II. Fallbeispiele
1. Das Grab einer ‹rich lady› in Athen (9. Jh. v. Chr.)
Seit 1931 erforscht die American School of Classical Studies in Athen das Zentrum der antiken Stadt: die Agora, den wichtigsten politischen Platz der Polis. Doch ist die Talsenke am Flüsschen Eridanos nördlich des Areopag-Hügels und nordwestlich der Akropolis nicht immer politisches Zentrum und freier Platz gewesen. Brunnen weisen vielmehr auf kleine dörflich Ansiedlungen in der geometrischen Epoche (1000–700 v. Chr.) hin; in ihrem Umfeld fand man Gräber. Zu diesen zählt auch der Befund ‹H 16:6›, der im Juni 1967 entdeckt wurde.
Archäologischer Befund: Grab und Grabinventar
Es handelt sich um eine Grube mit unterschiedlichen Ton-, Stein- und Metallobjekten (Abb. 1–2). Umliegende Brandspuren (Brandareal) und die Überreste verbrannter Menschenknochen erlauben es, den Befund als Brandgrab zu identifizieren. Zu den Funden zählt das größte Tongefäß, das den Leichenbrand aufgenommen hatte und also als Urne diente (Abb. 1–2 Nr. 1). Die übrigen Funde aus der Grube bilden das sogenannte Grabinventar (bisweilen missverständlich auch als ‹Beigaben› bezeichnet, Abb. 3–4). Funde und Befund stellen zusammengenommen das Ergebnis einer Bestattung (Grablegung) dar. Aus ihnen lässt sich mithin der Vorgang dieser Bestattung rekonstruieren, um dann zu ermitteln, welchen Sinn man ihm und den Objekten beimaß, die ans und ins Grab gegeben wurden.
Abb. 1–2: Athen, Agora: geometrisches Grab einer Frau. Aufsicht und Nord-Süd-Schnitt
Der Befund im Boden (Abb. 1) zeigt uns zunächst, dass eine jüngere Zisterne, die zwischen dem 3. und 1. Jahrhundert v. Chr. in den Boden gegraben wurde, Teile des Grabes von oben gestört hat. Damals war seine Lage nicht mehr bekannt. In Aufsicht (Abb. 1) und Schnitt (Abb. 2) ist eine ca. 30 cm mächtige Schicht aus verkohltem Material auf einer Fläche von etwa 1 m × 1,50 m zu sehen (Brandareal). Darin haben sich verbrannte Reste zerbrochener, einfacher Tongefäße und Tierknochen gefunden (Abb. 1 Nr. 9), die die Bearbeiter auf ca. 70 kg Fleisch haben schließen lassen. Die ovale Grube mit Urne und Grabinventar durchschneidet diese Schicht und wurde in den Felsboden eingetieft. Folglich kann sie erst angelegt worden sein, als das Brandmaterial bereits an dieser Stelle lag. Die Grube ist asymmetrisch geformt. Im tieferen, runden Teil stand die Urne (Abb. 1/2, Nr. 1; Abb. 3). Sie war von einem Henkelbecher (Abb. 1/2, Nr. 2; Abb. 3) abgedeckt und frei von Brandspuren. Um ihren Hals hatte man eine bronzene Gewandnadel (Abb. 1/2, Nr. 3) gelegt. Unverbrannt waren auch alle weiteren Objekte in der Grabgrube. Sie lagen am Hals der Urne und reichten noch in den flacheren Teil der Grube hinüber, der sich nach Süden erstreckt. Das Grab war von einer Ziegelplatte bedeckt. In der Urne fanden sich kalzinierte, also durch Brand angegriffene Knochen einer Frau von 30 bis 35 Jahren zusammen mit den Knochenresten eines ungeborenen Kindes – so der aktuelle anthropologische Befund – und wenige Tierknochen. Dort lag unverbrannt auch der Schmuck der Frau.
