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E-Book

Einmal rund um die Sonne

Begleitende Gedanken für das ganze Jahr

AutorElisabeth Lukas
VerlagVerlag Neue Stadt
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783879964338
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis22,99 EUR
In ihrem neuen Buch bündelt die international anerkannte Psychologin und Psychotherapeutin Elisabeth Lukas ihre reichen Erfahrungen - den Monaten zugeordnet - in 12 Themenkreisen. Geschichten exemplarischer Figuren zeigen anschaulich und fundiert, was für die Lebens bewältigung und eine »sinn-volle« Lebensgestaltung wichtig ist. Dieses Buch möchte helfen, »wärmende Sonnenstrahlen« einzufangen, um in jedweder Situation, so herausfordernd oder schmerzlich sie sein mag, mit Mut und Zuversicht den eigenen Weg zu finden. Mit 12 Fotos und Gedichten von Elli Michler.

Dr. habil. Elisabeth Lukas, geboren 1942 in Wien, österreichische Psychotherapeutin und klinische Psychologin, ist eine international bekannte Schülerin von Viktor E. Frankl, dem Gründer der Logotherapie, der sinnzentrierten Psychotherapie. Elisabeth Lukas spezialisierte sich auf die praktische Anwendung der Logotherapie, die sie methodisch weiterentwickelte. Bis 2003 leitete sie das Süddeutsche Institut für Logotherapie in Fürstenfeldbruck. Ihr Werk ist mit der Ehrenmedaille der Santa Clara University in Kalifornien für herausragende Verdienste auf dem Gebiet der Psychologie und mit dem großen Preis des Viktor-Frankl-Fonds der Stadt Wien ausgezeichnet worden.

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Leseprobe

Januar


Von der Faszination
des Neu-anfangen-Könnens


 

ZWISCHEN DEN JAHREN

Die Mittagssonne,
an wärmenden Kräften noch arm,
spiegelt von fern sich im Eise.
Auf den Feldern hockt träge der Krähenschwarm.
Die Zeit dreht sich lautlos im Kreise.

Keine Schneeflocke tanzt.
In den Häusern verschanzt
will Gewohntes das Alte bewahren;
doch pirscht sich das Neue schon mutig heran
und ängstigt sich nicht vor Gefahren.
Es hegt keine Zweifel und weiß, wie man’s schafft:
Auf jeglichen Neubeginns innere Kraft
besinnt es sich zwischen den Jahren.

Elli Michler

Peter ist ein großer, athletischer Mann von dreißig Jahren. Er ist mit vielen Talenten gesegnet. So hat er zum Beispiel einen analytischmathematischen Verstand, ein gutes Gedächtnis, eine rasche Auffassungsgabe und ein beachtliches Allgemeinwissen. In der Schule zählte er stets zu den aufmerksamen Schülern, was sich in seinen positiven Zensuren niedergeschlagen hat. Auch besitzt Peter ein freundliches Naturell und ist in der Damenwelt beliebt. Man könnte somit denken, dass Peter herrliche Startbedingungen ins Leben hatte und immer noch hat. Er sitzt jedoch unentschlossen bei seinen Eltern herum, die ein Hotel führen, und hilft ihnen mürrisch bei der Arbeit, die er nicht mag. Privat flattert er zwischen freundschaftlichen Kontakten und gelegentlichen Unternehmungen hin und her, ohne sich zu binden oder sich einem besonderen Interesse zu widmen.

Gerda hat weit weniger günstige Startbedingungen gehabt. Während ihrer Kindheit gab es in ihrer Familie heftige Turbulenzen. Ihr Vater wurde aus politischen Gründen verhaftet, ihre Mutter floh mit den Kindern aus dem damaligen Ostblock in den Westen, zwei Brüder starben bei einem tragischen Unfall, die Familie verarmte. Gerda arbeitete seit ihrer Schulzeit als Wäschereigehilfin und Büglerin und wurde schließlich mit sechsundfünfzig Jahren wegen eines chronischen Rückenleidens in Frührente geschickt. Sie ist geschieden, alleinstehend und beschließt, endlich ein angenehmes Leben nach ihren bescheidenen Vorstellungen zu führen. Z. B. malt sie sich aus, Busreisen zu buchen oder ihre inzwischen politisch veränderte Ursprungsheimat zu besuchen und nach etwaigen Verwandten Ausschau zu halten. Sie träumt von Palmen und Sandstränden am Schwarzen Meer. Aber sie unternimmt nichts, und ihre Tage verrinnen ungenützt.

