Das Verschwinden von Traum und Ekstase in der Kulturgeschichte
Torsten Passie
Einleitung
Will man verstehen, warum veränderte Zustände des Bewusstseins wie Traum, Trance und Ekstase einem lang währenden Prozess kultureller Ausgrenzung unterliegen, so ist man gehalten, den kulturgeschichtlichen Kontext zu skizzieren, in dem diese Ausgrenzung stattgefunden hat. Veränderte Bewusstseinszustände verweisen auf den verborgenen Bereich der inneren Welt und des Imaginären, deren Wahrnehmung sich seit den frühen Tagen der Menschheit stets mit der sinnlichen und kognitiven Wahrnehmung von Umwelt überlagert hat (GLOY 1995). Nicht zuletzt geht es in diesen Zuständen um ein verstärktes Gewahrsein des inneren Erlebens. Noch heute wird in vielen Kulturen das innere Erleben absichtlich rituell gesteigert; sei es durch Atemtechniken, Meditation, Fasten, Beten, Tanzen, Trommeln oder die Einnahme bestimmter Pflanzen.
Eine bedeutende Implikation ekstatischer Zustände ist es, dass sie – unter anderem – Erfahrungen einer Beseeltheit der Dinge und der Lebendigkeit der ganzen Schöpfung vermitteln. Die daraus tendenziell hervorgehende pantheistische Weltsicht ist mit den monotheistischen Religionen wie dem Christentum nicht vereinbar, ja steht ihnen sogar entgegen. Die von der Aufklärung und der Naturwissenschaft geprägte Moderne räumt dem Materiell-Realen, jenem dem Anschein nach Objektiven, absoluten Vorrang ein. Das dem Subjektiven zugerechnete innere Erleben wird dagegen weniger gewürdigt und in die Sphäre des Privaten verlagert, wenn nicht verbannt. Dies gilt insbesondere für den Bereich des Gefühlserlebens. Unser Fühlen trägt und leitet zwar unser alltägliches Leben und Erleben. Wir in den westlich geprägten Kulturkreisen tendieren dazu, das Fühlen von der rationalen Verstandeslogik abzukoppeln und unsere Gefühle oft als störenden Ballast oder beeinträchtigende Interferenzen einzuordnen. Auch weil Gefühle uns von der Welt der Gemeinschaft entfremden oder unser Ich verführen können, unsere persönlichen Bedürfnisse in den Vordergrund zu bringen, wurde in den westlichen Kulturen das Fühlen zunehmend als Störfaktor in einer an Funktionalität, Rationalität, Technik und Ökonomie ausgerichteten Welt betrachtet.
Traum, Trance und Ekstase waren die außergewöhnlichen Bewusstseinszustände, über die der vorgeschichtliche Mensch meinte, einen Kontakt in die jenseitige Welt, die in seiner Sicht die Geschicke der diesseitigen Welt bestimmt, gefunden zu haben. Zunächst hatten vermutlich vereinzelte Nahtod-Erfahrene von ihren „Jenseits“-Visionen berichtet, die sie „nach dem Tod“ erlebt hatten, und so das Bild von einer jenseitigen Welt und einer womöglich überlebenden Seele geprägt (METZINGER 2005). In deren Gefolge lernten die Schamanen, verschiedene Methoden zur Erzeugung tiefer Trance- und Ekstasezustände zu nutzen, mit deren Hilfe sie Einblicke in die „jenseitige Welt“ bekommen konnten. Dort konnte man Geistern und Göttern begegnen, sie gütlich stimmen oder in Krankheitsfällen die verlorengegangene Seele „zurückholen“. Diese Zustände besaßen demzufolge eine zentrale Vermittlerfunktion im Bezug auf das Verhältnis von diesseitiger und jenseitiger Welt. Sie waren von daher überlebenswichtig in der Perspektive dieser Völker. Der deutsche Ethnologe Theodor-Wilhelm Danzel hat den vorgeschichtlichen Menschen als Homo divinans (der magische Mensch) charakterisiert, der sich im Zustand undifferenzierter Bewusstheitlichkeit ursprünglichen Erlebens befindet – im Unterschied zum Homo faber (lat.: der Mensch als Schmied), der die Welt handelnd und technisch tätig angeht. Er hat ganz besonders auf die „hohe Bewertung der Ekstase durch den Homo divinans“ hingewiesen (DANZEL 1928: 75).
