Erstes Kapitel
Geschichtsphilosophie: Fortschritt ohne Ende?
Der erste Typ philosophischen Nachdenkens über die Geschichte ist die Geschichtsphilosophie im engen Sinn, also die historische Denkrichtung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts. Trotz der Unterschiede zwischen den einzelnen Positionen halte ich es für sachlich gerechtfertigt und einer Grundorientierung dienlich, einen solchen gemeinsamen Typus mit folgenden Merkmalen vorzustellen.
Die Geschichte wird von der Chronologie abgekoppelt und verweltlicht; aus der mittelalterlichen Heilsgeschichte wird eine von den Menschen ›gemachte‹ Geschichte. Ihr wird eine lineare und aufsteigende Verlaufsform zugeschrieben mit der Tendenz zum ›Fortschritt‹. Damit erhält die Geschichte eine Einheitlichkeit, die sich sprachlich im Kollektivsingular niederschlägt.
Diese allgemeinen Merkmale treffen prinzipiell von der Aufklärung bis Hegel zu, sie werden dort sogar auf die Spitze getrieben; bei Rousseau und Kant finden sich einige Einschränkungen, die jedoch am geschichtsphilosophischen Duktus nichts ändern. Marx kritisiert zwar Hegel, setzt aber dessen Methode mit anderen Inhalten fort. Ob idealistisch oder materialistisch, ob fortschrittsgläubig, kulturkritisch oder skeptisch, ob ökonomisch, politisch oder moralisch begründet – in jedem Fall handelt es sich um eine säkulare und zielgerichtete Weltgeschichte. Diese Merkmale sollen nun idealtypisch systematisiert werden, um in die Einzeldarstellungen einzuführen.
Begriff und Methode
Es war der französische Aufklärer Voltaire (1694-1778), der den Begriff »Philosophie der Geschichte« (1765) erstmals geprägt hat. Mit dieser Wortschöpfung verband er den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, was damals gleichbedeutend mit Philosophie war. War die Geschichte noch in der Frühen Neuzeit aus dem Kanon der Wissenschaften ausgeschlossen, soll sie nun methodisch erforscht und dargestellt werden. Auch wenn Voltaire einräumt, dass historische Erkenntnis nicht denselben Gewissheitsgrad wie Mathematik und Naturwissenschaften erreichen könne, so bemüht er sich doch um ein möglichst hohes Maß an »Wahrscheinlichkeit«, indem er die »Tatsachen« mit Hilfe historischer Quellen überprüft und die Ereignisse aus »natürlichen Ursachen« erklärt. Von den Kenntnissen vergangener Geschichte verspricht er sich einen Nutzen für die gegenwärtige Lebenspraxis.
Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts entstehen im Kontext der Philosophie zunehmend Schriften, welche die Geschichte zu einem eigenen Thema machen. Dabei löst sich die Philosophie der Geschichte allmählich von der Geschichtsschreibung. Waren die philosophischen Reflexionen bisher in historiographischen Werken verstreut oder auf deren Einleitungen beschränkt, werden erstmals auch Texte mit einem Überblick über die Geschichte im Ganzen oder zu allgemeinen Themen publiziert. Aus solchen Entwürfen entwickelt sich ein neues philosophisches Feld, innerhalb dessen ein Problem kontinuierlich bearbeitet wird. Im Laufe der Zeit spannt sich ein gemeinsamer theoretischer Bogen von der Aufklärung bis Hegel.
Säkularisierung und Weltgeschichte
Ein wesentliches Merkmal der Geschichtsphilosophie ist die Säkularisierung. Der Prozess der Verweltlichung ist typisch für die europäische Aufklärung insgesamt, in der einerseits Kritik am dogmatischen Christentum, insbesondere an der katholischen Kirche, geübt und andererseits der Aufbau eines eigenen Weltbildes angestrebt wird, zu dem jetzt auch das neue Thema Geschichte gehört. Diese Definition widerspricht einem verbreiteten Begriff der Säkularisierung, nach dem die Geschichtsphilosophie nichts anderes als eine Heilsgeschichte in weltlichem Gewand und damit letztlich gescheitert sei. (Löwith) Es wird zu zeigen sein, dass die Aufklärer von spezifisch modernen Problemen ausgegangen und zu deren Lösung eigenständige theoretische Ansätze entwickelt haben.
Voltaire versteht seinen Versuch über die Universalgeschichte und über die Sitten und den Geist der Völker (1756) als Gegenprogramm zur christlich-theologischen Universalgeschichte (1681) von Jacques Bénigne Bossuet (1627-1704). Der mittelalterlichen Tradition folgend hatte Bossuet die Historie in eine »heilige« und eine »profane« Geschichte aufgeteilt, wobei die Heilsgeschichte den Vorrang hatte und die Geschichte der irdischen Welt dem Heilsplan der göttlichen »Vorsehung« unterworfen war. Demgegenüber behandelt Voltaire ausschließlich die profane Geschichte, die er als die eine Geschichte schlechthin begreift.
