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Einfach üben

185 unübliche Überezepte für Instrumentalisten

AutorGerhard Mantel
VerlagSchott Music
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl186 Seiten
ISBN9783795786038
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Der Erfolg eines Instrumentalisten hängt von der Qualität seines Übens ab und nicht zuletzt vom konkreten Wissen, wie man effizient übt. Die vorliegende 'Rezepte'-Sammlung soll dazu beitragen, das Lernen zu optimieren und zu beschleunigen. Beschrieben werden für den einzelnen Problemfall geeignete, oft neue, aber in der Übe-, Konzert- und Unterrichtspraxis erprobte Techniken. Es geht darum, Übeverhalten - sofern überhaupt möglich - in kompakte Begriffe zu fassen, die so klar sind, dass sie wirklich jederzeit verfügbar sind. Die Summe all dieser Rezepte ist ein Arbeitskonzept, das den künstlerischen Menschen als Ganzheit begreift, auch wenn sich die Aufmerksamkeit nur jeweils einem Detail zuwenden kann. Vermittelt werden Tipps zur Erarbeitung einer Klangvorstellung - der ersten Säule des Übens. Denn ohne Klangvorstellung ist Üben zwecklos. Darüber hinaus wird die Frage beantwortet: Was kann ich tun, um das vorgestellte Klangbild und die Realität in Deckung zu bringen? - Ziel ist es, Musik zu verstehen, sich anzueignen, auszudrücken, darzustellen, zu erleben und erlebbar zu machen.

Gerhard Mantel wurde 1930 in Karlsruhe geboren. Seine musikalische Ausbildung als Cellist erhielt er bei Professor August Eichhorn in Heidelberg. Später setzte er seine Studien in Paris bei Pierre Fournier, Paul Tortelier und André Navarra sowie bei Pablo Casals und Maurice Gendron fort. Bereits mit 21 Jahren wurde Gerhard Mantel Solocellist in Bergen (Norwegen), zwei Jahre später wurde er Solocellist beim WDR Symphonieorchester in Köln. Neben unzähligen Konzerten in aller Welt wirkte bei er bei mehr als 100 Hörfunk- und Fernsehproduktionen sowie zahlreichen Schallplattenaufnahmen mit. Professor Gerhard Mantel unterrichtet an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main und erteilt Meisterkurse im In- und Ausland. Zudem ist er Ehrenpräsident der Deutschen Sektion der ESTA (European String Teachers' Association). Darüber hinaus gründete und leitet er das 'Forschungsinstitut für Instrumental- und Gesangspädagogik e.V.'.

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Leseprobe

II.  Wissen – Können – Übebiografie

1.  Wissen

1.1  Beschreibung von Fakten

Alles, was man bei einem Werk (z. B. in Hinblick auf Figuren, Sequenzen, Struktur, Gliederung, Querverbindungen), ja selbst bei einer Bewegung (Beschreibung der tatsächlichen Gliedmaßenbewegung, z. B. Einbeziehung der Schulter, des Handgelenks, einer Unterarmrollung) als Faktum lernen kann, beschleunigt den Lernprozess.

Der hierfür erforderliche geistige Aufwand erscheint zunächst als Umweg, ist in Wirklichkeit jedoch eine gewaltige Abkürzung. Leider wird Analyse, die doch eigentlich nur Beschreibung bedeutet, unter Verkennung des vernetzten Lernens häufig als störende Unterbrechung des »richtigen« (rein motorischen) Übens interpretiert, nach dem Motto: »Ich habe keine Zeit, mich zu informieren, ich muss üben.«

Rezept 10

Wissen fördert Können. Der »mühsame« Beschreibungsaufwand (Analyse) verkürzt die Lernzeit entscheidend.

1.2  Physiologisches Wissen

Der menschliche Körper funktioniert, wenn man ihn rein physiologisch betrachtet, nach einem kybernetischen, nicht nach einem mechanischen Prinzip. Ein mechanisches Funktionsprinzip würde etwa so aussehen:

 

  Je kleiner die Bewegung, desto genauer ist sie.