Vorzeitliche Weltwahrnehmung
Geht man in der Menschheitsgeschichte mehrere Jahrtausende zurück, so wird klar, dass damals eine ganz andere Art und Weise der Weltwahrnehmung vorherrschte. Den Menschen war die Eigenbewegung der Natur, wie sie in den Tieren, Pflanzen, aber auch im Wetter ganz spürbar zum Ausdruck kam, nicht erklärlich; auch nicht die Gesetze, denen diese Bewegung folgte. Vermutlich deshalb war er geneigt, sich alle Gegenstände und Vorgänge in der äußeren Natur als beseelt vorzustellen. Die kreatürlichen, sich ohne Zutun des Menschen entfaltenden Kräfte und Energien – seien es Geburt und Tod – wurden zwar wahrscheinlich als Bedrohungen erlebt, aber zugleich auch in der Anbetung als sichernde und zwar über das menschliche Vermögen hinausgehende Sicherheiten erlebt; zumindest wenn man sich in der Lage sah, diese Kräfte positiv zu stimmen. Aus religionshistorischer Perspektive könnte – kurz gefasst – davon gesprochen werden, dass der Mensch die Natur vergötterte und die kreatürlichen Kräfte verehrte. Er wird wahrscheinlich, so die Geschichtsschreibung, sein Eingreifen in die Natur, um sich etwa Nahrung und Brennmaterial anzueignen, als eine „Verletzung“ der Natur erlebt haben. Da er dieses „Unrecht“ als ein schuldhaftes Tun erlebt haben mag, wird es ihm darum gegangen sein, sich von dieser Schuld zu befreien und die womöglich dadurch verstimmten Kräfte der Natur wieder zu besänftigen. Es wird in diesem Zusammenhang auch von „mythischen Verträgen“ gesprochen, in die der vorgeschichtliche Mensch mit der Natur eingebunden gewesen sei. Rituelle Feste hätten als Momente des „Waffenstillstands“ gedient, in denen diese ständigen Auseinandersetzungen von Mensch und Natur zeitweilig ausgesetzt worden seien (vgl. HELFMAN 1969).
Da er die Natur für undurchsichtig gehalten, sich nicht als ihr gegenüberstehend definiert habe, sei der vorgeschichtliche Mensch darauf orientiert gewesen, sich die Kräfte der Natur in der Weise nutzbar zu machen, dass er versuchte, sich den Naturkräften anzugleichen, es „ihnen gleichzutun“ und sich dadurch ihrer zu versichern, ja sich mit ihnen zu vereinigen.
Geht man vom Tierreich aus, so können zwei grundsätzliche Strategien im Umgang mit Raubfeinden benannt werden. Zum einen das Sichbewaffnen, um im Kampf mit den Raubfeinden bestehen zu können, und zum anderen die Möglichkeit, sich zu verstecken, sich unsichtbar für den Feind zu machen. Darin bestand also eine Macht der Natur, die sie den Lebewesen geschenkt hatte: sich sehr gut verstecken zu können, indem man sich der umgebenden Natur soweit als möglich „ähnlich“ macht, sich mimetisch angleicht. Diese Macht konnte man nutzen, indem man mit den Kräften der Tiere über entsprechende Verkleidungen, aber auch Bewegungen und Tänze, welche diese Tiere nachahmten, in Berührung ging. Auf diese Weise ging man in eine Identifikation mit den Tieren, aber zugleich auch den Kräften, die diese verkörperten. Dies wird auch als das „mimetische Zeitalter“ bezeichnet (HELM 2002). Aus dieser, wenn man so will, „identifizierenden Partizipation“ (“participation mystique” nach LEVY-BRUHL 1930) trat der Mensch später sukzessive heraus und stellte sich den Dingen objektivierend gegenüber. Er gelangte in diesem langen Prozess zu einer zunehmenden Unterscheidung von Ich und Nicht-Ich, von Zustand und Gegenstand, von Subjektivem und Objektivem, die vorher noch ungeschieden in ihm existierten.
„Das ursprüngliche Erlebnis steht also ursprünglich jenseits des Gegensatzes von subjektiv und objektiv in Indifferenz. … Dem Homo divinans, der noch nicht scharf Objektives und Subjektives trennt, werden die Gegenstände der Außenwelt (das Objektive) zu Trägern, zu Vergegenständlichungen von Gefühlen (von Subjektivem), die er gleichsam in sie ‚hineinerlebt’, hineinlegt. … die Objektivität wird von Subjektivität überwuchert, das, was die Dinge ‚für sich’ sind, ist dem Homo divinans in dem, was sie ‚für ihn’ sind, aufgehoben“ (DANZEL 1928: 43ff.). Als Beispiel mag man sich vergegenwärtigen, dass es nicht ganz klar ist, dass ein Bildnis eines Löwen nicht die gleiche Angst hervorruft wie ein tatsächlicher Löwe. Erst eine „kritische Realitätsprüfung“ unter Aussetzung der ersten emotionalen Reaktion kann uns in die Lage versetzen, einen Unterschied dieser beiden Löwen als Tatsächlichkeit anzunehmen und damit vor dem einen Abbild oder seinem Schritt ähnelnden Geräuschen keine Angst zu haben, aber vor dem anderen sehr wohl. Für diese Art von distanznehmender Unterscheidung ist allerdings unabdingbar, dass wir uns dem Gegenstand „gegenüberstellen“; ihn von dem bloßen Eindruck zu unterscheiden lernen. Das heißt, die zunächst induzierte subjektive Befindlichkeit (Angst) von dem tatsächlichen Gegenstand und seiner Bedeutung für uns zu unterscheiden. Der Erkennende soll am Gegenstand der Erkenntnis nicht mehr partizipieren, sondern sich von ihm affektiv distanzieren, um zu unterscheiden, wie etwas sich ihm darstellt und wie es „wirklich ist“. Der bekannte Anthropologe Ernst Mühlmann spricht von einer Veränderung der...