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In einem dunklen Walde

Wie Dante mir einen Weg aus meiner Trauer wies

AutorJoseph Luzzi
Verlagbtb
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783641162245
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
An einem kalten Morgen im November hetzt Joseph Luzzi, Dante-Forscher und Dozent am Bard College im Bundesstaat New York, ins Krankenhaus - seine Frau Katherine, die im achten Monat schwanger ist, hatte einen schweren Verkehrsunfall. Von der einen Sekunde auf die andere ist Luzzi Witwer und Vater zugleich.

Um vor seiner Trauer fliehen zu können, kümmert Luzzi sich - zusammen mit seiner Mutter - um seine kleine Tochter und stürzt sich vor allem in Arbeit. Er studiert und analysiert Dantes Göttliche Komödie intensiver als er es je zuvor getan hat. Durch das epische Gedicht des italienischen Philosophen, lernt Luzzi mit seiner Trauer umzugehen und einen Weg hinaus zu finden. Auf Dantes Spuren wird Luzzi nach und nach aus seinem 'dunklen Walde' geführt, von der Hölle über den Läuterungsberg bis hin ins Paradies der wiedergefundenen Liebe.

Joseph Luzzi ist Autor und Dozent am Bard College. Er schreibt unter anderem für New York Times, Los Angeles Times, Bookforum, London Times Literary Supplement. Als erstes Kind in seiner großen italienischen Familie, wurde er in Amerika geboren.

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Leseprobe

Prolog

Nel mezzo del cammin di nostra vita, mi ritrovai per una selva oscura.

In der Mitte unseres Lebenswegs kam ich zu mir in einem dunklen Walde.«

So beginnt eines der berühmtesten und schwierigsten Gedichte, die je geschrieben worden sind, Dantes Göttliche Komödie. Ein Epos in vierzehntausend Versen über die Seelenreise durch das Leben nach dem Tod. Die Spannung zwischen den Pronomen sagt schon alles: obwohl das »Ich« zu Dante gehört, der 1321 starb, ist seine Reise ein Teil »unseres Lebens«. Die Verse legen nahe, dass wir alle eines Tages in einem dunklen Walde zu uns kommen werden.

Für mich kam jener Tag vor acht Jahren, am 29. November 2007, ein Morgen wie jeder andere. Irgendwo im Staat New York verließ ich mein Zuhause um halb neun Uhr morgens und fuhr zum nahe gelegenen Bard College, wo ich Professor für Italienisch bin. Es war kalt und nass, die Luft trotz des diesigen Graus klar. Nach dem ersten Seminar ging ich in mein Büro, um Unterlagen zu holen, und machte mich auf den Weg zum nächsten Seminar, das um halb elf begann.

Ich scherzte noch mit meinen Studenten, während wir uns niederließen, als ich im Augenwinkel etwas Ungewöhnliches sah: An der Tür stand ein Sicherheitsbediensteter der Uni.

»Guckt mal, jetzt werde ich verhaftet«, sagte ich und lachte. Aber der bullige Wachmann lächelte nicht.

»Sind Sie Professor Luzzi?«

Ich habe nichts Schlimmes getan, war mein erster Gedanke.

»Ja – warum?«

»Bitte kommen Sie mit.«

Ich schob mich aus dem Seminarraum und sah, wie der stellvertretende Dekan und Vizepräsident der Universität die Treppe hochrannte. Auch ich begann zu laufen, die Treppe hinunter und aus dem Gebäude. Draußen wartete ein Van der Sicherheitsfirma auf mich.

Joe, deine Frau hatte einen schrecklichen Unfall.

Die Worte kamen von irgendwoher aus der Nähe, aber sie klangen gedämpft, als wären sie durch andere Dimensionen zu mir gekommen. Zeit und Raum krümmten sich um mich.

Ich betrat den dunklen Wald.

