Nicht nur der Ansteckungseffekt des Gähnens zeigt die enorme Macht des tief in uns verankerten unbewussten Synchronismus. Er beruht auf der Fähigkeit, den eigenen Körper auf den eines anderen zu projizieren und sich dessen Bewegungen zu eigen zu machen — wie das Gähnen.
An der Universität von Kyoto zeigten Forscher Laboraffen Videos von frei lebenden Schimpansen, die permanent gähnten, und es dauerte nicht lange, bis dies auch die Laborschimpansen taten. Frans de Waal und seine Kollegen gingen noch weiter. Sie führten einer Schimpansengruppe einen Trickfilm mit einem animierten Affenkopf vor, der sein Maul weit aufriss und gähnte — jedenfalls interpretierten es so auch die zusehenden Schimpansen und gähnten ebenfalls.
Der Überlebenswert von Synchronismen liegt auf der Hand. Befände man sich in einem Vogelschwarm und einer der Artgenossen flöge auf, dann sollte man es ihm besser gleichtun, sonst ende man womöglich als Mahlzeit, so de Waal. »Das Individuum, das sich nicht dem allgemeinen Verhalten angleicht, ist im Nachteil wie der Reisende, der nicht auf die Toilette geht, wenn der Bus an einer Raststätte hält.«
Besonders erstaunlich, ja kurios ist die körperliche Nachahmung dann, wenn sie Artgrenzen überschreitet. De Waal berichtet von einer Studie, in der Delfine ohne spezielles Verhaltenstraining Menschen am Beckenrand nachahmten. Wedelte ein Mann mit seinen Armen, wedelten die Delfine mit ihren Brustflossen. Hob ein anderer sein Bein, hoben die Delfine die Schwänze aus dem Wasser. Eine erstaunliche Körperkorrespondenz hat sich auch in de Waals Freundeskreis ereignet. Die Hündin eines Freundes begann wenige Tage, nachdem ihr Herrchen sich ein Bein gebrochen hatte und einen Gips tragen musste, ihr eigenes Bein hinter sich herzuziehen. Bei Herrchen und Hündin handelte es sich jeweils um das rechte Bein. Als der Mann gipsfrei war, humpelte auch die Hündin nicht mehr.
~~~
Im Internet wird bekanntlich viel Hass produziert. Gleichzeitig hat das Netz die Kraft, gigantische Empathiewellen auszulösen. Allerdings gelten, sofern man das zum Handeln animierende Mitgefühl der Masse erfolgreich wecken möchte, andere als die aus der Offlinewelt vertrauten Regeln. Zu wissen, welche Mitgefühlsmechanismen greifen, hilft, nicht in die Manipulationsschleife zu geraten und einen halbwegs klaren Kopf zu bewahren.
Dazu eine Geschichte: Im Mai 2016 klettert ein kleiner Junge im Zoo von Cincinnati über die Absperrung des Gorillageheges und fällt fünf Meter tief in den Wassergraben. Der bereits in die Jahre gekommene Silberrücken Harambe, ein massiges, Respekt einflößendes Tier, nähert sich neugierig dem Jungen. Plötzlich packt Harambe ihn am Bein, zieht ihn durchs Wasser und stellt ihn wieder auf seine Füße. Verhaltensforscher beschrieben dies später als typisches Spielverhalten. Im Netz kursieren Videos, auf denen man die Schreie der Mutter und anderer Zoobesucher hört. Harambe wird schließlich erschossen. Für den Jungen geht die Sache glimpflich aus, er trägt nur leichte Verletzungen davon. Der Aufschrei im Netz ist enorm, weltweit empören sich Internetnutzer über die Mutter, die ihr Kind aus den Augen gelassen hat, und die Mitarbeiter des Zoos, die Harambe in den Tod schickten. Herzlos, kaltblütig. Es entspinnt sich eine Debatte über Tierhaltung in Zoos, über die Frage, ob Zoos überhaupt ethisch vertretbar sind angesichts der Qual für die Tiere zum Amüsement der Besucher. Es sah ganz danach aus, als hätte Harambes Tod schlagartig unzähligen Tierliebhabern die Augen dafür geöffnet, dass Zoos Schattenseiten haben.
Die Geschichte ist zweifelsohne tragisch, die hysterischen, maßlosen Reaktionen auf das Schicksal des Silberrückens im Netz irritieren trotzdem. Ein Artikel in der Huffington Post zieht Parallelen zum Fall des Löwen Cecil, den ein Zahnarzt und Hobbygroßwildjäger aus Minnesota in Simbabwe erlegt hatte, nichts ahnend, dass es sich bei Cecil nicht nur um das bekannteste Tier des Hwange-Nationalpark handelte, sondern dass es zudem mit einem GPS-Halsband ausgestattet war, das Forschern der Universität Oxford Daten lieferte. Der Jäger hätte gar keine konfliktträchtigere Beute auswählen können.
