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Überlebenswichtig

Warum wir einen Kurswechsel zu echter Nachhaltigkeit brauchen

AutorLeonardo Boff
VerlagMatthias Grünewald Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl168 Seiten
ISBN9783786730668
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Die ökologische Frage ist die alles entscheidende Frage des 21. Jahrhunderts. Die Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen, Rückgang der Artenvielfalt, grenzenlose Ausbeutung von Ressourcen, immer weiter steigender Energieverbrauch, lebensfeindliche Wirtschafts- und Finanzsysteme führen die Erde an den Rand des Abgrunds. Leonardo Boff zeigt, dass sich die bisherigen Modelle - trotz des Etiketts »ökologisch' oder »nachhaltig' - innerhalb des alten Wachstumsparadigma bewegen und deshalb unzulänglich sind. In diesem Buch entwickelt er ein völlig neues zivilisatorisches Modell, ein neues Verhältnis der Menschen zur außermenschlichen Kreatur und zur Erde. Er begründet überzeugend, wie nur diese revolutionäre Sicht einer echten Nachhaltigkeit den drängenden Herausforderungen gerecht wird. Ein Weckruf, die derzeitige bedrohliche Situation als Chance für ein radikales Umdenken zu begreifen.

Leonardo Boff zählt zu den renommiertesten Befreiungstheologen. Nach langjährigen Auseinandersetzungen mit der Kirchenleitung wurde ihm das Priesteramt entzogen. Nach Konflikten innerhalb seiner franziskanischen Ordensgemeinschaft verließ er den Orden. Leonardo Boff war Professor für Systematische Theologie in Petrópolis und anschließend Professor für Ethik und Religion in Rio de Janeiro. Er ist einer der bedeutendsten Vertreter der lateinamerikanischen Befreiungstheologie. 2001 erhielt er den Alternativen Nobelpreis.

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Leseprobe

II. Der Ursprung des Begriffs „Nachhaltigkeit“

Die meisten Menschen meinen, der Begriff „Nachhaltigkeit“ sei erst in jüngerer Zeit, im Zusammenhang der von der UNO organisierten Versammlungen in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts entstanden, als das Bewusstsein von den Grenzen des Wachstums, die das herrschende, in fast allen Gesellschaften der Welt praktizierte Modell in eine Krise stürzten, stark zunahm. Doch der Begriff hat bereits eine Geschichte von mehr als vierhundert Jahren hinter sich, die nur wenige kennen. Diese Geschichte sollte kurz dargestellt werden. Doch vorher ist es wichtig zu klären, welchen Inhalt der Begriff eigentlich hat. Hierfür können wir einen kurzen Blick ins Wörterbuch werfen. Für Brasilien sind das der berühmte „Aurelio“ (Novo Dicionário Aurélio) und das klassische Dicionário de Verbos e Regimes von Francisco Fernandez aus dem Jahr 1942. (In Frankreich würde man in diesem Fall den „Robert“ zu Rate ziehen, und im deutschen Sprachraum ist der „Duden“ die wichtigste Referenz). Sowohl im Englischen als auch im Portugiesischen lässt das Wort seine lateinische Wuzel erkennen: „Sustainability“ bzw. „sustentabilidade“ kommt vom lateinischen Verb sustentare, das in seiner Grundbedeutung „erhalten, aufrechterhalten, stützen“ meint.

Die konsultierten Wörterbücher bieten uns folgende Definitionen des portugiesischen Verbums „sustentar“ an: Es bedeutet einerseits in einem defensiveren Sinn „von unten sichern, unterstützen, als Halt oder Stütze dienen, verhindern, dass etwas herunterfällt, verhindern, dass etwas kaputtgeht und fällt“. Davon ausgehend wäre Nachhaltigkeit auf die Ökologie angewandt all das, was wir tun, damit ein Ökosystem nicht verfällt und kaputtgeht. Um dies zu verhindern, können wir zum Beispiel Maßnahmen ergreifen wie etwa Bäume auf Berghängen pflanzen, die die Erosion und das Abrutschen von Erde und Gestein verhindern.