Früher an jenem Morgen, um Viertel nach neun, fuhr meine Frau Katherine Lynne Mester aus der Tankstelle und fädelte sich in den Verkehr ein, nur fünfzehn Kilometer von dem Ort entfernt, wo ich saß und eine Prüfung in Italienisch beaufsichtigte. So nahe, wie sie war, hörte ich dennoch den zermalmenden Aufprall des herannahenden Lastwagens auf das weiche Aluminium ihrer Fahrertür nicht, sah auch nicht, wie ihr Jeep schlingerte und sich drehte, während er über die Bundesstraße schlitterte und schließlich sieben Meter von dem Aufprall entfernt auf der anderen Straßenseite stehen blieb. In der klösterlichen Stille des Seminarraums hatte ich den größer werdenden Konvoi der Rettungsfahrzeuge nicht wahrgenommen, die die Route G9 hoch gerast waren, um meine Frau aus dem verbogenen und verkrümmten Metall zu befreien und sie so schnell wie möglich in das eine halbe Stunde entfernte Saint Francis Hospital von Poughkeepsie zu bringen.

Diese Rettungsfahrzeuge transportierten nicht nur meine Frau: Katherine war im achteinhalbten Monat schwanger mit unserem ersten Kind. Bald, nachdem der Wachmann vor meinem Seminar um halb elf erschienen war, nahm ein Ärzteteam an der bewusstlosen Katherine einen Notfall-Kaiserschnitt vor und brachte unsere Tochter Isabel zur Welt, die erschöpft und blass war, nicht willig, zu atmen und deren Herzschlag unhörbar war. Die Ärzte legten ihr einen Beatmungsbeutel mit Maske an – aber auch nach einer Minute in ihrem neuen Leben schlug Isabels Herz immer noch zu langsam, und sie musste intubiert werden. Allmählich beschleunigte sich ihr Herzschlag. Nach zehn Minuten machte sie ihre ersten eigenen, freiwilligen Atemzüge.

Fünfundvierzig Minuten nach Isabels Geburt starb Katherine.

Ich hatte die Wohnung um halb neun verlassen. Mittags war ich Vater und Witwer zugleich.

Eine Woche später kam ich zu mir. Ich stand in der regnerischen Kälte auf einem Friedhof außerhalb von Detroit und sah zu, wie die Leiche meiner Frau in die Erde hinabgelassen wurde, ganz in der Nähe ihres Geburtsortes. Die Worte für die Gefühle, die ich bis dahin gekannt hatte – Schmerz, Traurigkeit, Leid –, ergaben für mich keinen Sinn mehr, ein Gefühl kosmischer, lähmender Trauer überwältigte mich. Mein persönlicher Verlust schien beinahe nebensächlich: Eine junge Frau, die voll überschäumender Lebensenergie gewesen war, war jetzt nicht mehr. Ich konnte spüren, wie ein Teil von mir mit Katherines Sarg zusammen versenkt wurde. Es war die letzte Vereinigung, die ich je mit ihr haben würde, und ich habe mich noch nie so unerträglich an die Rhythmen des Universums gefesselt gefühlt. Aber ich befand mich auf verbotenem Terrain. Wie alle anderen Sterblichen musste ich auf den Planeten Erde des Leidens zurückkehren. Eine Stunde mit den Engeln ist ungefähr alles, was wir ertragen können.

Tage später ging ich in dem Dorf spazieren, wo Katherine und ich zusammen gelebt hatten, in Tivoli, New York. Zufällig begegnete ich unserer ehemaligen Nachbarin, die ebenfalls spazieren ging: Sie ist Kaplanin und hat bei dem Gedächtnisgottesdienst meines Colleges für Katherine die Zeremonie geleitet.

»Sie gehen gerade durch die Hölle«, sagte sie zu mir.

Ich dachte sofort an Dante, an den Autor, dem ich einen großen Teil meiner beruflichen Laufbahn gewidmet hatte, um sein Werk zu unterrichten und über ihn zu schreiben. Nach einer bezaubernden Jugend als führender Dichter und Politiker in Florenz, wo er 1265 geboren worden war, wurde Dante während einer diplomatischen Mission in die Verbannung geschickt. In jenen ersten Jahren wanderte Dante bei dem verzweifelten Versuch, in seine geliebte Stadt zurückzukehren, durch die Toskana. Er traf sich mit anderen Verbannten, plante Militäraktionen, machte gemeinsame Sache mit früheren Feinden – alles, um wieder nach Hause zu gelangen. Aber er sollte nie wieder einen Fuß in die Stadt Florenz setzen. Seine Worte über diese Erfahrung wurden wie ein Mantra für mich:

Du wirst alles zurücklassen, was dir am liebsten ist.

