Einleitung
Am Dienstag, dem 13., und Montag, dem 19. Juni 1911, machten sich in Dörfern, kleinen und großen Städten überall im kaiserlichen Österreich mehr als viereinhalb Millionen Wähler auf, um ihre Stimmen für ein neues Parlament abzugeben.[1] In den einzelnen Stimmbezirken wurden erbitterte Wahlkämpfe ausgetragen, und Agitatoren der verschiedenen Parteien bemühten sich bis zur letzten Minute, ihre Wähler zum Gang an die Urnen zu bewegen. Von Vorarlberg bis zur Bukowina, von Prag bis Dubrovnik prägten in den Wochen vor der Wahl Parteikundgebungen und pathetische Bekanntmachungen politischer Programme das öffentliche Leben. Die Bürger wurden mit Flugblättern überschwemmt, und die Zeitungen veröffentlichten geistreiche Satiren.[2]
Parteizeitungen drängten Leser, die das noch nicht erledigt hatten, schleunigst die zuständige Amtsstelle in ihrem Ort aufzusuchen, wo sie sich gegen Vorlage eines offiziellen Ausweises ihre Wahllegitimation aushändigen lassen konnten. Diese sollten sie auch nach der Stimmabgabe weiter bereithalten für den Fall, dass es in ihrem Kreis zu einer Stichwahl kommen sollte. Parteiübergreifend wurde vor Störmanövern gewarnt, die die jeweiligen Gegner in letzter Minute aushecken könnten. Christsoziale Zeitungen in Graz baten ihre Wahlhelfer inständig, in allen Straßen und Wohnvierteln ihres Bezirks weiterhin für ihre Partei zu werben, bis die Wahlen abgeschlossen sein würden. In Czernowitz (Cernăuţi/Černivci) riefen die bürgerlichen deutschen, rumänischen, ukrainischen und polnischen nationalistischen Parteien ihre Wählergemeinschaften auf, dafür zu sorgen, dass der bisherige Abgeordnete, ein Sozialist, die Stadt nicht wieder im Reichsrat vertreten würde. In Pettau (Ptuj) appellierte die slowenischsprachige Zeitung Stajerc in einem «Wähler! Bauern, Arbeiter und Handwerker» überschriebenen Aufruf an ihre Leser, sich vereint hinter die von dem Blatt unterstützten Kandidaten für die Südsteiermark zu stellen.[3]
Prognostiker und Kandidaten übertreiben bei jeder Wahl gerne deren politische Bedeutung. Rückblickend mag es bei dieser Wahl im Jahr 1911 nicht um außergewöhnlich viel gegangen sein, doch sowohl der hohe Grad an emotionaler Anteilnahme, der in regionalen Zeitungen zum Ausdruck kam, als auch die hohe Wahlbeteiligung zeigen, dass die Wähler ihrem Votum große Bedeutung beimaßen. Eine sozialdemokratische Zeitung fing ein, was viele mit dieser Wahl verbanden, als sie verkündete: «Wenn Ihr Euren Wahlzettel in die Urne werft, entscheidet Ihr über Eure eigene Zukunft.»[4]
Als die Österreicher zu den Wahllokalen strömten, um über ihre eigene Zukunft zu entscheiden, waren sie sich bewusst, dass sie auch über die Zukunft ihres Reiches entschieden. Und einige von ihnen zahlten sogar den allerhöchsten Preis, um ihren Entschluss zu wählen in die Tat umsetzen zu können, wie schockierte Leser überall in der Monarchie am 20. Juni, dem Tag nach der Wahl, aus der Zeitung erfuhren. Am Vortag war es in der galizischen Ölförderstadt Drohobytsch (Drohobycz) zu einem Massaker gekommen.[5] Eine große Schar jüdischer und ruthenisch- beziehungsweise ukrainischsprachiger Galizier war auf dem Marktplatz zusammengekommen, fest entschlossen, am Ende eines erbittert geführten Wahlkampfs von ihrem Recht auf Mitbestimmung über ihre Vertretung im Reichsrat Gebrauch zu machen. Viele fürchteten nicht ohne Grund, dass die örtlichen Behörden versuchen würden, die Ergebnisse zugunsten des amtierenden Abgeordneten Nathan Löwenstein zu manipulieren und sie davon abzuhalten, für ihren Kandidaten, den Zionisten Gershon Zipper, zu stimmen. Ersterer war der Kandidat der jüdischen Drahtzieher von Drohobych und der im Polenklub zusammengeschlossenen konservativen Eliten, die de facto über das Kronland Galizien herrschten.