In einem aktiveren Sinne meint das Verb „sustentar“ bewahren, aufrechterhalten, schützen, ernähren, etwas gedeihen lassen, bestehen bleiben, leben, sich selbst immer auf gleicher Höhe halten und sich stets in gutem Zustand erhalten. Auf die Ökologie angewandt bedeutet dies: Nachhaltigkeit meint die Maßnahmen, die ergriffen werden, um einem Biom die Möglichkeit zu geben, sich selbst lebendig zu erhalten, Schutz zu gewähren und es zu ernähren, sodass es sich in gutem Zustand und immer auf dem Niveau seines Reichtums erhalten kann. Dieses umsichtige Handeln bewirkt, dass das Biom nicht nur die Bedingungen vorfindet, sich in dem Zustand zu erhalten, in dem es ist, sondern auch die Bedingungen, in denen es gedeihen, stärker werden und sich zusammen mit anderen Lebensformen entwickeln kann.

Diese Sinngehalte sind gemeint, wenn wir heute von Nachhaltigkeit des Universums, der Erde, der Ökosysteme und auch der Gemeinschaften und Gesellschaften als ganzer sprechen. Nachhaltigkeit zielt darauf ab, dass sie lebendig bleiben und sich in einem guten Zustand erhalten. Und dies setzt voraus, dass sie ihr inneres Gleichgewicht bewahren und sich selbst reproduzieren können. Dann haben sie für lange Zeit Bestand.

Die Vorgeschichte

Der Bereich, in dem der Begriff „Nachhaltigkeit“ entstand und geprägt wurde, ist die Forstwirtschaft. Bis zur Heraufkunft der Neuzeit war das Holz der wichtigste Rohstoff für den Bau von Häusern, von Einrichtungsgegenständen, für landwirtschaftliche Gerätschaften. Es diente darüber hinaus als Brennholz, um zu kochen und zu heizen. Es fand weitgehend Anwendung, um Metalle zu schmelzen und um Schiffe zu bauen, die im Zeitalter der „Entdeckungen“ (besser gesagt: der „Eroberungen“) des 16. Jahrhunderts alle Ozeane durchquerten. Der Gebrauch des Holzes war so intensiv, dass – insbesondere in Spanien und Portugal, den wichtigsten Seemächten dieser Zeit – die Wälder knapp zu werden begannen.

Doch es war in Deutschland, genauer gesagt in Sachsen, wo zum ersten Mal im Jahr 1560 die Sorge um eine vernünftige Nutzung der Wälder zum Durchbruch kam. Eine rationale Bewirtschaftung bedeutete, dass sich die Wälder erholen können und dass ihr dauerhafter Bestand gesichert ist. In diesem Zusammenhang tauchte das deutsche Wort „Nachhaltigkeit“ auf, das in anderen Sprachen dann ausgehend vom lateinischen Verb „sustentare“ mit „sustainability“ (englisch) oder „sustentabilidade“ (portugiesisch) übersetzt wurde.

Doch erst im Jahr 1713 machte der „Oberberghauptmann“ Hans Karl von Carlowitz – wiederum in Sachsen – Nachhaltigkeit zu einem strategischen Begriff. Es waren Hochöfen gebaut worden, die viel Holzkohle, und damit natürlich Holz, verbrauchten. Ganze Wälder waren abgeholzt worden, um an dieser neuen Front des Fortschritts erfolgreich zu sein. Damals schrieb Carlowitz einen wissenschaftlichen Traktat in der Wissenschaftssprache seiner Zeit, das heißt auf Lateinisch, über das nachhaltige Wirtschaften unter dem Titel Silvacultura Oeconomica. Er trat darin entschieden für die nachhaltige Nutzung von Holz ein. Sein Motto lautete: „Man muss mit dem Holz pfleglich umgehen“, andernfalls würde der Handel zusammenbrechen und man würde keinen Profit mehr daraus schlagen. Und er formulierte den Grundsatz: Schlagt stets nur so viel Holz, wie der Wald aushalten kann, sodass sein weiteres Wachstum möglich ist. Ausgehend von dieser Einsicht begannen die lokalen Machthaber, die Wiederaufforstung der Wälder in den entwaldeten Regionen zu fördern. Die damaligen Überlegungen haben bis heute Gültigkeit, denn der gegenwärtige ökologische Diskurs bedient sich praktisch derselben Begriffe.

