Kapitel 1
Verkündigung – Gottes Wort in Menschenmund
»Und der Herr streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an, und der Herr sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund« (Jeremia 1,9; ELB).
Es hat weitreichende Folgen, mit welcher Überzeugung wir verkündigen. Verbreiten wir nur menschliche Gedanken oder sagen wir Worte des lebendigen Gottes weiter? Die Antwort auf diese Frage wird sich auf unsere Verkündigung auswirken. Darum ist sie keine Frage für spitzfindige Theologen, sondern sie ist elementar für alle Verkündiger und Hörer.
Das ist eine steile These: Wenn ich die biblische Botschaft weitergebe, dann ist das Gotteswort in meinem Mund! Wie kann das sein? Wie haben wir das zu verstehen? Lassen wir das Buch der Bücher selbst Antwort geben!
1. Ein biblischer Anspruch
In einem hoch emotionalen und sehr sehnsuchtsvollen Brief wenden sich Paulus und sein Missionsteam an die Christen in der Stadt Thessaloniki. Sie vermissen die Geschwister dort schrecklich und verfolgen mit großer Aufmerksamkeit deren geistliche Entwicklung. Als sie auf die Anfänge zurückblicken, werden sie mit großer Dankbarkeit erfüllt:
»Wir danken Gott ohne Unterlass dafür, dass ihr das Wort der göttlichen Predigt, das ihr von uns empfangen habt, nicht als Menschenwort aufgenommen habt, sondern als das, was es in Wahrheit ist, als Gottes Wort, das in euch wirkt, die ihr glaubt« (1. Thessalonicher 2,13).
Was für ein theologisch tiefsinniger Dank! Paulus und seine Mitarbeiter gehen fest davon aus, dass ihr menschliches Reden von Jesus Christus in Wahrheit Gottes Reden, »göttliche Predigt«, ist. Dieses Geheimnis kann äußerlich nicht erkannt werden; es ist nicht nachweisbar oder gar beweisbar.3 Dass die Thessalonicher dennoch durch die menschliche Predigt von Gott selbst angesprochen werden, kann nur auf das Wirken des Heiligen Geistes zurückgehen. Er schenkt ihnen den Durchblick, sodass sie durch alles Menschliche hindurch das wahre, göttliche Wesen der Verkündigung erkennen und es als solches annehmen.
Wie Gott redet
Es bleibt ein Wunder, wenn Menschen in unserer menschlichen Rede Gott selbst zu sich reden hören – darum ist das Missionsteam um Paulus für dieses Wunder bei den Thessalonichern auch so dankbar. Wir dürfen nicht meinen,
dass Gott nicht
reden kann, wenn wir
den Mund aufmachen. Aber dass Gott durch Menschen seinen Willen und seine Wahrheit kundtut, dass der Allmächtige durch Ohnmächtige, der Allwissende durch Unwissende, der Ewige durch Sterbliche, der Heilige durch Unvollkommene spricht, ist das biblisch bezeugte Prinzip. So und nicht anders offenbart sich der Herr. So und nicht anders teilt er sich mit. Das sehen wir an Mose und den alttestamentlichen Propheten. Die Apostel des Neuen Testaments predigen durchgängig in der Gewissheit, das Evangelium Gottes weiterzusagen. Nirgendwo spricht Gott klarer, vollständiger und endgültiger durch einen Menschen als in Jesus Christus, denn in ihm offenbart sich Gott selbst uns Menschen als Mensch.
Wir dürfen also nicht meinen, dass Gott nicht reden kann, wenn wir den Mund aufmachen. Das Gegenteil ist der Fall. Gott teilt sich uns zuallererst und vor allem menschlich mit. Unsere Worte, unser Schreiben, unser Reden, unsere Verkündigung – kurz: Unsere Sprache ist das menschliche Medium, durch das er sich bis heute Menschen bekannt machen will. Das ist ein Zeichen seiner Gnade, denn ein anderes Medium, eine andere Sprache würden wir gar nicht verstehen.
Wenn wir also das biblische Prinzip nicht für überholt erklären wollen, dann kann es nur zu dem Anspruch führen: Auch unsere menschliche Verkündigung ist in Wahrheit Gottes Wort. Der Schweizer Reformator und unermüdliche Prediger Heinrich Bullinger gilt als Autor des folgenden evangelischen Spitzensatzes, mit dem er den Nagel auf den Kopf trifft: »Praedicatio verbi dei est verbum dei.« – »Die Predigt des Wortes Gottes ist Wort Gottes.« Doch formulieren wir es noch einmal biblisch: Als Jesus 72 seiner Jünger vor sich her aussendet, gibt er ihnen unter anderem die schier unglaubliche Zusage mit auf den Weg: »Wer euch hört, der hört mich« (Lukas 10,16). Jesu Botschaft wird durch Menschenmund verkündet.
Warum das Wort Gottes »drei in eins« ist
Wie können wir das verstehen? Wird damit nicht die Bibel abgewertet und die Verkündigung überbewertet? Sind damit nicht dem Kanzelmissbrauch Tür und Tor geöffnet, weil sich der Prediger für unfehlbar hält?