Dies ist der erste Pfeil,

den der Bogen des Exils abschießt.

Keine anderen Worte könnten ausdrücken, wie ich mich während der vier Jahre fühlte, in denen ich darum kämpfte, den Weg aus dem dunklen Wald des Leidens und der Trauer wieder herauszufinden. Und doch konnte Dante seine Göttliche Komödie nur wegen seines Exils schreiben, als er nämlich ein für alle Mal akzeptiert hatte, dass er nie wieder nach Florenz zurückkehren würde. Vor 1302, dem Jahr, in dem er verbannt wurde, war er ein guter Dichter und eindrucksvoller Gelehrter gewesen. Aber er musste immer noch seine eigene Stimme finden. Nur durch das Exil entwickelte er seinen gottgleichen Blick auf das menschliche Leben, losgelöst von allen irdischen Verpflichtungen, der es ihm ermöglichte, von der Seele zu sprechen.

Am Anfang der Göttlichen Komödie, als Dante sich in dem selva oscura – dem dunklen Walde – verirrt hat, sieht er in der Ferne einen Schatten. Es ist sein Lieblingsautor, der römische Dichter Vergil, der Autor der Aeneis und ein Heide, der im christlichen Jenseits verlassen umherirrt. Als er ihn begrüßt, erklärt Dante Vergil, dass es seine lungo studio e grande amore – sein langes Studium und die große Liebe – waren, die ihn zu dem antiken Dichter geführt haben. Vergil wird Dantes Lehrer was Ethik, Willenskraft und zyklische Natur menschlicher Sterblichkeit anbelangt – von seiner Metapher der Seelen, die wie Laubhaufen in der Hölle liegen, illustriert. Vergil ist sein Führer durch den dunklen Wald, und die Aeneis gab Dante die Mittel an die Hand, die er brauchte, um seinen Schmerz über den Verlust von Florenz zu lindern, dessen Pracht ihn verfolgte, während er in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens auf der Suche nach einem Zuhause durch Italien wanderte.

Das ist der schreckliche Preis der Schönheit, wie auch ich erfahren sollte: Sie nimmt einen umso mehr gefangen, wenn man sie erst einmal verloren hat.

Ich hatte Katherine vier Jahre zuvor bei einer Vernissage in Brooklyn kennengelernt, sie hob sich, groß wie sie war, mit ihrer eleganten Schönheit von den schlaffen Hipstern in T-Shirts und Flanellhemden ab. Sie trug ein eng anliegendes Kleid und stand vollkommen gerade und aufrecht da, während sie ihren Sekt trank und mit einer Freundin redete. Ich ging schnurstracks auf sie zu, kratzte all meinen Mut zusammen und stellte mich ihr vor. Sie war so lieb, meine ersten Worte nicht zu belächeln.

»Hübsche Schuhe«, sagte ich und deutete auf ihre hochhackigen Schuhe mit dem spektakulären Leopardenfell-Muster.

»Das sind sie wirklich, oder?«, antwortete sie mit einem Lächeln.

Und mit diesen wenigen Worten begann mein Leben einen neuen Verauf zu nehmen, einen mit einem kurzen, aber gewaltigen Glück, von der Art, die einen verändert. Das Partyvolk, das um uns herumschwirrte, schien zu verschwinden, während Katherine mir von ihrer Familie in einem Vorort von Detroit erzählte, vom Vater, den sie verehrte und der Bundesrichter und eine Stütze ihrer Gemeinde war. Sie lachte, als sie ihre Mutter beschrieb, eine Hausfrau, die auf einer Kirschfarm aufgewachsen war und nun ihrer Familie mit ihren ungefilterten Ausbrüchen über Themen wie Amerikas Sozialfürsorge bis zu Kindern, die Künstler werden wollten, zu schaffen machte. Ich erfuhr von Katherines vornehmer Privatschule, die sich die Familie kaum hatte leisten und auf der sie sich kaum hatte...

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