Einige Jahre später, nämlich im Jahr 1795, schrieb Carl Georg Ludwig Hartig ein Buch mit dem Titel Anweisung zur Taxation und Beschreibung der Forste. Darin heißt es:

„Es lässt sich keine dauerhafte Forstwirtschaft denken und erwarten, wenn die Holzabgabe aus den Wäldern nicht auf Nachhaltigkeit berechnet ist. Jede weise Forstdirektion muss daher die Waldungen des Staates ohne Zeitverlust taxieren lassen und sie zwar so hoch als möglich, doch so zu benutzen suchen, dass die Nachkommenschaft wenigstens ebenso viel Vorteil daraus ziehen kann, als sich die jetzt lebende Generation zueignet.“ (zit. nach Grober 2002, 173)

Die Sorge um die Nachhaltigkeit der Wälder war so stark, dass man eine neue Wissenschaft etablierte: die Forstwissenschaft. In Sachsen und Preußen wurden Akademien für Forstwissenschaft gegründet, die Studenten aus ganz Europa, u. a. aus Skandinavien, aus den USA und sogar aus Indien anzogen. Der Begriff „Nachhaltigkeit“ blieb innerhalb der mit der Forstwissenschaft verbundenen Kreise lebendig und machte von sich reden, als im Jahr 1968 der Club of Rome gegründet wurde, dessen erster Bericht sich mit den Grenzen des Wachstums (Meadows 1973) befasste. Dieses Buch löste hitzige Diskussionen unter den Wissenschaftlern, in den Medien und in der Gesellschaft insgesamt aus.

Die jüngste Entwicklung

Der ökologische Warnruf aufgrund dieses Berichtes an den Club of Rome führte dazu, dass sich die UNO dieses Themas annahm. Sie führte im Jahr 1972 in Stockholm die Erste Weltkonferenz zu Mensch und Umwelt durch. Die Ergebnisse waren nicht sehr bedeutend, doch das beste Resultat war die Entscheidung, ein Umweltprogramm der Vereinten Nationen zu schaffen (UNEP).

Eine andere sehr wichtige Konferenz fand im Jahr 1984 statt. Aus ihr ging die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung hervor, deren Ziel eine „Globale Agenda der Veränderung“ war. Die Arbeiten dieser Kommission, die sich aus einigen Dutzend Wissenschaftlern zusammensetzte, fanden ihren Abschluss im Jahr 1987 mit dem sogenannten „Brundtland-Bericht“ der norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland. Er trug den einprägsamen Titel Unsere gemeinsame Zukunft.

Hier tauchte zum ersten Mal ausdrücklich der Begriff „nachhaltige Entwicklung“ auf. Sie ist – so lautet die Definition in ihrer Kurzfassung – jene Entwicklung, die den Bedürfnissen der gegenwärtigen Generation dient, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Dies wurde die klassische Definition, und sie findet sich in nahezu der gesamten Literatur zu diesem Thema. Als Reaktion auf diesen Bericht beschloss die UNO-Vollversammlung, die Diskussion fortzusetzen, und berief die UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung ein, die vom 3. bis 14. Juli 1992 in Rio de Janeiro stattfand und auch unter dem Namen „Erdgipfel“ bekannt wurde. Es gingen daraus verschiedene Dokumente hervor. Die wichtigsten beiden waren die Agenda 21: Globales Aktionsprogramm, und die Deklaration von Rio über Umwelt und Entwicklung. Der Begriff „nachhaltige Entwicklung“ erhielt damit volle Akzeptanz, bildete den zentralen Fokus aller Diskussionen und taucht in den wichtigsten Dokumenten fast immer auf.

In der Deklaration von Rio wird deutlich gesagt: „Die Staaten werden in einem Geist der weltweiten Partnerschaft zusammenarbeiten, um die Gesundheit und die Unversehrtheit des Ökosystems der Erde zu erhalten, zu schützen und wiederherzustellen. Angesichts der unterschiedlichen Beiträge zur globalen Umweltverschlechterung tragen die Staaten gemeinsame, wenngleich unterschiedliche Verantwortlichkeiten.“ (Grundsatz 7)

Diese Erklärung erlangte Durchschlagskraft und bewirkte, dass sich alle Länder verpflichteten, ihre Entwicklung so zu gestalten, dass die Nachhaltigkeit tatsächlich gewährleistet sei. Doch das tatsächliche...

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