Tschechoslowakei - Jugendreise nach Prag und
in die Hohe Tatra (1960)
Wie hatte es eigentlich angefangen, das Reiseinteresse? Die Ferienzeit in der Kindheit verbrachten wir doch auf der Straße: Haschen und Verstecken, Räuber und Gendarm, Himmelhix, Springseil springen, Radschlagen und im Handstand laufen. Luxus schon das Rollschuhfahren, noch luxuriöser dann - ein eigenes Fahrrad! Stolze Besitzer ließen die anderen mal probieren, ein, zwei oder gar drei Runden um die Häuser.
Ansonsten für drei Wochen auch örtliches Ferienlager mit Mittagstisch und sportlichen Aktivitäten wie Wettrennen, Weitsprung, auf Bäume klettern und Geländespiel, aber auch mit Lesen und Vorlesen und schließlich sogar mit dem Laienspiel für das Abschlussfest. Das war mein Metier.
Viele Kinder fuhren auch ins Betriebsferienlager im Erzgebirge, im Vogtland, im Thüringer Wald, mitunter sogar an der Ostsee. Einzige Bedingung: Ihre Eltern arbeiteten in einem der Großbetriebe, die sich eigene Ferienlager leisten konnten.
Seit der neunten Klasse machte auch ich frühe Reiseerfahrungen. Wir hatten in unserer Penne einen großartigen Klassenlehrer, jung, aktiv, reiselustig, - ein Organisationstalent. In jedem Schuljahr ging es auf Klassenfahrt, zunächst in den Winterferien nach Rittersgrün im Erzgebirge, dann nach Klingenthal im Vogtland. In den großen Ferien nach dem elften Schuljahr das erste Highlight, - Sommer am Ostseestrand! Der Clou aber war unsere Abi-Fahrt, unsere erste Auslandsreise.
Dies war unserem Klassenlehrer gelungen über das Komitee für Touristik und Wandern (KTW), übrigens das spätere Jugendtourist, das von 1956 bis 1974, für „die Förderung der Körperkultur, des Schul- und Volkssports und der Touristik“ verantwortlich und daher viel gefragt war.
Zwei Wochen Tschechoslowakei! Prag und Hohe Tatra als Lohn für das bestandene Abitur.
Mit dem Zug zunächst über Leipzig und Dresden nach Prag.
Aufgeregtes Gewusel, lautes Geschnatter, nur nichts verpassen! Den Rucksack auf dem Rücken, sonst fest im Blick. Wenn auch sparsam das Gepäck, für zwei Wochen musste es reichen!
Endlich Prag Hauptbahnhof! Dort vorn der Lange mit dem Suchschild in der Hand, das war Karel, unser Dolmetscher. Ab ging’s für zwei Nächte in eine Prager Jugendherberge. Mit Moni teilte ich das Doppelstockbett, - Vorübung für unsere gemeinsame Studentenbude in Leipzig. Sie war für den gleichen Studiengang an der Uni immatrikuliert, ihre Leipziger Tante hatte uns ein Zimmer in deren Nähe versorgt. Klar, dass wir nun auch in der Tatra im Internationalen Studentenlager gemeinsam in einem Zelt schliefen.
Jetzt aber erst mal die Prager Neustadt, morgen dann der
Hradschin. Prag war nicht nur eine Reise wert. Und in zwei Tagen erwartet uns die hohe Bergwelt, was sind wir aufgeregt! Berge, wie sie noch keiner von uns gesehen hat. Wo auch?
Zuerst mit der Straßenbahn zum Wenzelsplatz. Was für eine Prachtstraße! Eher eine Allee als ein Platz, von Linden umsäumt! Und lecker Eis gibt es hier, Zmrzlina! Nie habe ich dieses Wort vergessen. Mein erstes Softeis! Zu Hause bislang unbekannt.
