28.12.2015, Oslo: die alles entscheidende Frage
Wir sind spontan zwischen Weihnachten und Neujahr nach Oslo geschippert. Wir waren sowieso in Hamburg bei Jans Eltern zu Besuch, das Angebot war günstig und Oslo ist immer schön, sodass wir spontan los sind. Wie so oft, sind wir „mal eben schnell“ unterwegs, nichts Besonderes eigentlich. Doch diese kurze Alltagsflucht, diese spontane Kurzreise wird uns beiden für immer in Erinnerung bleiben. Sie legt den Grundstein für eine ganz besondere Reise: die Eisreise.
Am Abend des 28.12.2015 laufen wir durch das stimmungsvoll beleuchtete Oslo hoch zum Schloss. Die Aussicht von dem Hügel hinunter auf die weiß verschneite und weihnachtlich glitzernde Stadt ist hochromantisch und wunderschön. Als Jan plötzlich vor mir im Schnee auf die Knie fällt und fragt: „Willst du mich heiraten?“, halte ich es für einen Scherz. Jan und heiraten?
„Meinst du das ernst?“
Jan wiederholt seine Frage und zückt einen Ring, den er aus Alufolie gebastelt hat. Er meint es ernst. Und ich auch: Ja, ich will!
29.12.2015, Oslo: Eine verrückte Idee?
Der erste Morgen als Verlobte. Es geht zurück nach Deutschland, wir sitzen im Fährterminal und warten darauf, an Bord gelassen zu werden. Wer heiratet, braucht auch eine Hochzeitsreise, stellen wir fest. Doch wohin? Wir haben beide schon die Welt gesehen, irgendwie reizt uns zurzeit nichts wirklich. Eine Hochzeitsreise soll ja etwas ganz Besonderes sein. Wir können uns keine klassische Hochzeitsreise vorstellen, die Idee eines Urlaubes auf den Malediven oder an anderen weißen Sandstränden ist für uns abschreckend langweilig. Wir sind ratlos. Wohin sollen wir fahren? Brauchen wir überhaupt eine Hochzeitsreise? Doch, schon, überlegen wir. Das macht man ja so. Oder nicht?
Wir beobachten, wie die Autos an Bord der Fähre rollen, viele von ihnen verursachen rasselnde Geräusche, wenn ihre Reifen mit Spikes auf den Metallplanken abrollen. Jan war schon mal mit dem Motorrad und Spikes im Winter in Skandinavien. Irgendwann will ich auch mal mit einem Motorrad durch den Schnee pflügen. Habe ich das gerade laut gesagt? Plötzlich ist die Idee für die Hochzeitsreise da: Wir fahren mit Spikes im Schnee herum! Auf zwei Motorrädern! Bloß wo? Und wohin? Irgendwie fahren „alle“ Motorradfahrer ja ans Nordkap, mich jedoch hat es bislang nicht dorthin gezogen. Und genau das ist die Idee. Unsere Hochzeitsreise wird im Winter mit zwei Motorrädern auf Spikes ans Nordkap führen! Was zunächst nach verrückter Idee klingt, wird im Laufe des Tages zum festen Plan. Mit der Bekanntgabe unserer Verlobung werden wir auch den Plan für die Hochzeitsreise kundtun.
10.03.2016, Krefeld: Ein Fahrzeug muss her!
Die Hochzeitseinladungen sind gedruckt und verschickt, der Plan steht. Wir fahren diesen Winter ans Nordkap, die „offizielle Hochzeitsnacht“ soll im Eishotel bei Kiruna in Schweden stattfinden. Jan und ich sind erfahrene Winterfahrer, jeder kann auf viele tausend Winterkilometer auf zwei Rädern zurückblicken. Und jeder hat unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Und so hat auch jeder sein eigenes Fahrzeugkonzept. Wir haben die vergangenen Monate die Temperaturen entlang unserer anvisierten Reiseroute verfolgt und planen nun mit Tagestemperaturen bis zu -30 °C.