Dieser weltliche Zugriff führt auch zu neuen Inhalten. An die Stelle der göttlichen »Reiche« treten historische Epochen der aufgeklärten Zivilisation. Anstelle von Staatsaktionen möchte Voltaire die Geschichte von Handel, Industrie und Wissenschaft darstellen. Damit verlagert sich das Interesse von einzelnen Begebenheiten auf gesellschaftliche Zustände, von der Ereignisgeschichte zur Strukturgeschichte.
Dahinter steht die Überzeugung, die zivilisatorischen Errungenschaften seien Resultate des »menschlichen Geistes«. Das bedeutet nichts Geringeres als die Behauptung: Die Geschichte wird von den Menschen ›gemacht‹. Der Mensch ist ›Werkmeister‹ seiner eigenen Geschichte. Emphatischer kann man den Anspruch der säkularisierten Moderne nicht formulieren. Doch wird sich zeigen, welche neuen Probleme dadurch entstehen.
Der Prozess der Säkularisierung ist eng mit dem Begriff der Weltgeschichte verbunden. Während frühere Entwürfe einem einzelnen Ereignis wie dem Leben Christi eine weltgeschichtliche Bedeutung zuschrieben, wird seit dem 18. Jahrhundert die Universalgeschichte zu einem global erfahrbaren Prozess. Im Zuge kolonialer Entdeckungen und Eroberungen geraten auch außereuropäische Länder wie China, Indien und Amerika in den Blick. Die neue Idee der Weltgeschichte setzt nun ausdrücklich die Vielheit der Kulturen voraus, die inzwischen konkret untersucht, miteinander verglichen und gewürdigt werden. Trotz berechtigter Kritik am eurozentristischen Standpunkt darf nicht übersehen werden, dass sich die Aufklärung zum ersten Mal darum bemüht, die vielen Kulturen des ganzen Erdballs in ein Gesamtkonzept zu integrieren.
Darüber hinaus entwickeln einige Geschichtsphilosophen den Begriff einer realen Weltgeschichte. Demnach besteht die Einheit der ganzen Geschichte nicht allein in der ›Idee‹ des Historikers oder Philosophen; vielmehr entsteht im 18. Jahrhundert die Einsicht, dass sich die Weltgeschichte als praktischer Handlungszusammenhang herauszubilden beginnt: als Kooperation durch wachsenden Handel und Verkehr, aber auch als wechselseitige Zerstörung durch Raubzüge und Kriege.
Chronologie und Geschichte
Der räumlichen Entgrenzung der Geschichte entspricht eine Ausdehnung der Zeit. Durch das Interesse an frühen Hochkulturen wie z.B. Ägypten und Babylonien, die schon vor dem Judentum existierten, werden die Anfänge der Menschheitsgeschichte so weit vorverlegt, bis sie sich im Ungewissen verlieren. Dadurch wird auch die Chronologie der Bibel in Frage gestellt. Folgte Bossuet allein der biblischen Zeitrechnung, stellt sich im 18. Jahrhundert die Aufgabe, die Chronologien des Alten Testaments mit den historischen Quellen der ägyptischen, griechischen und römischen Antike und sogar mit denen des Orients und Chinas zu vereinheitlichen. Durch die profane Ordnung verliert die Geschichte ihren Anfang und ihr Ende; sie wird ein nach beiden Seiten offener Prozess. Die Geschichte wird auf diese Weise entfristet. (vgl. Marquard 1993, 364 f.)
Mit den neuen Themen Wissenschaft, Technik und Gesellschaft löst sich die Geschichte schließlich von der Chronologie überhaupt ab. Die Geschichte erhält ihre eigene Zeit, die sich am Rhythmus eines von den Menschen hergestellten und sich beschleunigenden Zivilisationsprozesses orientiert. Dem entspricht die Perspektive des Fortschritts (Koselleck 1975a), der – wie schon der Geschichtsbegriff – zum Kollektivsingular wird.
Vernunft und Geschichte
Mit den »Fortschritten des menschlichen Geistes« verbindet sich der Anspruch auf eine Vernunft, die nun auch auf den Inhalt der Geschichte übergreift. Denn wenn behauptet wird, die Menschen machten »Fortschritte«, ist auch gemeint, sie entwickelten dabei ihre Vernunft. Das führt zu der Auffassung, letztlich setze sich die Vernunft in der Geschichte durch. Damit wird die Vernunft der einzelnen Individuen auf die Geschichte im Ganzen übertragen. In einem schwächeren Sinn bedeutet dies, dass die Idee der Vernunft vorauszusetzen ist, um die Geschichte überhaupt als einen wie auch immer bewerteten Sinnzusammenhang interpretieren zu können. Andernfalls handelte es sich nur um ein Gewirr von Ereignissen, das sich jeder Deutung entzöge.
In der Vernunftidee kulminiert die Geschichtsphilosophie von der...