Bestattungspraxis: ein Ereignis
Auf der Grundlage dieser Beobachtungen lässt sich der Bestattungsvorgang rekonstruieren. Dies erlaubt Rückschlüsse auf die zeitgenössische Grablegungspraxis: Verstorben war eine Frau in der Endphase ihrer Schwangerschaft. Ihr Leichnam wurde zum Ort der Grablegung getragen (Ekphora). Die späteren Beigaben und die Urne (Abb. 1/2, Nr. 1; Abb. 3) hatte man mitgebracht; sie lagen bei der folgenden Verbrennung (Kremation) abseits vom Scheiterhaufen – ebenso wie der wertvolle Schmuck der Frau. Zusammen mit dem sicherlich aufgebahrten, im Übrigen nicht geschmückten Leichnam verbrannte man sodann einfache Tongefäße, die man zuvor zerschlagen hatte, sowie Fleisch- und Knochenreste (Abb. 1/2, Nr. 9). Ob man vorher bereits von dem Fleisch gegessen hatte, lässt sich nicht entscheiden, doch spricht die Menge für ein vorausgegangenes ‹Totenmahl›. Aus dem verbrannten Material am Boden las man danach die Überreste menschlicher Knochen auf (einzelne Tierknochenreste gerieten dabei irrtümlich hinzu) und legte sie zusammen mit dem wertvollen Schmuck der Frau in die Urne. Deren Hals schmückte man mit der bereits erwähnten, gebogenen Gewandnadel der Verstorbenen (Abb. 1/2, Nr. 3). In die Brandreste am Boden grub man eine ovale Grube. Ihre Tiefe entsprach der Höhe der Urne, die man an der Grubensohle stehend deponierte und mit einem Henkelbecker (Abb. 1/2, Nr. 2; Abb. 3) abdeckte. Dann stellte man von oben weitere Tongefäße (Abb. 1/2, Nr. 4–8; Abb. 3) an die Urne und bedeckte das Grab mit einer Ziegelplatte. Ähnliche Vorgänge lassen sich an anderen Brandgräbern der Zeit in Athen beobachten; es handelt sich um ein typisches Grabritual. Wir wissen nichts über die oberirdische Markierung des Grabes; andere Gräber der Zeit besaßen Grabsteine ohne Dekoration oder Tongefäße als oberirdische Grabzeichen.
Haben wir so das Bestattungsritual als Ereignis weitgehend aus dem Befund rekonstruiert, so erlaubt der aus Funden und Befunden ermittelte Sachstand weitere Interpretationen. Auffällig ist, dass die verbrannten Gefäße und Speisereste auf ein wohl im Beisein des Leichnams vollzogenes Mahl vor der Kremation hinweisen. An ihm müssen aufgrund der zu rekonstruierenden Fleischmenge viele teilgenommen haben. Es zeigt sich zudem, dass sowohl der Metall- und Steinschmuck der Frau (Kette, zwei Goldohrringe, drei bronzene Gewandnadeln, zwei Bronzefibeln usw.; Abb. 4) als auch das keramische Grabinventar (Urne und mehr als zehn Tongefäße; Abb. 3) nicht mit verbrannt worden ist. Das bedeutet, dass Schmuck und Keramikinventar bei Kremation und Mahl bereits am Ort und – darauf lässt allein schon die Menge schließen – vermutlich sichtbar aufgestellt waren: Wer Verbrennung, Mahl und anschließender Grablegung beiwohnte, konnte diese Objekte sehen. Sie waren nicht nur ‹Beigaben› der Verstorbenen, sie zu zeigen war vielmehr Bestandteil des Rituals. Und sie zeigen uns und den damaligen Teilnehmern zudem, was die Hinterbliebenen der Verstorbenen zuordnen wollten.
Datierung
Die ‹Beigaben› des Grabes geben uns Hinweise auf das Alter der Bestattung. Die Graburne und die übrigen Tongefäße aus der Grabgrube erweisen sich aufgrund ihrer Dekoration eher als teure Objekte und gehören sicher nicht zum Alltagsgeschirr. Zudem wurden sie mehrheitlich in einer einzigen Werkstatt hergestellt, wie Details ihrer Bemalung erkennen lassen. Dass sie eigens für die Bestattung angefertigt wurden, ist mithin wahrscheinlich. Der Stil der Bemalung vor allem der großen Urne (Abb. 3) gibt damit auch einen Datierungsanhalt für die Grablegung: Die Amphora besitzt noch große, von Tonschlicker überzogene und deshalb beim Brand im Töpferofen schwarz verfärbte Flächen. Nur wenige Ornamentbänder umziehen Hals und Bauch. Am Bauch dominieren metopenartige Felder mit Kreisdekor zwischen senkrecht stehenden Hakenmäandern. Die Ornamentmotive und ihre Verteilung auf der Gefäßoberfläche sind typisch für die späte Phase der sogenannten frühgeometrischen Epoche (Early Geometric/EG II), die ins mittlere 9. Jahrhundert v. Chr. zu datieren ist. In gleicher Weise lassen sich auch die übrigen Gefäße einordnen. Etwa um 850 v. Chr. also wurde die Frau bestattet.
Semantik und Objektsymbolik
Abb. 3: Athen, Agora: geometrisches Grab einer Frau. Inventar: Keramik
Abb. 4: Athen, Agora: geometrisches Grab einer Frau. Inventar: Schmuck
Bei der Urne (Abb. 1/2, Nr. 1; Abb. 3) handelt es sich um eine Bauchhenkelamphora. Sie ist mit einer Höhe von 71 cm relativ groß. Die Gefäßform ist typisch für Frauenbestattungen – sowohl als Urne als auch in noch größerem Format als oberirdische Grabmarkierung. Dass man mit einer Bauchhenkelamphora ein Vorratsgefäß wählte, ist kein Zufall. Vielmehr ...