Jan vertraut seiner XT750Z Super Ténéré, ich bin der Meinung, das ist zu kalt für den Elektrostarter, ich möchte mit einem Kickstarter-Motorrad fahren. Davon habe ich zwar zwei in der Garage, doch ich erachte keine als tauglich: Die 32 Jahre alte Yamaha Ur-Ténéré XT600Z 34L ist noch im absoluten Originalzustand, ohne ein einziges Gramm Rost. Sie hat zwar Kickstarter, aber absolutes Schlechtwetter- und Winterverbot. Dann steht da noch meine Yamaha WR250F, die sogar über einen Elektro- und Kickstarter verfügt, doch die Idee, auf einer Dreckfräse mit 250 ccm bis zum Nordkap zu reisen, gefällt mir gar nicht: zu viel Arbeit, diese reinrassige Sportenduro zum Reisemotorrad umzubauen! Viel zu wenig Komfort! Wenn ich nur an die Sitzbank denke, die bei solchen Wettbewerbsfahrzeugen eher nur zum gelegentlichen Absetzen des Hinterteils, jedoch nicht wirklich zum Sitzen gedacht ist … Nein, ich habe kein passendes Fahrzeug im Stall.
Nach Wochen des Nachdenkens bin ich nun zu dem Entschluss gekommen: Es wird eine 23 Jahre alte Suzuki DR350S. Ihre 27 PS und 350 ccm sind zwar nicht wirklich spitzenmäßig, aber Motorcharakteristik und Sitzbank sind reisetauglich. Und einen E-Starter gab es damals noch gar nicht. Eine Freundin, Anke, verkauft mir ihre DR350 zu einem absolut fairen Preis und im zuverlässigen und ehrlichen Zustand. Ankes Motorrad wird das Hochzeitsreisefahrzeug!
Die kleine Suzuki braucht einen Namen. Ich poste ihr Foto auf Facebook und der britische Motorradreisende und Autor Graham Field, der gerade seine Kawasaki KLR „Zee Ben“ (KLR Nummer sieben) getauft hat, schlägt den Namen „Pet“ vor. Der Name passt: Pet bedeutet „fünf“ unter anderem auf Russisch, die kleine zarte Suzuki ist eindeutig ein Mädchen, süß wie ein Haustier (englisch: pet) und zufällig auch noch die fünfte Suzuki DR, die auf mich zugelassen wird und zurzeit sogar mein fünftes Motorrad in der Garage.
Somit stehen die Fahrzeuge fest: beide Motorräder Japaner, beide Motorräder über 20 Jahre alt. Kein Schnickschnack, sondern bewährte Technik. Pet hat kein Vermögen gekostet, für 1.650 € habe nun auch ich ein Eisreisemotorrad. Ob ich mit ihrem kleinen Motörchen und der fast nicht vorhandenen Leistung jedoch auch auf langer Strecke zufrieden bin, weiß ich noch nicht. Aber selbst, wenn nicht: Die Würfel sind gefallen: Pet reist ans Nordkap!
14.05.2016, Molzbichl, Kärnten: kleine Pet auf großer Fahrt
In drei Tagen habe ich Geburtstag, und während ich in den letzten sechs Wochen mit dem Zug in der Mongolei und Russland unterwegs war, hat Jan mir die kleine Pet aufgehübscht. Vor 17 Jahren hatte ich schon mal eine DR350, allerdings nicht zum Reisen, sondern für den ausschließlichen Einsatz im Gelände. Damals war eine DR350 eine Wettbewerbsenduro, die sogar Meistertitel einfuhr! Heute, in Zeiten von KTM EXC oder Yamahas WR-Modellen eigentlich unvorstellbar! Jan hat sich an einem Foto meiner ersten DR350 orientiert und auf dessen Basis Pet sehr ähnlich hergerichtet. Pets Verwandlung zu einem „Zwilling in Blau“ meiner verflossenen, damals gelben DR ist mein verfrühtes Geburtstagsgeschenk. Bei einer kurzen Probefahrt von der Garage nach Hause fühle ich mich um mindestens 17 Jahre jünger, Erinnerungen werden wach. Kurioserweise fahre ich bis heute noch mit derselben Jacke und denselben Handschuhen wie damals.
