I. DIE AUSSENSEITERIN: EINE KINDHEIT IN BERLIN
1901 bis 1914
Sie sitzt auf einer der hinteren Bänke in dem großen Klassenzimmer der Auguste-Viktoria-Schule in der Nürnberger Straße 63. Eine der typischen Schulkasernen der Kaiserzeit mit schweren Türen, vier Meter hohen Räumen und langen, dunklen Fluren, die Kinder einschüchtern. Reine Mädchenschule selbstverständlich, eröffnet 1901, im Jahr ihrer Geburt, in Charlottenburg bei Berlin.
Das Mädchen auf einer der hinteren Bänke heißt Marie Magdalene Dietrich, nicht Maria Magdalena; sie ist etwas Besonderes, sagt dieser Name. Ganz aufrecht sitzt sie da, die glänzend polierten weißen Stiefeletten eng geschnürt, das Kleid mit gestärktem weißem Kragen frisch gebügelt, auf dem Kopf eine große Taftschleife. Ein Fleck auf der Kleidung oder gar ein Loch irgendwo wäre in den Augen ihrer Mutter eine öffentliche Blamage.
Eigentlich müsste Marie Magdalene von allen gemocht werden. Von den Lehrerinnen, weil ihre Leistungen gut sind, vor allem in Englisch, Französisch und Musik, und weil sie beste Manieren hat. Von den Mitschülerinnen, weil sie jede abschreiben lässt und keine verpetzt, die sie ärgert. Sie müsste sich auch selbst mögen. Ihre Haut ist weiß, ungewöhnlich leuchtend weiß und glatt. Ihre dunkelblonden Locken schimmern rötlich, ihr Gesicht ist zum Nachmessen symmetrisch, die Stirn hoch und rund, ihre Stimme angenehm. Ihre Arme und Hände sind weich und rundlich, die Augen tiefblau. Sie kann sich gut bewegen, auf Haltung wird daheim geachtet, und seit sie fünf Jahre alt ist, bekommt sie private Turnstunden. Ihre Mutter macht keinen Hehl daraus, dass ihr die jüngere ihrer beiden Töchter mehr bedeutet, schon weil die dem Vater Louis Dietrich ähnlicher sieht, und den hat sie mit einundzwanzig geheiratet, weil er ihr gefiel, nur deswegen.
Josephine Dietrichs zweite Tochter wäre gern ein Sohn, auch wenn sie Schleifen und Rüschen liebt; ihre Mutter geht darauf ein. Sie bringt ihr zwar bei, was nur Mädchen lernen müssen, damit sie später ihre Dienstboten beaufsichtigen können: Nähen, Stoffservietten richtig falten, die Perserteppiche mit Schwarztee reinigen, Gugelhupf backen, Tisch decken, alltags mit dem Hutschenreuther, feiertags mit dem Meißener Porzellan, Silber putzen, die Kristallgläser polieren, die Bücher in der Bibliothek mit einem weichen Pinsel abstauben. Aber sie lässt zu, dass Marie Magdalene mit den älteren Jungen aus dem Haus spielt, Karl Mays Winnetou-Romane verschlingt, dass sie Indianer sein und Paul genannt werden will. Manchmal spricht die Mutter den Namen französisch aus, deshalb schreibt sie ihn Pol oder Polchen.
Josephine Dietrich will perfekt sein, und auch ihr Haushalt ist tadellos. Da gibt es eine Gouvernante und ein Dienstmädchen und regelmäßig Einladungen für Gäste. Ihren Töchtern finanziert sie Französisch-, Englisch- und Musikunterricht. Marie Magdalene übt Klavier und Geige und hatte schon vor der Schule lesen und schreiben gelernt. Nicht mit irgendeiner Fibel, sondern mithilfe eines Gedichts von Ferdinand Freiligrath, das gerahmt und verglast im Salon hängt. Grammatik und Logik hält Josephine Dietrich für so unverzichtbar wie Abhärtung mit kalten Bädern.
Der Tagesablauf der beiden Töchter ist lückenlos durchgeplant von morgens früh bis abends. Marie Magdalene hat ihn sich aufgeschrieben, obwohl sie ihn auswendig weiß:
8.00–13.00 Schule
13.30–14.00 Mittagessen
14.00–15.00 Schularbeiten
15.00–18.30 Spazierengehen, Musik, Turnen
18.30–19.30 Schularbeiten
19.30–20.00 Abendbrot
20.30 Bettzeit
Aber irgendetwas stimmt nicht. Marie Magdalene hat keine Freundinnen, nicht eine einzige. Sie fühlt sich wie in einer für sie reservierten Zelle und behauptet, es komme daher, dass sie die Jüngste in der Klasse ist; sie war erst sechs Jahre und drei Monate alt, als sie nach Ostern eingeschult wurde. Doch sie weiß, dass das alleine nicht der Grund ist. Jungen, die für sie schwärmen, gibt es genug. Die Schwester Elisabeth, fast zwei Jahre vor Marie Magdalene geboren, ist als Freundin ungeeignet; ihr traut Marie Magdalene nicht. Elisabeth, Liesel gerufen, ist die Zukurzgekommene und spürt das. Klaglos räumt sie hinter der Kleinen drein und nennt sie Pussycat.