Für diese Wahl hatten die Stadtoberen ein einziges Wahllokal für potenziell mehr als 8000 Stimmberechtigte eingerichtet. Am Wahltag hinderte die Polizei des Ortes alle, die nicht als Anhänger Löwensteins bekannt waren, daran, den Raum zu betreten. Mehrfach zerstreuten berittene Gendarmen unruhige Menschentrauben, die sich immer wieder vor dem Wahllokal versammelten, und trieben sie weg. Anstatt wie erhofft gute Geschäfte mit einer festlich gestimmten Schar von Wählern zu machen, mussten Ladenbesitzer erleben, dass die immer gereizter werdende Menge ihnen die Schaufensterscheiben einwarf und weitere Schäden verursachte. Am Nachmittag befahlen die Stadtoberen den Soldaten, die man aus der Garnison Rzeszow bei der Festung Przemyśl herbeigeholt hatte, das Feuer auf die Aufsässigen zu eröffnen. Sechsundzwanzig Menschen blieben tot auf dem Platz zurück, darunter auch Alte, Frauen und Kinder. Untersuchungen ergaben, dass die meisten von ihnen in den Rücken getroffen worden waren, was vermuten ließ, dass sie vor den Soldaten geflohen waren.
Diese aufwühlende Geschichte zeigt, zu welch extremen Maßnahmen örtliche Machthaber bereit waren, um in einer Zeit, in der die Staatsbürger sich erstmals in großer Zahl an Wahlen beteiligen konnten, an der Herrschaft zu bleiben. Sie dokumentiert aber auch, wie stark die Einwohner einer weit von Wien und Budapest entfernt gelegenen Industriestadt sich politisch und emotional mit dem Reich, in dem sie lebten, identifizierten. Es war erst die zweite Wahl, die seit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer im Jahr 1907 stattfand, und die dritte, die seit der Ausdehnung des Stimmrechts auch auf männliche Untertanen ohne Besitz im Jahr 1896 abgehalten wurde. Genau aus diesem Grund sahen die Menschen das hart erkämpfte Wahlrecht als so bedeutsam für ihr zukünftiges Leben an. Was die Durchführung von Wahlen betraf, hatte das Kronland Galizen einen schlechten Ruf, denn es war dort immer wieder zu Manipulationen gekommen. Die Einwohner von Drohobytsch wussten sehr gut, dass die Männer, die die Geschicke ihrer Stadt bestimmten, zu allen denkbaren Schikanen und Fälschungen bereit waren, um das Ergebnis der Abstimmung zu ihren Gunsten zu beeinflussen.[6] Dennoch war die ethnisch, religiös und sprachlich so bunt zusammengesetzte Arbeiterschaft der Stadt entschlossen, den Kandidaten, auf den man sich geeinigt hatte, ins Parlament zu hieven. Dass sich Zionisten und ruthenische Bauern verbündeten, mag uns heute merkwürdig erscheinen, da wir sonst meist lesen, dass sich im Habsburgerreich nationale oder religiöse Gruppen erbittert gegenüberstanden. In diesem Fall lag aber beiden Gruppen die Zusammensetzung des Reichsrats im weit entfernten Wien sehr am Herzen, und das, obwohl diese Institution viel weniger Einfluss auf ihr Leben hatte als die Regierung des Kronlands Galizien, deren Sitz in Lemberg (Lwów, Lwiw) war. Warum war an jenem Tag jedermann in Drohobytsch von der großen Bedeutung der Wahlen überzeugt? Was verrät uns das über den Stellenwert des Habsburgerreichs und seiner Institutionen im Leben der Untertanen?
Für viele Österreicher war das Reich eine alternative Quelle symbolischer und realer Macht, die vielleicht die Macht der einzelnen örtlichen Eliten nicht übertraf, sich aber zumindest mäßigend auf sie auswirken konnte. Als zionistische und ruthenische politische Führer vor dem Innenminister über die gesetzeswidrige Durchführung der Wahl klagten, gewährte Wien ihnen ein gewisses Maß an juristischer Unterstützung. Allerdings konnte man die grundsätzliche Ungerechtigkeit der örtlichen politischen Verhältnisse nicht beseitigen. Am 19. Juni 1911 setzten die Menschen in Drohobytsch das Wahlrecht, das sie als Bürger der Monarchie besaßen, als – in ihrer Wirkung begrenzte – Waffe gegen diejenigen ein, die sie als ihre lokalen Unterdrücker ansahen.
Die Parlamentswahlen hatten für die Menschen überall im Reich immense kulturelle und soziale Bedeutung. Zwar waren nur männliche Untertanen über vierundzwanzig Jahre wahlberechtigt, doch dass unter den Todesopfern in Drohobytsch auch Frauen und Kinder waren, zeigt, in welchem Maß an jenem Tag das Geschick des ganzen Reiches jedermann am Herzen lag. Die Beschränkung des Wahlrechts auf Männer konnte Frauen, Jugendliche und sogar Kinder kaum davon abhalten, an diesem politischen, kulturellen, staatsbürgerlichen Ritual teilzunehmen, das häufig feierlich zelebriert wurde, Tausende von Menschen an einem Ort vereinte und ihre Gemeinde mit dem Rest des Reiches verband.
Eine Untersuchung der turbulenten Ereignisse vom Juni 1911 in den Dörfern und Städten des österreichischen Teils des Reiches oder Cisleithaniens, wie er auch genannt wurde, würde zeigen, dass sozial, religiös und oft auch sprachlich ähnlich heterogene Gruppen wie in Drohobytsch ihren Willen geltend machten, um die Zukunft...