Was ist los mit Peter und Gerda? Sind die beiden seelisch krank? Aber nein! Sind sie hilflos und ohne Ressourcen? Keineswegs! Sind sie in einen finsteren Erdenwinkel geworfen, aus dem es kein Entrinnen gibt? Auch nicht! Das Glück hat sich sogar herabgelassen, ihnen allerhand erbauliche Zukunftsoptionen zuzuschanzen. Peter hat einen gesunden, kräftigen Körper. Er hat Eltern, die ihn bei jeder nachträglichen höheren Ausbildung unterstützen würden. Er hat ein Bündel vorzeigbarer Fähigkeiten sowie ein soziales Auffangnetz für Notfälle. Gerda ist körperlich nicht mehr so fit, aber dennoch mobil genug, um ihre Reisesehnsucht zu befriedigen. Sie hat jetzt Zeit, ist vom Zwang, arbeiten zu müssen, befreit und hat sich einige finanzielle Reserven geschaffen. Außerdem hat sie noch innere Bezüge zu ihrem Herkunftsland, versteht seine Sprache, träumt von einer Erkundungsfahrt zu ihren Wurzeln. Also, was ist los mit ihr und Peter?

Die beiden haben offensichtlich Schwierigkeiten mit dem Anfangen, wobei Peters Schwierigkeit noch um eine Nuance größer sein dürfte. Er hat nämlich nicht einmal eine Vision von dem, was er anfangen könnte – mit sich, seinem Leben, seinen Gaben, seiner Zukunft. Gerda hingegen hat wenigstens eine Vision. Nur: Visionen entraten zu „Luftschlössern“, verfallen zu leeren Utopien, wenn sie nicht integriert werden in die Dynamik aktiver Initiativen und nicht angezurrt werden an einem bestimmten Punkt in einem Schrittekontinuum, das im Heute beginnt. Das heißt, was Peter vermisst, lässt Gerda versanden.

Welches Hindernis türmt sich zwischen den beiden Personen und ihren Neuanfängen auf? Ist es die Angst? Die Angst vor dem Unbekannten, befremdend Neuen, garantielosen Wagnis? Vielleicht. Ist es die Mühe, sich aufzuraffen und aus den eingerosteten Gleisen auszuscheren? Vielleicht auch das. Ist es die fehlende Bereitschaft, auf vertraute Bequemlichkeiten zu verzichten und sich zu erwartende Anstrengungen aufzuladen? Gut möglich. Ist es das Schreckgespenst „Eigenverantwortung“, das allen klar getroffenen Entscheidungen anhaftet? Wahrscheinlich ist es ein fataler Mix aus alledem, eine lähmende Mischung, die suggeriert, lieber eine gewohnte Misere beizubehalten, als ein ungewohntes Terrain zu betreten, das sich als noch misslicher – aber auch als wesentlich bekömmlicher und froh machender entpuppen könnte. Ohne Risiko sind eben keine Novität und auch keine persönliche Weiterentwicklung zu haben.

Ein Jahreswechsel wäre der richtige Zeitpunkt für die beiden Personen, Bilanz zu ziehen und ihre Lage zu überdenken. Peter stiefelt ins einunddreißigste Lebensjahr hinein. Wenn er nicht bei der von ihm eher abgelehnten Hotelarbeit hängen bleiben will, wird es höchste Zeit, Alternativen ins Auge zu fassen. Es reicht in keiner Sparte des Lebens, zu wissen, was man nicht will. Auf ein frei fluktuierendes Nein erntet man stets ein „Nicht genügend“.

