1. Einführung
Vielleicht kommt Ihnen diese Situation bekannt vor: Sie besuchen ein befreundetes Paar und kaum, dass Sie die Wohnung betreten haben, spüren Sie, dass etwas nicht stimmt: Vielleicht haben sich Ihre Freunde gerade gestritten oder der Haussegen hängt aus einem anderen Grund schief. Weil Sie höflich sein wollen, sprechen Sie die Situation und Ihr Erleben während Ihres Besuchs aber nicht an und bleiben eine Weile. Später fällt Ihnen dann mit hoher Wahrscheinlichkeit auf, dass dieses Gefühl immer noch in Ihnen nachhallt, und das, obwohl Sie die Wohnung Ihrer Freunde schon längst verlassen haben.
Oder: Kennen Sie das Gefühl, frisch verliebt zu sein und dieses intensive emotionale Erleben mit der ganzen Welt teilen zu wollen? Auch dieses geteilte Lebensgefühl wird bei Ihren Zuhörern und Zuhörerinnen mit Sicherheit ein gut gelauntes „Echo“ hinterlassen, das über den Moment der eigentlichen Begegnung mit Ihnen hinausgeht.
Diese beispielhaft beschriebenen Stimmungseffekte können auch im Kontakt mit völlig fremden Menschen auftreten: Wenn Sie z. B. ein Zugabteil betreten und sofort dieses unangenehme Schweigen wahrnehmen. Da Sie einen Sitzplatz reserviert haben, setzen Sie sich dazu und sind so dieser Stimmung eine Zeit lang ausgesetzt. Auch hier werden Sie, wenn Sie aus dem Zug aussteigen, mit hoher Wahrscheinlichkeit die im Abteil herrschende Bedrückung „mitnehmen“ und für einige Zeit in sich tragen.
Unabhängig davon, ob wir eine angenehme oder eher unangenehme starke emotionale Situation erlebt haben, gibt es in uns so etwas wie ein grundlegendes Bedürfnis, ein solches Erlebnis teilen zu wollen, z. B. indem wir mit anderen darüber sprechen oder es durch eine Stimmung auf andere übertragen. Dieses Verteilen von emotionalem Erleben hinterlässt, wenn wir auf ein Gegenüber treffen, das aufmerksam und akzeptierend daran teilnimmt, eine emotionale Erleichterung bei uns: Wie gut tut es, wenn man der besten Freundin oder dem besten Freund, seinem Partner, seiner Partnerin oder einer anderen vertrauten Person erzählen kann, was einen bedrückt, und das eigene innere Erleben somit einen Ausdruck findet.
Ungeachtet dessen, ob Sie am Erleben einer anderen Person, Gruppe o. Ä. teilnehmen oder selbst Ihr Erleben (ver-)teilen: Das, was sie wahrnehmen, ist ein Effekt von Emparing oder besser: dem Emparing-Prozess.
1.1 Was ist Emparing?
Ich spreche auf den folgenden Seiten oft vom Verteilen von Emotionen oder auch (Lebens-)Gefühlen an unsere Mitmenschen und vom Teilhaben an den Gefühlszuständen anderer. Diese beiden umfassenden Aspekte bilden den Kern eines jeden Emparing-Prozesses und ermöglichen uns, spontan und augenblicklich an starken Emotionen wie z. B. Wut, Trauer, Angst oder Freude, Glück, Liebe etc. von anderen teilzunehmen.
Innerhalb des Emparing-Prozesses nehmen wir aber nicht nur die Stimmungen und Gefühle der anderen wahr, sondern machen uns diese auch zu eigen. Wir tragen sie sozusagen huckepack auf einem Stück von unserem Weg mit, was sie damit zu einem Teil unserer eigenen Stimmung und Gefühlswelt werden lässt. Je nachdem wie intensiv der Kontakt, die Beziehung und Bindung zu dem Menschen ist, mit dem wir das Lebensgefühl geteilt haben, und wie intensiv das Erlebte war, hallt es mal mehr und mal weniger, ähnlich einem Echo, in uns nach.
Dass wir Lebensgefühle spontan teilen, passiert so automatisch wie Atmen oder Schlafen. Wir tun es einfach, ohne darüber nachzudenken, z. B. in Beziehungen zu Liebespartnern und / oder Liebespartnerinnen, in Eltern-Kind-Gemeinschaften, unter Kollegen und Kolleginnen auf der Arbeit oder eben auch mit Fremden, mit denen wir zusammen auf etwas warten oder Zug fahren. Dabei ist uns der Emparing-Prozess manchmal bewusst und manchmal nicht: Sprich, es kann durchaus dazu kommen, dass wir am Lebensgefühl eines anderen unbemerkt teilhaben und uns zu einem späteren Zeitpunkt wundern, warum wir gerade in einer bestimmten Stimmung sind.