  Nur die ausführenden Organe bewegen sich; alle anderen bleiben unbewegt.

  Je weniger Gelenke an einer Bewegung beteiligt sind, desto präziser ist sie.

  Je kleiner die Bewegungstoleranzen, desto höher die Präzision.

Nach einem solchen Prinzip würde man einen Roboter erfolgreich konstruieren. Das kybernetische Prinzip, nach dem alle Lebewesen »konstruiert« sind, arbeitet jedoch in fast allen Punkten umgekehrt:

 

  Jeder Muskel sendet Informationen über seine Aktionen ans Gehirn. Dies bedeutet für das Gehirn eine gigantische Informationsflut.

  Ein Informationssystem bereitet alle Muskeln so vor, dass sie »im Ernstfall« (wenn der Befehl »go« kommt) eine gezielte, im Gehirn programmierte Bewegung ausführen.

  Jede ausgeführte Bewegung wird wieder ans Gehirn zurückgemeldet. Das Gehirn vergleicht den »Soll-Wert« (den ursprünglichen Einstellungsgrad, den man als Bewegungsbild erlebt) mit dem »Ist-Wert« und sendet sofort die entsprechenden Korrekturimpulse aus.

  Je mehr Gelenke an diesem Regelkreis beteiligt sind, desto vielfältiger sind die Informationen über die Bewegung, die ans Gehirn gesendet werden, und desto feiner ist das Raster der Bewegungsausführung – oder anders ausgedrückt: desto deutlicher ist die Bewegungsempfindung und damit die Präzision der Zielbewegung.

Rezept 11

Durch Bewegung wird die Empfindung verfeinert, und zwar nicht nur die des bewegten Gelenks allein. (Moshe Feldenkrais: »Bewusstheit durch Bewegung«!)

  Die Spannung der einzelnen Muskeln hat jeweils einen optimalen Tonusbereich, in welchem diese am präzisesten, mit der geringsten Anstrengung und der größten Ausdauer arbeiten können. Die Präzision wird sowohl durch zu viel als auch durch zu wenig Spannung herabgesetzt.

  Die Schaltung im Gehirn ist nicht nach einzelnen Muskeln, sondern nach Muskelgruppen und deren Zielbewegung eingerichtet. Ein einzelner Muskel ist nicht empfindbar. Das Gehirn arbeitet also mit »Funktionsschaltern«, nicht mit »Muskelschaltern«.

  Die Muskeln haben eine fast »unmögliche« Materialeigenschaft: Sie können sich verkürzen, ohne die Spannung zu verändern. Jedes nicht organische Material, etwa ein Gummiband, würde bei Verkürzung Spannung verlieren, bei Verlängerung (Dehnung) Spannung erhöhen.

  Muskeln sind sowohl für Haltungen als auch für Bewegungen ausgerüstet und zuständig.

Dieses kybernetische Prinzip hat für Instrumentalisten einige wichtige Konsequenzen:

 

Eine Haltung kann nur mit Muskelkraft stabil gehalten werden. Haltung ist sozusagen ein »Sonderfall« von Bewegung.

Die gewünschte Ökonomie des Spiels ist nicht identisch mit möglichst geringer Bewegung (Haltekräfte werden zunehmend nötig!). Bewegungslosigkeit ist nur bei toter Materie ökonomisch. Umgekehrt erfordern zu große Bewegungen anstrengende reaktive Fixierungen.

Rezept 12

Es ist wichtig, nach Bewegungen zu suchen, die durch den ganzen Körper fließen und auf diese Weise möglichst viele Gelenke in feine Bewegung versetzen.

Außerdem sind alle »Systeme« miteinander vernetzt, sodass beim Spielen eine Aktion in einem System (z. B. Muskelarbeit im »physikalischen System«) Auswirkungen auf andere Systeme hat (z. B. Sinnessysteme der Bewegungswahrnehmung, des Gehörs etc.).