Die wirklich bedeutenden Neins sind samt und sonders jene, die über den Buckel eines noch viel bedeutungsvolleren Jas hinunterrutschen. Spricht etwa jemand an einem Sonntag ein volles und ehrliches Ja zu einem Fahrradausflug, dann sagt er gleichzeitig mit leichtem Herzen und fester Stimme Nein zum Rest all dessen, was er an demselben Sonntag auch hätte tun können, vom Sich-Ausschlafen, bis zum Buch-Lesen, Im-Garten-Werkeln, Freunde-Einladen, Menü-Kochen usf. Die Neins bilden praktisch die Kehrseite des Jas, sie leiten sich lückenlos aus dem einen Ja ab, das Gültigkeit besitzt. Umgekehrt aber leitet sich ein Ja aus keinem einzigen Nein ab. Wer beschließt, am Sonntag sicher kein Menü zu kochen, hat nichts wirklich beschlossen. Dieses eine Nein setzt ihn nicht aufs Fahrrad, nicht zum Buch, nicht in den Garten und nicht zu seinen Freunden. Es erweist ihm keinen Dienst, es „genügt nicht“.

Peter muss folglich herausfinden, was er will, und nicht, was er nicht will. Es ist ihm dringend zu raten, sich für eine Weile in die Stille und Abgeschiedenheit einer verschneiten Berghütte oder eines Klosters zurückzuziehen, um mit sich ins Reine zu kommen. Er muss aus dem Alltag heraus, um seine geistige Beweglichkeit anzukurbeln. Denn Alltag ist Wiederholung ein- und desselben, ist Routine, die automatisch und ohne langes Überlegen verrichtet wird. Alltag ist Abspulen von Gewohnheiten, was im Normalfall entlastend ist, weil nicht für jede Einzeltätigkeit ein hellwaches Bewusstsein gebraucht wird. Den Alltag absolviert man bei einiger Übung quasi „im Schlaf“. Aber gerade dies ist Gift für Peter. Denn er soll ja aus seinem schläfrigen Zustand aufwachen und sein Leben konstruktiv in die Hand nehmen. Also hinaus mit ihm aus der althergebrachten Lethargie und hinein in ein Abseits, für das er keine Gewohnheiten parat hat, hinein in ein so ablenkungsfreies Milieu, dass er mit sich selbst und mit sonst nichts konfrontiert ist – und gezwungen ist, sich selbst und seinen Werdegang genauer zu erforschen.

Jedem Menschen wohnt eine innere Stimme inne, die ihn leitet. Es ist ein leises Stimmchen, dafür aber unbeirrt und autark, das heißt, nicht identisch mit äußeren Einflüsterungen. Der Seelenarzt und Philosoph Viktor E. Frankl hat es unser „prämoralisches Wertverständnis“ genannt, das „aller expliziten Moral wesentlich vorgängig“ sei. Damit meinte er, dass diese Art von innerer „Gewissensstimme“ nicht der herkömmlichen Interpretation entspricht, wonach sie durch die Erziehung gebildet wird und die jeweils geltenden Gesellschaftsmaximen repräsentiert. Derlei gibt es schon auch: die eingetrichterte Stimme der aktuellen Kulturepoche; aber diese Stimme ist eben nicht autark. Mutter und Vater erklären dem heranwachsenden Kind, was es zu tun und zu unterlassen habe, später übernehmen die Lehrer und Rechtshüter dieselbe Aufgabe – alles Bemühen in der Absicht, dass das Gelernte vom Lernenden akzeptiert werde, was in begrenzten Maßen auch gelingt. Dennoch bleibt jene eigene kleine innere Stimme im Menschen lebendig, die sich nicht an Mutters, Vaters oder Rechtshüters Instruktionen orientiert, sondern Weisungen aus höherer Ebene empfängt und an die Person weiterleitet. „Die Person wird durchtönt und durchklungen (das lateinische Wort ‚personare‘ heißt durchtönen,...

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