Der Großwildjäger wurde jedenfalls so stark angefeindet, dass er eine Zeit lang untertauchen musste, als wäre er ein Schwerverbrecher. Man muss wirklich kein Verständnis für die Großwildjagd aufbringen, geschweige denn, ihr etwas Gutes abgewinnen, um den Mann aus Minnesota ein bisschen zu bemitleiden. Wilderei ist nicht erst seit Cecil ein Verbrechen. Die illegale Jagd bedroht seit Jahrzehnten die gesamte Löwenpopulation. »Warum brauchte es den Tod eines Löwen, damit wir anfangen konnten zu reden?«, fragt der Kommentator in der Huffington Post. Schätzungsweise siebenhundert Flüchtlinge seien in der Woche von Harambes Tod bei der Überquerung des Mittelmeers ums Leben gekommen. Doch darüber, so der Autor, wurde weder umfassend in den Medien diskutiert noch sich öffentlich empört. »Wir waren alle zu sehr damit beschäftigt, miteinander darüber zu streiten, wie man einen Zoo richtig betreibt.«
Psychologisch ist das wenig verwunderlich: Der Zoo ist für viele Menschen Teil der eigenen Erlebniswelt, während die sich im Mittelmeer abspielenden Dramen eher ignoriert oder verdrängt werden. Hinzu kommen die Dauerbeschallung mit Nachrichten, unsere gesunkenen Aufmerksamkeitsspannen, und, ja, wohl auch eine gewisse Abgestumpftheit. Ein ungewöhnliches Unglück aber wie jenes, das sich im Zoo von Cincinnati ereignete, lässt uns aufhorchen.
Dass das in sozialen Medien zelebrierte Mitgefühl in allererster Linie dem erschossenen Harambe galt und weniger dem durch den Wassergraben gezogenen Jungen, auch dafür gibt es eine Erklärung. Den sogenannten deserving mechanism: »Das Kind ist der Verursacher der Situation, und am Ende ist ihm auch gar nichts passiert. Das Opfer ist der Gorilla«, sagt die Neuropsychologin Grit Hein. »Hinzu kommt, dass der Gorilla ja nicht freiwillig im Zoo lebt, er wurde dorthin gebracht, gewissermaßen aus seinem natürlichen Lebensraum entführt. Er ist es also, der unser Mitleid verdient — sehr viele Studien beschreiben diesen Mechanismus, der absolut zuverlässig Empathie erhöht. Daher rührt die Solidarisierung mit dem Gorilla.«
Harambe & Co. illustrieren lehrbuchhaft die Dynamiken des Netzes. Das gegenseitige Auf- und Hochschaukeln läuft jeder Angemessenheit zuwider. Gleichzeitig produziert diese Form des Gefühlsüberschwangs manchmal märchenhafte Geschichten wie diese:
James Robertson, Mitte fünfzig, war ein armer Mann aus Detroit. Zehn Jahre lang, fünf Tage pro Woche, bewältigte er bei Wind und Wetter einen mehr als dreißig Kilometer langen Fußmarsch zur Arbeit und zurück, der ihn durch manch gefährliche Gegend führte. Seit sein alter Honda den Geist aufgegeben hatte, war ihm nichts anderes übrig geblieben. Weder für ein neues Auto noch für einen Umzug in die Nähe der Fabrik, in der er arbeitete, reichte das Geld. Die Busverbindungen waren eine Katastrophe. Er schlief nachts nur noch wenige Stunden und trank literweise Cola, um wach zu bleiben. Eines Tages beschloss ein Student, James Robertson, auf dessen Geschichte er in der Detroit Free Press gestoßen war, zu helfen. Auf der Crowdfunding-Plattform GoFundMe erzählte er von Robertsons täglichen Märschen, veröffentlichte ein Foto des »Walking Man« und rief die Netzgemeinde zum Spenden auf. Ziel war es, Robertson ein Auto zu finanzieren. Mehr als 13.000 Menschen spendeten. Nach zehn Monaten waren 350.000 Dollar zusammengekommen. Robertson hatte nicht nur ein neues Auto, er hatte ein neues Leben.
Bei GoFundMe schrieb der irritierte Initiator der Kampagne, er habe sich, als er die Seite für Robertson erstellte, gefragt, wer überhaupt irgendeinem Neunzehnjährigen Geld spenden soll, damit der einem Kerl ein Auto kauft? Offenbar hatte er die Kraft der Geschichte unterschätzt. Nächstenliebe heißt in Zeiten sozialer Medien manchmal, Schicksal zu spielen: Irgendjemand stößt irgendwo auf einen Menschen, eine Familie, auf eine Geschichte oder auch nur auf ein Bild, das ihn erschüttert. Daran, dass wir von einer Sekunde auf die nächste so bewegt sein können, dass wir helfen wollen, ist ja erst einmal nichts auszusetzen, im Gegenteil.
Bei dem Isländer Gissur Simonarson war es im Sommer das Bild eines Mannes, der seine vollkommen erschöpfte Tochter auf dem Arm trug und versuchte, in Beiruts Straßen eine ...