1. Glaubens-Wissenschaft?
1.1 Glauben – logisch?
Glauben und Logik – wie geht das zusammen? Das Subjektivste, die innere, innerliche Ergriffenheit des Menschen von dem, was ihn unbedingt angeht,1 wovon Menschen sich unbedingt angehen und bestimmen lassen und wozu sie sich in allem, was sie sind und sein wollen, verhalten. – Die äußerste Objektivität, an der sich nichts deuteln lässt, die man eben nicht so oder auch ganz anders sehen kann, die undiskutierbar gilt, mit einer Notwendigkeit, der niemand sich entziehen kann, will er aus der »gemeinsamen Welt« mit ihren elementaren Selbstverständlichkeiten nicht herausfallen. Glauben: das kann man, wenn man will, muss es aber nicht. Der Logik muss man gehorchen, ob man will oder nicht, es sei denn, man stellt die Fähigkeit der Menschen von Grund auf in Frage, zu vernünftigen und zustimmungswürdigen Einsichten zu kommen. Glaube und Logik: Wie kann man sie in einem Atem nennen?
Für Menschen in einer vormodernen Gesellschaft mag es so gewesen sein: der christliche Glaube als elementare Selbstverständlichkeit, so selbstverständlich, dass mit ihm alles Andere – alles andere als selbstverständlich Geltende – auf dem Spiel stand: friedlich-menschliches Zusammenleben, die Möglichkeit der Erkenntnis, die Moral. Kein Stein würde auf dem anderen bleiben, wenn man sich erlaubte, die Fundamente zu untergraben. Und die Fundamente waren Glaubens-Fundamente, unerschütterlich in Gott selbst gegründet, von seiner Kirche verbürgt. Wer das bestritt, stand außerhalb, auf schwankendem Boden. Oder er war schon dabei, in den unendlichen Abgrund der Gott-losigkeit zu fallen, der Wahrheitslosigkeit, der Morallosigkeit. Nichts ließ sich mehr begründen und der Beliebigkeit entreißen, wenn man den Grund in Frage stellte, der alle Begründungen trug und sie allein tragen konnte.
Gott-logisch: ohne Gott keine tragfähigen Begründungen. Noch Descartes hat es so gesehen und geltend gemacht, weil er dem radikalen Zweifel, der alles haltlos zu machen drohte, nicht anders Halt gebieten konnte.2 Wenn auch Gott und seine Güte noch zweifelhaft würden, gäbe es überhaupt kein Halten mehr. Aber was ist ein Halt, was ist ein Fundamentum inconcussum wert, vor dem der Zweifel nur deshalb Halt machen soll, weil der Zweifelnde seinen letzten Rückhalt nicht verlieren will, weil er doch nicht bereit ist, an allem zu zweifeln? Der Gotteslogik folgen nur die Furchtsamen und Phantasielosen. Sie können sich nicht vorstellen, ohne einen letzten Halt auszukommen. So finden sie nichts dabei, letzte Gewissheiten auf Wünsche oder Weigerungen zu gründen, so als wäre es ein Argument, dass man ohne Gottesgewissheit alle Gewissheit verlöre. Als ob es nicht genau darauf ankäme, der Ungewissheit auch im Letzten noch standzuhalten und ihr gewachsen zu sein.
Friedrich Nietzsche beflügelt die Phantasie des Zweifels, so dass sie hinwegkommt über die Barriere des Unvorstellbaren: dass es keinen Gott gibt, keine Wahrheit, kein unverfügbar Vorgegebenes, dem die Menschen sich unterwerfen müssten, kein unabdingbar verpflichtendes Sollen. Es ist schon so: Wenn Gott nicht ist, wenn er »tot ist«, fällt mit ihm alles, was man mit ihm begründete; fällt die Gott-Logik, fallen die Gott-verbürgten Selbstverständlichkeiten, an denen man sich bisher nicht zu zweifeln getraute. Dieses Ereignis ist – so räumt Nietzsche ein –
»viel zu gross, zu fern, zu abseits vom Fassungsvermögen Vieler, als dass auch seine Kunde schon angelangt heissen dürfte; geschweige denn, dass Viele bereits wüssten, was eigentlich sich damit begeben hat – und was Alles, nachdem dieser Glaube untergraben ist, nunmehr einfallen muss, weil es auf ihm gebaut, an ihn gelehnt, in ihn hineingewachsen war: zum Beispiel unsre ganze europäische Moral. Diese lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz, die nun bevorsteht: wer erriethe heute schon genug davon, um den Lehrer und Vorausverkünder dieser ungeheuren Logik von Schrecken abgeben zu müssen, den Propheten einer Verdüsterung und Sonnenfinsternis, deren Gleichen es wahrscheinlich noch nicht auf Erden gegeben hat?«3
Nietzsche selbst und sein Zarathustra4 sollen und wollen die Propheten des Unvorstellbaren sein. Es ist ihre Sendung, diese abgründigste Erschütterung – die Logik der Gott-losigkeit und der Sonnenfinsternis mit all ihrem Schrecken – endlich zu Bewusstsein zu bringen: damit die Menschen zu einer neuen Logik aufbrechen und entschlossen ohne Gott und die Gott-verbürgten Selbstverständlichkeiten zu leben wagen. Die »freien Geister«, die diese Propheten um sich sammeln, haben hinter sich gelassen, was den Menschen bisher Heimat und Sicherheit bot. Ihr »Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung, – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, dass er nicht hell ist, endlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagnis des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so ›offnes Meer‹.–«5
Glauben? Ja, auch die freien Geister beseelt ein Glaube. Woran glauben sie? »Daran: dass die Gewichte aller Dinge neu bestimmt werden müssen«6 – weil sie von keinem Gott her vorbestimmt sind, weil es nun die Menschen selbst sind, die das Gewicht der Dinge abwägen und bestimmen. Darin liegt die höchste Selbststeigerung des Menschen – die zum Übermenschen, der sich die »Umwertung aller Werte« zutraut und sie entschlossen vollzieht.