Karel erzählt, hier sei früher der Rossmarkt gewesen, seit dem 14. Jahrhundert bereits, das war die Zeit von Karl IV. Nach dem Heiligen Wenzel von Böhmen wurde er erst Mitte des 19. Jahrhunderts benannt. Wir stehen am Wenzelsdenkmal, betrachten den heiligen Wenzel auf seinem Pferd, wohlbeschützt in Rüstung mit Harnisch und Lanze. Von hier hat man einen herrlichen Blick den Wenzelsplatz hinunter. Wie hätten wir damals ahnen können, dass Jahre später genau hier die Heimstatt des PRAGER FRÜHLINGs sein wird?
Vom Wenzelsplatz zur Prager Kleinseite, wie gut waren wir einst zu Fuß! Die berühmte Karlsbrücke über die Moldau, einmal runterspucken, - heute unvorstellbar, das aber musste sein!
Jetzt sputen, zum Altstadt-Rathaus mit seiner berühmten astrologischen Uhr. Wir wollten ja vor dem Glockenschlag ankommen. Der Platz schon voller Schaulustiger, das muss man gesehen, nein, das muss man erlebt haben! Wie gebannt starren wir hinauf, wartend auf die volle Stunde. Denn genau dann erscheinen bis heute in den beiden Fenstern die Figuren der zwölf Apostel. Zum Schluss des Apostelzuges kräht der Hahn und die Glocke oben am Turm beginnt die entsprechende Stundenzahl zu schlagen, - ein Meisterwerk!
Nun teilen wir uns, Besuch des rein äußerlich sehr attraktiv wirkenden Nationalmuseums oder Stadtbummel. Vorher erklärt Karel, mit welcher Straßenbahnlinie wir unsere Unterkunft erreichen werden, wir waren achtzehn,
natürlich erwachsen!
Mich interessierte damals doch eher das Großstadtleben.
Museum? Später mal! Am Abend aber die richtige Bahn erwischen und vor allem die passende Haltestelle! Nach einigen Umwegen endlich geschafft! Hundemüde musste kaum einer von uns lange auf den erquickenden Schlaf warten.
Heutiges Ziel: die Prager Burg auf dem Hradschin, ein Muss für alle Prag-Besucher. Wir aber mussten nicht, wir wollten da hinauf, hatten wir sie doch gestern von der Karlsbrücke aus schon im Visier gehabt.
Unsere Füße waren jung und fit genug für den Aufstieg über die alte Schlossstiege. Unser gegenseitiges Frotzeln, weil gestern nicht alle die passende Straßenbahn erwischt hatten, wurde öfter unterbrochen durch ein: „Eh, guckt mal!“
Wunderschön der Ausblick, je höher wir kamen. Wir blickten auf die Kleinseite und eigentlich sogar auf ganz Prag. Von hier oben wird regiert, und wenn wir Karel glauben dürfen, das schon seit über 1000 Jahren. Der Burgkomplex ist seither größer geworden. Der gotische Veitsdom, kostbar ausgestattet, prunkvoll gestaltet auch die Fassade, herrliche Bleiglas-Fenster. Ganz klein wirken wir in dieser Kathedrale des Erzbistums Prag. Das ändert sich nach dem Besteigen des schier unendlich erscheinenden 99m hohen Turmes. Jetzt hatten wir gleichsam Prags Gipfel erstürmt. Danach übernahm Karel die Führung durchs Innere der Burg. Aufregend das Fenster im Ludwigsflügel, aus dem 1618 der Statthalter des Kaisers vom Heiligen Römischen Reich, Ferdinand II., aus dem Fenster geworfen wurde, - Kriege brauchen offensichtlich solche Auslöser, damals war es der Dreißigjährige.
Unendlich viel Sehenswertes und Interessantes! Ich aber erinnere mich nach all den dazwischenliegenden Jahrzehnten vor allem an einen goldverzierten, von Spiegeln umrahmten, riesig erscheinenden Ballsaal, - hier einmal einen Walzer tanzen! Walzer? Es war doch die Zeit des Rock’n Roll, und den liebte ich wie verrückt, mit Überschlag! Doch irgendwie schien mir das wohl nicht in dieses Ambiente zu passen. Sehnsüchtig träumte ich mich walzernd über dieses Parkett. Waren es vielleicht die damaligen Sissi-Filme mit Romy Schneider, die mich zu solcher Schwärmerei verführten?
