Vorwort
Dieses Buch zeigt, wie der erwachte Geist arbeitet. Es enthält aber auch die Reaktion Byron Katies auf das Tao Te King, den großen Klassiker der chinesischen Literatur, der vielfach als das klügste Buch aller Zeiten bezeichnet wurde …
Vielleicht hat Laotse, der Autor des Tao Te King, tatsächlich im 6. Jahrhundert v. Chr. gelebt, möglicherweise handelt es sich aber auch um eine frei erfundene Gestalt. Ich stelle ihn mir gern in verschlissenen Gewändern vor, als alten Mann mit dünnem Bärtchen, der viel Zeit in entrücktem Schweigen verbringt, stets für die Menschen da ist und gelassen die unzähligen Arten und Weisen betrachtet, wie sie sich unglücklich machen. In vielen Kapiteln des Tao Te King erscheint Laotse selbst in der Gestalt des »Meisters«, des gereiften Menschen, der Weisheit und Heiligkeit hinter sich gelassen und zu einer geistigen Klarheit gefunden hat, welche die Welt einschließt und sie erlöst. Der Meister hat nichts Mystisches oder Überhebliches an sich. Er (oder sie) ist einfach ein Mensch, der die Wirklichkeit von seinen Gedanken über die Wirklichkeit zu unterscheiden weiß. Er kann Mechaniker, Volksschullehrer, Präsident einer Bank oder obdachlos sein und auf der Straße leben. Er ist wie alle anderen Menschen, nur glaubt er nicht mehr, dass die Dinge in diesem Augenblick anders sein sollten, als sie sind. Deshalb fühlt er sich unabhängig von den Umständen auf der Welt zu Hause, handelt ohne jede Mühe, bewahrt sich – ganz gleich, was geschieht – ein unbeschwertes Herz und ist zu sich und allen anderen freundlich, ohne sich darum zu bemühen. Er ist wie Sie, wenn Sie Ihren Gedanken mit Verständnis begegnen.
Lassen Sie mich ein paar Worte zur Autorin dieses Buches sagen. Als Byron Kathleen Reid (alle rufen sie »Katie«) Anfang dreißig war, litt sie unter starken Depressionen. Sie war Geschäftsfrau und Mutter und lebte in einer kleinen Stadt in der südkalifornischen Wüste. Fast zehn Jahre lang dauerte ihr Abstieg in Paranoia, Wut, Selbsthass und ständige Suizidgedanken; in den letzten beiden Jahren war sie oft nicht mehr in der Lage, das Bett zu verlassen. Im Februar 1986 kam ihr eines Morgens aus heiterem Himmel eine lebensverändernde Erkenntnis. Die buddhistischen und hinduistischen Traditionen kennen verschiedene Bezeichnungen für derartige Erfahrungen. Katie nennt es ein »Erwachen zur Wirklichkeit«. In jenem Augenblick der »Nicht-Zeit«, so sagt sie,
»entdeckte ich, dass ich litt, wenn ich meine Gedanken glaubte, und nicht litt, wenn ich sie nicht glaubte, und dass das für alle Menschen galt. So einfach ist es, frei zu sein. Ich fand heraus, dass wir nicht leiden müssen. Ich entdeckte eine Freude in mir, die mich nie mehr verlassen hat, nicht einmal für einen winzigen Augenblick. Diese Freude ist in allen Menschen. Allezeit.«
Bald darauf gab es Gerüchte über eine »erleuchtete Dame« in Barstow, und die Menschen suchten sie auf und fragten sie, wie sie dieselbe Freiheit finden konnten, die sie in ihr erstrahlen sahen. Katie kam zu der Überzeugung, dass diese Menschen – wenn überhaupt – nicht ihre persönliche Gegenwart brauchten, sondern eine Möglichkeit, selbst herauszufinden, was sie erkannt hatte. Katies Methode der Selbstbefragung, die sie »The Work« nennt, fasst die stumme Überprüfung in Worte, die an jenem Februarmorgen in ihr erwacht war. Es ist eine einfache, aber wirkungsvolle Technik, für die man lediglich Papier, einen Stift und geistige Offenheit benötigt. Als Berichte über den erstaunlichen Wandel die Runde machten, den Menschen dank The Work erlebten, wurde Katie gebeten, ihre Methode zunächst auch andernorts in Kalifornien, dann in den gesamten Vereinigten Staaten und schließlich in Europa und auf der ganzen Welt vorzustellen. Sie ist nun seit fünfzehn Jahren – manchmal ohne Pause – unterwegs, um vielen hunderttausend Menschen The Work nahezubringen, bei kostenlosen öffentlichen Veranstaltungen, in Gefängnissen, Krankenhäusern, Kirchen, Unternehmen, Frauenhäusern, Universitäten und Schulen, im Rahmen von Wochenendseminaren und bei ihrer neuntägigen School for The Work.