Die erste große Fahrt von Pet und mir steht an. Jan und ich möchten in den kommenden drei Wochen durch die Balkanländer reisen. Statt meiner BMW soll Pet mit, um zu zeigen, was sie kann. Die Route ist noch völlig unklar. Klar ist eigentlich nur, dass wir gestern schon losfahren wollten und heute mit einem Freund in 927 km Entfernung verabredet sind. Gestern addierten sich jedoch die Staus auf unserer Etappe zu einem Horrorszenario, sodass wir beschlossen hatten, erst heute früh zu starten. Wir sind es beide gewohnt, sehr lange Strecken on- wie offroad zurückzulegen, aber erst, als ich die kleine Pet im Hof stehen sehe, realisiere ich, heute 927 km mit 27 PS und nur 350 Kubik meistern zu müssen! Daran hatte ich gar nicht gedacht. Pet ist das kleinste Motorrad, was ich jemals auf Straße gefahren bin – und damit gleich 927 km nonstop? Es bleibt mir nichts anderes übrig. Pet springt an und wir rollen los.
Elf Stunden später kommen wir völlig entspannt in Kärnten an. Die kleine Pet hat mir gezeigt, dass sie auch das schafft. Und ich habe gemerkt, dass die neue Sitzbank zu meinem Hintern passt und Pets kleines Motörchen völlig ausreichend ist. Wir sind sogar geblitzt worden. Unglaublich, mit 27 PS! Pet hat die Prüfung bestanden, ich tätschele ihr über den Tank und gebe ihr einen Klaps aufs Heck. Wir zwei sind nun Freunde.
17.05.2016, Kotor, Montenegro: Pet beweist Größe
Es ist mein 40. Geburtstag und wir sind seit drei Tagen zu dritt unterwegs. Unser Freund Andreas, mit dem wir vor drei Tagen in Kärnten verabredet waren, ist mit einer R1200GS Adventure unterwegs. Eigentlich dachte ich nur an einen netten gemeinsamen Abend, aber am nächsten Morgen konnte er mich davon überzeugen, dass 100 PS und 850 ccm Unterschied kein Hindernis darstellen, um gemeinsam Spaß zu haben. Er hatte recht behalten. Pet und das Riesenschlachtschiff trennen zwar Welten, aber das Fahrtempo auf den kleinsten Straßen des Balkans ist gleich. Das findet auch die Polizei in Bosnien-Herzegowina, die Andreas und mich auf den sehr ungleichen Motorrädern wegen Raserei anhält. Jan auf seiner Suzuki DR650RSE, genannt „Oskar“, bleibt grinsend zurück, er fuhr ordentlich. Pet hat heute wieder mal bewiesen, dass es weder Leistung noch Hubraum braucht, um (zu) flott unterwegs zu sein. Hatte ich doch vor ein paar Tagen noch das moderne Fahrwerk meiner BMW oder WR vermisst, so habe ich mich nun daran gewöhnt, ein etwas weicheres und weniger straffes Motorrad zu fahren. Ich bin mir nun ganz sicher: Pet ist das perfekte Fahrzeug für die Fahrt zum Nordkap!
23.07.2016, Krefeld: Wir sagen Ja!
Wir feiern Hochzeit! Pet ist nicht dabei, aber wir sind in Gedanken schon ganz bei der Hochzeitsreise. Unsere Idee: Wir möchten keine Sachgeschenke zur Hochzeit, sondern finanzielle Unterstützung zur Verwirklichung der Hochzeitsreise. Unsere Philosophie: Unser gesamter Besitz muss in eine Garage passen! Jedes...