Durch das Goldene Gässchen mit seinen unvorstellbar kleinen Häusern verließen wir den Burgkomplex. Hier sollen einst Alchimisten Gold hergestellt haben. Am Kafka-Wohnhaus - literarischer Stopp. Unser Klassenlehrer, zugleich Deutschlehrer und Kafka-Verehrer, legte hier einen Grundstein für mein Interesse an Franz Kafkas Art zu schreiben.
Wieder in der Altstadt angekommen, zuerst ein Zmrzlina. Sahnig zerging es auf der Zunge. Dann wollten einige nochmals die Apostel der Rathausuhr bewundern, andere gingen mit Karel zum alten jüdischen Friedhof. Wie durcheinander gewürfelt wirkten die eng an- oder aufeinander stehenden, auch liegenden Grabsteine. Erstmals hörte ich hier etwas über Rabbi Löws Golem-Figur. Dieser Friedhof ist seit Jahrzehnten lediglich der Erinnerung geweiht.
Wie eine halbe Ewigkeit erschien uns die Bahnfahrt von Prag nach Poprad am Fuße der Hohen Tatra. Von dort aus ging’s zielstrebig mit der schmalspurigen elektrischen Tatrabahn nach Starý Smokovec. Genau dort befand sich das Internationale Studentenlager, eine richtige Zelt-Stadt.
Die Fahrtzeit verkürzten wir uns durch das Wiederauflebenlassen unvergessener Pennäler- Storys. Unsere Abi-Tour per Pferdewagen lag ja noch gar nicht lange zurück. Eine Mitschülerin konnte ihren Bauernhof-Vater durch gutes Prüfungsabschneiden zum Kutscherdienst bewegen.
War das ein Gaudi, als wir bei unseren nichts ahnenden Lehrern auf derart ungewöhnliche Weise in ihrer häuslichen Umgebung auftauchten und jeden mit einem auf ihn zugeschnitten Lied bedachten.
Fast überall hieß es: „Absteigen!“ Und ein Prosit auf künftiges Studentenleben. Kein Lehrerhaushalt ohne den passenden Wein, zumeist aus der FRUTTA (Fruchtverarbeitung) unserer Stadt. Apfelwein, hergestellt aus den vom Kunden dort abgegebenen Äpfeln, entweder aus dem eigenen Garten oder aufgesammelt an dörflichen Straßenrändern, auf dass nur nichts vergammelt! Jetzt höre ich schon den heutigen Leser: „Vom Straßenrand? Abgasverseucht!“ Hahaha, etwa von den drei Trabis, die da am Tag vorbeizogen? Geschmeckt hat’s allemal, eigentlich von Halt zu Halt ein wenig besser. Als letzter war unser Mathelehrer dran. Aber der hatte zu tun! Mit seiner vielgepriesenen Logik kam er da kaum weiter. Lehrerstorys belebten lautstark das Zuginnere.
Riesenfreude auch, wenn tatsächlich mal zwei Stunden Unterricht ausgefallen waren. Äußerst selten übrigens, unsere Lehrer hatten damals eine wohl nicht zu erschütternde Gesundheit. Sollte es doch mal einen erwischt haben, wünschten wir stets, er solle sich nur richtig auskurieren. Diese menschliche Regung aber brachte uns keine weiteren Freistunden ein, spätestens am nächsten Tag erschien ein Vertretungslehrer. Lehrermangel wie heutzutage? Fehlanzeige, Planwirtschaft! Da bestimmte die Geburtenzahl von 1960 die Anzahl der notwendigen Grundschullehrer im Jahre 1966. Und genau die wurden ausgebildet, nicht mehr, nicht...