Hier kann uns ein kurzer Blick auf die Lehre vom Wort Gottes helfen, wie sie der Theologe Karl Barth in seiner großen »Kirchlichen Dogmatik« entwickelt hat.4 In Analogie zur Lehre von der Dreieinigkeit (Trinitätslehre), die von dem einen Gott in drei Personen spricht, entfaltet Barth den Gedanken der dreifachen Gestalt des einen Wortes Gottes. Dabei ist Jesus das offenbarte Wort Gottes, durch das Gott selbst unmittelbar und direkt spricht. Die Bibel stellt das geschriebene Wort Gottes dar, in dem sich Gott an Menschenwort bindet und es zu seinem Wort macht. Die dritte Gestalt besteht in dem verkündigten Wort Gottes; es ist ebenfalls »menschliche Rede von Gott, in der und durch die Gott selber von sich selber redet«5. Allerdings ist die Heilige Schrift der ein für alle Mal feststehende Kanon, der Maßstab, an dem sich alle Verkündigung messen und überprüfen lassen muss. Alle drei Gestalten des Wortes Gottes sind also zu unterscheiden, aber nicht auseinanderzureißen. Sie sind nicht identisch, aber eines Wesens. Sie hängen untrennbar zusammen. »Das Wort Gottes ist in allen seinen drei Gestalten Rede Gottes zum Menschen«6, durch die er an uns wirkt und handelt.
Die Unterschiedenheit des einen Wortes Gottes verdeutlicht Barth darum so7: Jesus Christus ist »das Wort Gottes in einer ersten, ursprünglichen Anrede, in der Gott selbst, Gott allein der Sprechende ist«. Dieses Wort wird »in einer zweiten Anrede das Wort einer ganz bestimmten Kategorie von Menschen«, nämlich der Propheten, Evangelisten und Apostel, überliefert in der Heiligen Schrift. In der Verkündigung des Wortes, der »dritten Anrede«, wird »die Zahl dieser seiner menschlichen Träger oder Verkündiger theoretisch unbegrenzt« und weitet sich also auch auf uns heute aus.
Wir sehen, wie die menschliche Verkündigung aufgewertet wird, ohne jedoch die Bibel als Wort Gottes abzuwerten. Drücken wir es einmal verkürzt so aus: Während Gott durch die Bibel einmal und grundsätzlich geredet hat, will er durch unsere Verkündigung immer wieder und aktuell sprechen. Während die Heilige Während Gott durch
die Bibel einmal und
grundsätzlich geredet
hat, will er durch unsere
Verkündigung immer
wieder und aktuell
sprechen. Schrift Gottes Wort ist und bleibt, wird eine Andacht oder Predigt zu Gottes Wort, wenn sie weitergegeben wird.
Die Frage nach einem möglichen Missbrauch können wir auf dem Hintergrund von Barths Lehre so beantworten: Wird die Predigt vom Prediger missbraucht, etwa um Menschen an sich zu binden, dann widerspricht sie dem verschriftlichten wie auch dem geoffenbarten Wort Gottes, denn Jesus setzt Menschen frei und lädt sie in Liebe ein. Insofern darf sich eine solche Rede eigentlich gar nicht »Predigt« nennen, weil sie es nicht ist. Hegt der Verkündiger unlautere Motive, missbraucht er die Gelegenheit, um sich hervorzutun und Anerkennung zu erheischen, spricht dabei aber die biblische Wahrheit aus, dann können wir in aller Gelassenheit mit Paulus sagen: »Was tut’s aber? Wenn nur Christus verkündigt wird auf jede Weise, es geschehe zum Vorwand oder in Wahrheit, so freue ich mich darüber« (Philipper 1,18).
Was »Verkündigung« ist
Bleibt zu klären, wann bzw. welche menschliche Rede als »Verkündigung« im christlichen Sinn gelten kann. An Äußerlichkeiten können wir das ja nicht festmachen. Predigt geschieht ja nicht einfach dort, wo jemand auf einer Kanzel oder hinter einem Rednerpult steht, wo am Ende einer Rede »Amen« gesagt wird oder wo Theologen ihren Mund aufmachen. Verkündigung geschieht auch vor einer Jungschargruppe oder im spontanen Gespräch am Straßenrand. Sie ist Kommunikation des Evangeliums, Weitergabe der Guten Nachricht von Jesus Christus. In der Form sind die Grenzen fließend. (Darauf gehe ich in Kapitel 7 näher ein.)
Überall da, wo wir also bewusst im Namen und Auftrag Gottes und auf der Grundlage der Heiligen Schrift zu anderen Menschen sprechen, dürfen und sollen wir den Anspruch und die Erwartung haben, dass da Verkündigung geschieht. Das verbindet alle Formen miteinander. Paulus begreift sich und uns in dieser Hinsicht sogar als Stellvertreter Christi: »So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!« (2. Korinther 5,20).
2. Ein demütiger Anspruch
Der englische Baptistenprediger Charles Haddon Spurgeon fragte einmal einen angehenden Kollegen: »Glauben Sie, dass das Gottes Wort ist, was Sie verkündigen?« Der junge Mann wollte sich nicht so wichtig nehmen, war auch tatsächlich unsicher, ob man so hoch greifen dürfe, und sagte: »Ich bin nicht sicher …« Darauf Spurgeon: »Wenn Sie nicht sicher sind, dass das Gottes Wort ist, was Sie weitergeben, so lassen Sie es mit dem Predigen.«8
Die deftige Reaktion Spurgeons stößt uns...