Gott logisch? Es ist eine längst überwundene, endlich in all ihren Konsequenzen außer Kraft zu setzende Logik, die an Gott festgemacht ist. Sie und die von ihr beherrschte »Grammatik«7 als überwunden zu durchschauen, als freiheitsverkleinernd, als (über-)menschen- und naturfeindlich, und sie tatsächlich zu destruieren, das ist Nietzsches Denk-Leidenschaft. Gott-Logik, das kann jetzt nur noch die kritische Rekonstruktion und Destruktion einer perversen Logik sein, die ihre bezwingende Macht verliert, wenn man Einblick genommen hat in ihre Entstehung und ihr Funktionieren, in die Pathologie des Religiösen, für die sie die Verantwortung trägt. Hat man nachgewiesen, auf welchen »Irrgängen der Vernunft« sich die Religion »in’s Dasein geschlichen«,8 ins menschliche Leben, Fühlen und Denken eingeschlichen hat, und konnte man sie genetisch erklären – als Fehlentwicklung des menschlichen Strebens nach Macht –, so ist es um ihren Kredit geschehen. Man kann die in ihr behauptete andere Welt dann zwar noch nicht mit letzter Sicherheit ausschließen. Aber es bleibt nur ein minimaler, leerer, völlig bedeutungsloser Möglichkeitsrest, mit dem man »gar nichts anfangen [kann], geschweige denn, dass man Glück, Heil und Leben von den Sinnenfäden einer solchen Möglichkeit abhängen lassen dürfte.«9
1.2 Glauben und Wissen
Die Religionskritik des 19. und 20. Jahrhunderts kann gar nicht anders denken: Auf festem Boden steht das Wissen von Religion, soweit es »genetisch« erklärt, wie es zu den unwissenschaftlichen und von den Wissenschaften als vollkommen unzutreffend erwiesenen religiösen Überzeugungen kam. Wissenschaft bedeutet Entlarvung bzw. Widerlegung religiöser Einstellungen und Überzeugungen. Eine Wissenschaft, die das Wissen des Glaubens herausarbeiten und als solches legitimieren wollte, kann es nicht geben; sie wäre eine Contradictio in adiecto. Die Glaubensüberzeugungen erscheinen als Ausgeburten des Wunsches und der Angst. Was sie an Wissen beanspruchen, ist allein dem Bedürfnis geschuldet, sich in einer Welt geborgen zu fühlen, die doch »in Wirklichkeit« auf die Menschen und ihre Wünsche keinerlei Rücksicht nimmt; einem Bedürfnis, das der Mensch sich nicht erfüllen darf, wenn er die äußerste Herausforderung des Menschseins ergreifen und ihr gewachsen sein will. Wiederum Nietzsche: »noch nie hat eine Religion, weder mittelbar, noch unmittelbar, weder als Dogma, noch als Gleichnis, eine Wahrheit enthalten. Denn aus Angst und dem Bedürfniss ist eine jede geboren …«10 Das falsche Wissen der Religion tröstet, indem es vertröstet. Dieser Trost muss dem Menschen aus der Hand geschlagen werden, damit er endlich begreift, was vor ihm liegt – wozu er wirklich berufen ist. »›Glaube‹ heisst Nicht-wissen-wollen, was wahr ist«,11 heißt, sich dem Schmerz der Wahrheit und des Wissens entziehen. Dagegen steht der Mut der freien Geister, sich vom Wissen enttäuschen und über den Bannkreis der eigenen, viel zu kleinen Wünsche hinausführen zu lassen:
»Man hat jeden Schritt breit Wahrheit sich abringen müssen, man hat fast Alles dagegen preisgeben müssen, woran sonst das Herz, woran unsre Liebe, unser Vertrauen zum Leben hängt. Es bedarf Grösse der Seele dazu: der Dienst der Wahrheit ist der härteste Dienst. – Was heisst denn rechtschaffen sein in geistigen Dingen? Dass man streng gegen sein Herz ist, dass man die ›schönen Gefühle‹ verachtet […] Der Glaube macht selig: folglich lügt er …«12
Das Wissen muss die wunschbestimmten Überzeugungen zerstören, damit die Übermalungen von der Wirklichkeit abgewischt werden, mit der die Glaubenden sich das Leben in ihr erträglich machten, und die Welt endlich ihr wahres Gesicht zeige: Das ist das Wissenspathos des Intellektuellen im 19. Jahrhundert.13 Ent-täuschung ist der Preis des Wissens, den die Gläubigen nicht zahlen wollen. Intellektuelle sind Menschen, die den Schmerz der...