Katie weiß nicht viel über die Klassiker der spirituellen Literatur. Vom Tao Te King erfuhr sie erst durch mich. Aber sie kennt sich aus mit Freude und Gelassenheit, und sie weiß um den menschlichen Geist: wie er uns unglücklich macht und wie wir ihn dazu einsetzen können, uns zu befreien. Für sie ist Laotse ein Kollege. Jemand, der dieselbe Arbeit macht. Jemand, mit dem man sich gern unterhält. Dass er tot ist, spielt keine Rolle. Dieses Buch ist die Zusammenfassung jener hochinteressanten Unterhaltung. Im Aufbau gleicht es dem Tao Te King, es zeigt die Variationen zu einem Thema und stellt dieselbe Grunderkenntnis auf die verschiedensten Arten und Weisen sowie anhand unterschiedlicher Zusammenhänge dar.
So ist dieses Buch entstanden: Als ich Katie zum ersten Mal begegnete, war ich tief beeindruckt von der Offenheit ihres Herzens und ihrer Weisheit, die wie eine Art Transparenz auf mich wirkte. Sie war vollkommen unschuldig: Sie wusste nichts über Buddhismus, Taoismus oder andere spirituelle Traditionen, hatte nichts darüber gelesen. Sie konnte sich »nur« auf ihre eigene Erfahrung berufen. Und dennoch sprudelten aus ihrem Mund die herrlichsten Erkenntnisse, wie sie manchmal ganz genau so in einem Sutra oder den Upanischaden standen; und sie hatte gar keine Ahnung, dass ein anderer sie vor ihr gehabt hatte. Zu Beginn unserer Ehe las ich ihr – zum Teil aus Neugier – aus den Werken der großen spirituellen Lehrmeister vor: aus den Werken Laotses, Buddhas, der Zen-Meister, Spinozas und anderer (sie nennt sie »deine toten Freunde«). Katie hörte sich an, was sie zu sagen hatten, und manchmal nickte sie oder sprach: »Das ist richtig.« Oder: »Ja, genau so ist es!« Gelegentlich sagte sie zu meiner Überraschung: »Das stimmt im Großen und Ganzen, aber es trifft es nicht ganz. Ich würde das so … sagen.«
Schließlich las ich ihr meine Version des Tao Te King vor, alle 81 Kapitel, und schrieb ihre Kommentare auf. Sie waren das Rohmaterial für dieses Buch. Wenn ich nachfragte, sagte sie manchmal zu jeder Zeile etwas. Oft beschäftigte sie sich nur mit einem Absatz oder zog lediglich ein paar Zeilen näher in Betracht. (Den einzelnen Kapiteln dieses Buches sind die Zitate aus dem Tao Te King vorangestellt, die den stärksten Bezug zu ihren Worten haben.) Manchmal bat ich sie auch, genauer auf bestimmte Textstellen einzugehen, mehr dazu zu sagen, oder ich wies sie in eine Richtung, die mir besonders hilfreich erschien. Zuweilen konnte sie mit einer Frage nichts anfangen, und dann fühlte ich mich, als fragte ich einen Fisch, wie es sei, im Wasser zu leben. So stammen etwa die Beispiele für »schön« und »hässlich« in Kapitel zwei von mir, da ich Mozart verehre und Rap noch nicht zu schätzen weiß. Meine ausgeprägten Vorlieben und Abneigungen sind eine große Hilfe. Sie liefern Katie einen Bezugspunkt für gedankliche Konzepte wie »Lärm«, die es in ihrer Erfahrungswelt nicht gibt.
