Innovation beginnt draußen
Der Arbeitstag war lang und intensiv. Wir haben einen Vortrag vor Unternehmerinnen und Unternehmern in Ingolstadt gehalten. Jetzt liegen reichlich vier Stunden Rückreise auf der Autobahn vor uns. Dabei fährt Olaf das Auto und ich will Texte für unseren Newsletter verfassen. Doch ich fühle mich ziemlich ausgelaugt. Mein Kopf ist leer, zumindest im Blick auf Impulse und kreative Gedanken, die es wert sind, publiziert zu werden.
»Übergänge sind kreative Freiräume, die stets Erneuerungen mit sich bringen«, erinnere ich mich an einen Gedanken aus dem Buch der Philosophin Natalie Knapp, das ich kürzlich gelesen habe. Ist diese Rückfahrt nicht genau solch ein Übergang, den wir bewusst gestalten können? Das leise Bedenken, dafür keine Zeit zu haben, wird weggewischt. Es liegt bei uns, ob wir uns die Zeit dafür nehmen wollen oder nicht. Also setzt Olaf den Blinker, nimmt die nächste Ausfahrt und steuert den erstbesten Wanderparkplatz an.
»Kindinger Klause« steht auf einem der Wegweiser und macht auf eine regionale Felsenhöhle aufmerksam. Wir schlüpfen in Turnschuhe, die zur Standardausrüstung in unserem Auto zählen, und machen uns auf den Weg über das Feld, den Berg hinauf, einem farbenprächtigem Mischwald entgegen. Nur 20 Minuten später klettern wir den Pfad zu einem imposanten Felsdach hinauf. Wir sind allein im Wald, von fern hört man noch die Geräusche der Autobahn.
Vielleicht zehn Meter breit und acht Meter tief ist dieser Felsüberhang. Einige Baumstämme um einen Feuerplatz in der Höhle laden ein, Platz zu nehmen. Wir haben unter dem Felsdach heraus einen weiten Blick in den Wald, der sich förmlich zu unseren Füßen ergießt. Keiner von uns spricht. Wir sitzen schweigend, lassen die Gedanken ziehen, zurück zu dem Vortrag, den unterschiedlichen Menschen, denen wir begegnet sind, und weiter zurück zu den Menschen, die hier jahrtausendelang Unterschlupf gesucht haben. Dies jedenfalls besagt eine Tafel an der Höhlenwand. Seit Urzeiten ist diese Höhle ein Rückzugsort für Menschen gewesen. Hier haben sie den Winter oder lange Regentage trocken überstanden, am Feuer gesessen, Gemeinschaft genossen, Freude und Leid geteilt, Rituale gepflegt und Werkzeuge hergestellt, mit denen sie dann wieder hinausgezogen sind. Der Lärm der Autobahn wird vom Rauschen des Windes in den Baumwipfeln verschluckt. Wir tauchen ein in eine Welt, wie sie vor Urzeiten war, fühlen uns den Urururahnen eigentümlich nahe.
Denn auch wir suchen Sicherheit, brauchen die Geborgenheit eines geschützten Ortes, sammeln uns, um Gemeinschaft und Erfahrungen zu teilen, und fühlen uns gleichzeitig hinausgezogen. Hinaus in ferne Welten, in neue Erfahrungsräume, in fremde Gebiete, die wir entdecken wollen. Aufbruch und Rückzug gehören untrennbar zusammen. Wer sich gestärkt hat (zum Beispiel in solch einer Höhle), der konnte irgendwann kraftvoll wieder losziehen. Die Höhle, die Weite der Natur, das intensive Spiel der Farben durch die reflektierende Sonne in den Bäumen, das Raunen des Windes – sie wirken an diesem Tag wie ein klärendes Bad für die gedanklichen Ablagerungen, die unser Denken zäh gemacht haben. Allmählich fällt die Anspannung ab, kehrt die Lust am Denken zurück. Wir tauchen in ein gutes Gespräch ein. Ein Wort gibt das andere. Diese Höhle erinnert uns an einen Ort im Elbsandsteingebirge, in der Sächsischen Schweiz. Als Jugendliche waren wir dort zum »Boofen«. So nennt man das wilde Übernachten im Freien unter ebensolchen Felsüberhängen. Es waren großartige Abenteuer, unmittelbar vor der Haustür, die uns in ganz besonderer Weise mit der Natur verbunden haben. Es fühlte sich so unmittelbar, so fremd und so vertraut zugleich an. Warum haben wir dies nie mehr wiederholt? Warum geben wir den Terminen, der Fremdbestimmung von außen den Vorrang vor solchen Ideen? Wäre es nicht originell, statt im Hotel demnächst mal wieder unter freiem Himmel oder in einer unserer alten »Boofen« zu übernachten? Wir spinnen ganz wunderbare Pläne und entdecken eine Fülle an Möglichkeiten. Es ist, als würde einem das sprichwörtliche innere Licht aufgehen und kreative Gedanken tauchen plötzlich auf, wie Mücken, die vom Licht angelockt werden.
Wir sind hier draußen »out of box«, weg von dem, was wir üblicherweise tun würden, nämlich zielgerichtet von einem zum nächsten Termin unterwegs zu sein. Und dieses unverhoffte, kurze Rausgehen in die Natur zeigt überraschende Wirkung. Nicht nur, dass ich mein Notizbuch zücke, um einige Gedanken für den Newsletter festzuhalten, nein, wir haben einen Ort gefunden, der uns zum Kraftort geworden ist und den wir mit Sicherheit aufsuchen werden, wenn wir wieder auf der A9 unterwegs sind. Nur beim nächsten Mal ganz gezielt.
