden Reaktionen auf beiden Seiten begleitet, während sie heute kaum noch erregt. Was sie aber so interessant macht, ist ihr paradigmatischer Ablauf, der für das Verständnis auch anderer gesellschaftlicher Spaltungen dienen könnte. Wir leben in einer Zeit, in der demokratiepolitische Fragen nach Langem wieder zur Debatte gestellt werden – wenn auch von einer verschwindenden Minderheit. Und wir erleben gleichzeitig, wie ein größeres Kollektiv darauf keine wirklichen Antworten findet. Aus genau diesem Grund könnte es lohnen, sich mit einem relativ frühen Geschehen der Zweiten Republik zu befassen. Es könnte sein, dass nur die Akteure andere sind, die Dynamik aber die gleiche.
Was durch die Affäre verständlich wird, ist nicht allein die Erkenntnis, dass eine unbewältigte Vergangenheit zu – oft schlimmen – Symptomen führt, vielmehr auch, dass nicht nur »Gestrige«, sondern auch Progressive ihre Traditionen fortführen. Die politischen Haltungen kamen in den 60er-Jahren zwar aus unterschiedlichen Richtungen, aber in beiden Fällen aus noch völlig ungebrochen familiengeschichtlichen Traditionen. Zwei zentrale Folgeerscheinungen zeitigte diese duale »Versäulung«: den zementierten Proporz und ein gefesseltes Denken. Doch während »die Rechte« eine anhaltend revisionistisch geprägte Geschichtsfälschungskultur pflegte, die sie mit ihrer Schlussstrich-Mentalität gegenüber der NS-Zeit einigermaßen problemlos bis in die 1980er-Jahre retten konnte, konnte »die Linke« keine starke außerparlamentarische Gruppierung – die beispielsweise gegen die »braunen Flecken« in sämtlichen Parteien (allen voran in der SPÖ) auftrat – zustande bringen. Die Ersteren hatten ihre »Altherren«, die Letzteren ihre »Überväter«.
Meine eigenen Auffassungen und Interpretationen zu dieser beispiellosen österreichischen Affäre der 1960er-Jahre basieren ebenfalls auf den Zeitzeugeninterviews mit vielen der wichtigsten Akteure der Causa Borodajkewycz sowie auf Archivmaterial und Pressemeldungen jener Zeit. Ich habe versucht, das Geschehen durch eine möglichst realitätsnahe, chronologische Nacherzählung zu rekonstruieren. Dieser vielleicht etwas ungewöhnliche Zugang soll nicht zuletzt dem Versuch dienen, sich den Mentalitäten und Aktivitäten dieser ersten Nachkriegsgeneration mithilfe einer vorgegebenen, neutralen Systematik zu nähern.
Vor allem haben mir die Zeitzeugeninterviews deutlich gemacht, dass man der Versuchung, mit einer der beiden »Seiten« zu sympathisieren, nur schwer entkommt. Lotte Tobisch war in dieser Hinsicht sehr hilfreich. Als ich die Suggestivfrage stellte: »Viele der ehemaligen Nationalsozialisten wurden ja von der ÖVP eingebunden?!«, wies sie mich zurecht: »Und Sie wollen mir erzählen … nein wirklich! Jetzt werd’ ich wild! Sie wollen mir erzählen, dass die Roten das nicht gemacht haben? Nein, Sie sind wirklich zu jung dazu. Ich erinnere mich an das Buhlen um die Nazis, wie [1949] die ersten Wahlen waren. Und da waren die Roten in keiner Weise hinter den Schwarzen. Ich bin absolut kein ÖVP-Anhänger, bin allerdings auch kein Anhänger absoluter Roten. Es ist jetzt etwas, in meinem Alter kann ich das sagen … jetzt wird alles nur mit dem ›linken‹ Auge gesehen, und das rechte wird zugepickt!«2
An dieser Stelle möchte ich die Leser auffordern, Taras Borodajkewycz nicht vorschnell zu verurteilen: Er war ein Symptom. Man könnte auch meinen, dass Borodajkewycz eine Art Opfer seiner eigenen Standhaftigkeit und Überzeugung war: indem er sich einerseits gesinnungsgemäß nicht genügend an die neuen Realitäten Nachkriegsösterreichs anzupassen versuchte, andererseits die verlogenen Geschichtsverfälschungsversuche – die Mythen – der jungen Republik...