Josephine Dietrich ist streng und hat längst bemerkt, dass sie ein Auge auf die jüngere Tochter haben muss. Ihre ältere hat sie zur Aufpasserin ernannt und erwartet, dass die ihr Bericht erstattet. Beide Töchter haben Angst vor dieser Mutter mit ihrer dröhnenden Stimme und ihren eisernen Prinzipien. Als Freundin scheidet die Mutter also ebenfalls aus. Tante Valeska, Vally genannt, ist anscheinend aufgefallen, dass Marie Magdalene jemanden braucht, dem sie ihre Geheimnisse anvertrauen kann. Valeska von Losch, keine fünfzehn Jahre älter als Marie Magdalene, ist streng genommen keine Tante. Sie ist die jüngste Schwester von Louis Dietrichs bestem Freund Eduard von Losch, acht Jahre jünger als Louis, aber schnell avanciert beim Militär. Die dritte Schwester des Hauptmanns von Losch ist für Marie Magdalene der Inbegriff mondäner Eleganz, jeder Besuch von ihr ein Fest und jedes Geschenk ein Schatz. Zu Ostern 1912 schenkt sie der jüngeren Dietrich-Tochter ein kleines abschließbares Tagebuch, in rotes marokkanisches Leder gebunden. Marie Magdalene gibt ihm einen Namen: Rotchen. Sie spricht mit ihm wie mit der besten Freundin. Dass es die nicht gibt, macht ihr die Mutter zum Vorwurf. Marie Magdalene findet das ungerecht. […] ma maman hat mir natürlich ’ne Rede gehalten über Freundinnen. Was kann ich dafür, dass ich keine Freundinnen habe. […] Also mit den Freundinnen in der Klasse, ich sitz doch nu bei den Juden u. maman sagt, ich soll mir einen isolierten Platz geben lassen.
Es leben 130.000 Juden im Großraum Berlin, die ärmsten dicht gedrängt im Scheunenviertel, die vermögenden in Charlottenburg oder in der Nähe des Tiergartens. Aber für Josephine Dietrich gehören sie dennoch zu einer anderen Gesellschaft. Unter ihren Freunden und Bekannten gibt es keine Juden. Sie teilt die Menschen so strikt ein wie den Alltag ihrer Töchter.
Es sind die Mädchen, die Marie Magdalene nicht mögen. Die Jungen schwärmen schon für sie, seit sie zehn ist. Auf der Eisbahn war es sehr schön. Ich bin hingefallen, da kamen gleich ’ne Menge Bengels an. Adieu fürs Erste, süßes Rotchen. Viele Küsse […]. Da war sie gerade zwölf. Marie Magdalene genießt es, begehrt zu werden, was die Schwester nicht mitbekommen darf. Liesel ist immer so furchtbar anständig. Manche der Verehrer sind offenbar übergriffig. Aber Marie Magdalene scheint das nicht unangenehm zu sein. Nachdem sie mit einem gewissen Herrn Schultz einen Ausflug an die Ostsee gemacht hat, in den Saatwinkel, vertraut sie ihrem Tagebuch an: Ich habe auf seinem Schoß gesessen. Liebes Rotchen, du kannst dir nicht denken, wie wunderbar es war. Am 17. Januar 1914 offenbart Marie Magdalene, gerade erst dreizehn geworden, der stummen Freundin: Auf der Eisbahn spielen sie jetzt immer: «Die Männer sind alle Verbrecher», stimmt, ausgenommen gewisse Leute (Losch, Papa, Onkel Willy) u. denn vielleicht noch jemand mit F. S.? Na, ich will jetzt nicht ausschreiben, es könnte mal jemand aufschließen.
Sie ist ungewöhnlich misstrauisch und vorsichtig für ein Kind, das geliebt, von manchen Tanten vergöttert und von der reichen Großmutter Felsing verwöhnt wird. Früh hat sie gelernt zu verschweigen und zu verheimlichen, was die Mutter nicht duldet. Das ist aus deren Sicht bereits eine Form der Lüge. Marie Magdalene weiß, dass sie anders ist als Liesel, als die Klassenkameradinnen, als die übrigen Mädchen auf der Straße, auf der Eisbahn. Von denen wird sie geärgert, auch provoziert. Heute hat mir Steffi Berliner mindestens sechsmal die Mütze heruntergerissen, na, und ich bin böse. Ich hab’ nun schon einen Tadel und fünf Rügen, ich hoffe stark, noch gut zu bringen in Betragen […]
Wie jedes Kind verunsichert es Marie Magdalene, dass sie ausgestoßen ist, nicht angenommen wird. Aber sie ist überzeugt, dass ihr Verhalten nicht der Grund dafür ist. Es muss daran liegen, dass die Normalen das Besondere nicht mögen. Sie zieht sich anders an, sie benimmt sich distanziert. Also wird sie jedem zeigen, dass sie gerne anders und besonders ist. Während die Lehrerin über Goethes Iphigenie auf Tauris spricht, Iphigenie, die gegen die Konventionen verstößt und damit Größe zeigt, macht sich Marie Magdalene dazu mit dem Füller Notizen in ihrem Schulheft. Aber es...