Berücksichtigt man, dass auch alle Emotionen mit einer Änderung von Muskelspannungen einhergehen, wird der Sinn und die Notwendigkeit von Sensibilisierungsbewegungen (und Ausdrucksbewegungen!) bei einem integrierten künstlerischen Handeln verständlich. Solche Bewegungen können spontan oder gelernt sein (siehe Kap. XI. und XII).

Angestoßen wird das ganze Wahrnehmungs-Handlungs-System von der Frage: Was will ich? (s. S. 18). Diese Frage fließt bewusst oder unbewusst in alle Wahrnehmungen und Handlungen mit ein und färbt und modifiziert sie individuell.

Wer sich über neurophysiologische Vorgänge informiert, schafft sich neue Ebenen des Verständnisses von künstlerischen Bewegungsvorgängen und erweitert damit die Phantasie beim Aufspüren neuer Übemethoden. Er kann dadurch Zusammenhänge verstehen und entdecken, die im »mechanistischen Weltbild« nicht sinnvoll wären.

Rezept 13

Physiologisches (theoretisches) Wissen erweitert den (praktischen) Übehorizont.

1.3  Psychologisches Wissen

Wer bewusst und intensiv etwas lernen will, sollte sich darüber informieren, nach welchen Regeln der Mensch ganz allgemein lernt. Ein immer noch aktueller Klassiker ist das Buch von Frederic Vester Denken, Lernen, Vergessen (München 1996), das jeder Instrumentalist gelesen haben sollte.

Es geht hier nicht nur darum, mit Hilfe eines solchen Buches schwere Stellen besser spielen zu können, sondern um den Umgang des Übenden mit sich selbst. Einer der häufigsten Fehler beim Üben ist die falsche Einschätzung des nötigen Zeitaufwandes für eine bestimmte, definierte Lernarbeit. Wenn ich nur ungeduldig und infolgedessen enttäuscht bin, mein Ziel an diesem Tag immer noch nicht erreicht zu haben, arbeite ich unter denkbar schlechten Voraussetzungen. Diese Haltung kann sich zu sinnlosen Trotz- und Wutausbrüchen steigern, nur weil ich meine eigenen Lernregeln nicht kenne.

Wenn ich dagegen weiß, dass ich für eine bestimmte Aufgabe einen ungefähr zu bestimmenden Zeitraum benötige, kann ich mich frohgemut an den Anfang eines Weges machen, da ich sicher bin, dass er mich zum Ziel führen wird. Ein solch heiterer Weg ist selbst schon ein Lustgewinn; meine Laune beim Üben steigt – eine wichtige Voraussetzung für dessen Erfolg (s. Kap. XVIII).

Eine weitere wichtige psychologische Erkenntnis bei Lernvorgängen: Lernen vollzieht sich in Kurven. Am Anfang eines Lernprozesses lernt man am meisten; im Laufe der weiteren Arbeit nimmt der Lerngewinn ab, bis zu einem Punkt, an dem überhaupt nichts mehr gelernt wird, ja sogar die Qualität wieder abnehmen kann. – Das Wissen um diese Lerngesetze verhindert falsche Lernstrategien. Statt unzählige sinnlose Wiederholungen zu spielen, sollte man nach einer begrenzten Anzahl von Übedurchgängen das Material variieren (entweder durch Veränderung des Übetexts oder durch Verschiebung der Aufmerksamkeit). Dadurch erreiche ich, dass ich möglichst oft am Anfang eines neuen Teillernprozesses stehe. Es erfordert eine gesunde Selbsteinschätzung, um z. B. den Stoff, in den ich mich »verbissen« habe, einfach wegzulegen und etwas anderes zu tun.

Ein Hindernis zu einer solchen Selbsteinschätzung liegt im Lernvorgang selbst: Genau genommen merke ich nicht, wie ich eigentlich lerne. Das Lernen selbst geschieht in einer »black box« und entzieht sich jeglicher direkten Wahrnehmung; man kann es nicht spüren. Ich erlebe immer nur das Resultat des Lernens, ohne den Vorgang selbst jemals direkt verfolgen zu können. Dies erfordert Geduld und Vertrauen in die...

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