Bei unserem ersten Gespräch über den Text fragte mich Katie nach der Bedeutung von »Tao«. Ich sagte ihr, dass die wörtliche Übersetzung »Weg« laute und es eine Bezeichnung für die höchste Wirklichkeit sei – oder mit ihren Worten: für das, was ist. Sie war entzückt. »Aber«, sagte sie, »mit Vorstellungen wie ›höchste‹ kann ich nichts anfangen. Für mich ist die Wirklichkeit einfach. Es steckt nichts dahinter, es geht nichts darüber, sie birgt keine Geheimnisse. Wirklich ist, was sich vor dir befindet, was gerade geschieht. Wenn du dich mit der Wirklichkeit anlegst, verlierst du. Es tut weh, wenn man nicht liebt, was ist. Ich bin keine Masochistin mehr.«
Ich kenne das Tao Te King seit 1973 und besonders eingehend seit 1986, als ich meine eigene Version davon verfasste. Ich schätze es ebenso sehr wie alle anderen Bücher auf der Welt, habe ihm viel zu verdanken und kenne seine Kraft. (Ein Freund erzählte mir, er habe als junger Mann emotionale Probleme gehabt. Gerettet habe ihn, dass er meine Version des Tao Te King ein Jahr lang jeden Tag von vorn bis hinten durchgelesen habe – einschließlich der Kommentare.) Es ist wunderbar, wenn man entdeckt, dass es eine Art Leitfaden für die Kunst des Lebens gibt. Ein Buch, das so klug und so praktisch ist. Doch zu lesen, wie man im Einklang lebt mit dem, was ist, ja es überhaupt zu verstehen, ist das eine. Danach zu leben ist etwas völlig anderes. Auch das klügste Buch kann uns seine Weisheit nicht schenken. Nachdem wir die großen Erkenntnisse gelesen und genickt haben – »Gib die Kontrolle auf«, »Lebe ganz im Augenblick«, »Die Welt ist dein Spiegel«, »Lass los«, »Vertraue auf die Wirklichkeit« –, bleibt die Kernfrage bestehen: Wie soll das gehen? Wie lässt sich das lernen?
Katie hat zwei Bücher geschrieben, die zeigen, wie man dem Leiden ein Ende macht und die Gedanken überprüft, die es verursachen – die Gedanken, die der Wirklichkeit widersprechen. Niemand weiß, wie man loslässt, aber jeder kann lernen, belastende Vorstellungen zu prüfen. Wenn Sie etwa verärgert sind und es Ihnen unmöglich scheint, dieses Gefühl loszulassen, können Sie Gedanken prüfen wie »Ich bin nicht sicher«, »Das kann ich nicht«, »Sie hätte mich nicht verlassen dürfen«, »Ich bin zu dick«, »Ich brauche mehr Geld« oder »Das Leben ist nicht fair«. Nach der Selbstbefragung sind Sie ein anderer Mensch. Vielleicht unternehmen Sie etwas, vielleicht auch nicht, aber ganz gleich, wie Ihr Leben weitergeht, Sie werden mehr Zuversicht und Frieden haben. Und wenn sich Ihr Geist schließlich klärt, fängt das Leben allmählich an, durch Sie zu...