Das Ding mit der Box
Hier haben Sie eine Pappschachtel mit Reißzwecken. Eine kleine Kerze und Streichhölzer. Ihre Aufgabe ist es, die Kerze so an der Wand zu befestigen, dass das Wachs nicht auf den Boden tropft.
So oder ähnlich wird der Psychologe Karl Duncker seine Studienteilnehmer vor bald 80 Jahren für ein Experiment vorbereitet haben, mit dem er deren kreative Problemlösefähigkeit testen wollte. Es war jedes Mal das Gleiche. Die Probanden testeten die wildesten Sachen. Sie weichten das Wachs an der Seite der Kerze auf und versuchten, sie an die Wand zu kleben. Oder sie wollten die Reißzwecken als Nägel nutzen und die Kerze damit irgendwie anpinnen, was natürlich misslang. Erst nach einigem Versuchen, Probieren und Nachdenken kamen manche auf die recht simple Lösung für das Problem.
Sie leerten die Schachtel mit Reißzwecken aus, pinnten die Schachtel so an die Wand, dass sie zur Standfläche wurde und befestigten mit wenigen Wachstropfen die Kerze darin. Fertig war der Wandkerzenhalter. Da zeigt sich mal wieder, dass man oft etwas hundert oder tausend Mal sieht, ehe man es zum allerersten Mal wirklich sieht! Was alles in einer kleinen Schachtel steckt! Sie ist viel mehr als eine Schachtel. Sie ist darüber hinaus ein Kerzenständer und sicher noch viel mehr!
Hätten Sie die Lösung gefunden? Ich hatte echte Mühe, Olaf dagegen war in reichlich einer Minute fertig. Er hatte kein Problem damit, die Funktion der Kiste zu ändern. Ähnlich kreativ sind auch Kinder bis zum fünften Lebensjahr. Danach beginnen die Kleinen, beeinflusst von ihrer Umwelt, Aufgaben weniger intuitiv, chaotisch und probierend, sondern mit mehr Denkleistung zu lösen.
Das wiederum führt nicht immer zu schnelleren Ergebnissen und schon gar nicht zu originelleren Ideen. Genau diese aber haben wir in unserer Wissensgesellschaft dringend nötig.
Kreativität ist eine unverzichtbare Grundlage für neue Ideen und deren erfolgreiche Umsetzung. Dabei ist es egal, ob es um Kreativität in Unternehmen, Wissenschaft oder Schulen geht.
Denn es gehen alle gemeinsam auf riesige Herausforderungen zu. Bisher waren es bloße Zahlen der Statistiker oder Eindrücke im Fernsehen, die uns das Bevölkerungswachstum weltweit in die Wohnzimmer trugen. In Deutschland haben wir davon kaum etwas bemerkt. Doch mittlerweile stehen die Flüchtlinge direkt vor unsere Haustür. Die Grenzen sind belagert von Menschen, die ihre Heimat verloren haben und nur noch raus wollen aus Krieg, Hunger, Hoffnungslosigkeit.
Das gigantische Wachstum der Weltbevölkerung, dazu noch Naturkatastrophen in Folge des Klimawandels und eine Fülle von technologischen Herausforderungen – die Menschheit hat allen Grund, nach kreativen Lösungen für das künftige Leben zu suchen. Der britische Bildungsexperte Ken Robinson schreibt: »Diese große neue Menschenmasse wird Technologien anwenden, die noch nicht erfunden sind – auf eine Art, die wir uns nicht vorstellen können, und in Berufen, die heute noch nicht existieren.«1 Keiner von uns kann genau vorhersagen, wie sich die Zukunft gestalten wird. Keine der vergangenen Epochen der Weltgeschichte hatte so globale und komplexe Veränderungen in einer so rasanten Geschwindigkeit zu bewältigen. Deshalb brauchen wir nicht nur persönlich, sondern auch für unsere Gesellschaft das innovative »out of box«-Denken. Die große Frage ist, wo holen wir uns die Innovation? Woher kommt sie?
Ideenpool Natur
Die größte Ressource für Innovationen liegt unmittelbar vor unserer Haustür. Sie ist gewissermaßen in und um uns zu finden. In ca. vier Milliarden Jahren musste sich die Natur immer wieder anpassen. Sie hat dabei komplexe Herausforderungen bewältigt. Denken Sie nur daran, wie vielfältig Lebewesen auf dieser Erde unterwegs sind. Sie kriechen, fliegen, schwimmen, haben den Schutz von Borke, Haut, Schalengehäusen, gewinnen Nährstoffe aus der Luft oder dem Boden, erneuern sich selbst, pflanzen sich fort, profitieren vom Verbund mit anderen. Innovation pur! Man muss kein Wissenschaftler sein, um darüber ins Staunen zu geraten. Doch gerade diese stellen oft während ihrer Forschungen fest, dass sie mit jeder Erkenntnis fragender werden und ehrfürchtig vor den komplexen Zusammenhängen der Natur stehen. Die Natur bietet unzählige Beispiele für technische Innovation oder für soziale Kooperation. Beispielsweise sprießt die asiatische Lotuspflanze nur deshalb blütenrein aus grünen Tümpeln, weil ein spezielles Wachs auf der Pflanzenoberfläche dazu führt, dass ein Wassertropfen lediglich 0,6 Prozent Auflagefläche auf ihren Blättern hat, folglich an ihr abperlt und dabei noch eine Besiedlung der Pflanze mit...