Um diesem ganz besonderen Prozess, der uns mit anderen Menschen verbindet, einen Namen zu geben, habe ich die Begriffe Empathie und Sharing miteinander verbunden zu Emparing. Dabei steht Empathie für das spontane empathische Einfühlen in einen anderen und Sharing1 für das Teilen eines Gefühls sowie das Teilhaben an einem (Lebens-)Gefühl. Die praktische sowie theoretische Auseinandersetzung mit diesem Prozess ist für mich eine Folge aus der Beobachtung, dass Menschen sich nicht nur spontan in andere hineinversetzen können oder an den Lebensgefühlen anderer nicht wertend teilnehmen, sondern dass wir auch spontan und ungelernt Lebensgefühle von anderen anteilig in uns aufnehmen, mittragen und umgekehrt eben auch auf andere verteilen.
Um Ihnen den Emparing-Prozess sowohl umfassend vorzustellen als auch facettenreich zu veranschaulichen, werde ich im Folgenden immer wieder auf Fallbeispiele aus meinem Alltag und der Beratungspraxis zurückgreifen.
1.2 „Am schlimmsten ist, wenn niemand (mehr) da ist“
Ich erinnere mich an einen heißen Sommertag vor einigen Jahren – damals wohnte ich mit meiner Tochter in einer eng bebauten, ehemaligen Arbeitersiedlung einer kleinen Stadt. An diesem Morgen wollte ich gerade zur Arbeit gehen, als ein Krankenwagen in unsere Straße einbog und direkt vor dem uns gegenüberliegenden Haus anhielt. Ich sah, wie Ärzte und Krankenpfleger ins Haus eilten, meinen Nachbarn, Herrn Weber2, auf einer Trage in den Wagen transportierten und daraufhin abfuhren. Das Ganze ging in solch großer Geschwindigkeit vor sich, dass ich kaum reagieren konnte. Zusammen mit einigen Passanten blieb ich erstaunt und hilflos zurück. Kurz vorher hatte er noch seinen 70. Geburtstag gefeiert.
Am nächsten Tag erfuhr ich von den Kindern meines Nachbarn, die aus dem fernen Ruhrgebiet angereist waren, dass er noch auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben war. Seine Frau, die genauso alt war wie er – sie hatte gerade eine Operation an der Hüfte gut überstanden –, blieb allein zurück.
An den Tagen und Wochen, die folgten, saß Frau Weber meistens den ganzen Vormittag in ihrem kleinen Garten vor dem Haus und redete mit jedem, der vorbeiging und ihr bekannt war; oft auch mit denen, die sie nicht kannte. Viele hielten kurz an, erkundigten sich nach ihrem Ergehen und bekundeten ihr Beileid. Sicherlich waren diese wenn auch meistens nur kurzen Gespräche einigen ihrer Gesprächspartner*innen unangenehm: Vielleicht, weil ihnen das Thema Angst machte, weil sie in Eile waren oder weil es sie zu sehr berührte, sich mit diesem tiefen Leiden und dem plötzlichen Verlust eines geliebten Menschen auseinanderzusetzen.
Das Ehepaar war fünfzig Jahre lang verheiratet gewesen und hatte dabei kaum einen Tag getrennt verbracht. Vier Kinder hatten sie gemeinsam aufgezogen, einen Krieg überstanden, alles verloren und ganz viel wieder aufgebaut. Immer wieder staunte ich über die privaten Details, die Frau Weber preisgab.
Sie erzählte häufig, wie es ihr ging: Dass sie nicht gut geschlafen hatte, dass sich das Haus leer anfühlte, sie sehr traurig war, dass sie viel weinte und dass ihr Mann ihr fehlte. Sie hatten immer viel miteinander geredet und oft etwas zusammen unternommen.
Manchmal hatte ich den Eindruck, als versuche sie die Leere, die der Tod hinterlassen hatte, mit Worten zu füllen. Denn diese Situation war nicht einfach für sie als eine Person, die nie allein gewesen war. Aber das Haus zurückzulassen, um zu den Kindern zu ziehen – das konnte sie sich nicht vorstellen. Hier war doch ihr Zuhause.
Mit welcher Kraft Frau Weber nach und nach ihr Leben wieder in die Hand nahm, erstaunte mich. Die Arbeiten im Haus, von denen sie früher steif und fest behauptet hatte, nur ihr Mann könne diese erledigen, führte sie jetzt selbst aus. Sie hievte ihr Fahrrad in den kleinen Unterstand, stellte die Mülltonne an die Straße und entfernte das Unkraut auf dem Gehweg … Auch dauerte es nicht lange, bis sie sich ein reges Netz aus Menschen aufgebaut hatte, mit denen sie spazieren, in die Kirche oder zum Friedhof ging oder die ihr beim Einkaufen halfen und ihr die schweren Wasserkisten ins Haus trugen. „Wissen Sie …“, sagte sie an einem Nachmittag zu mir, an dem ich mal wieder in ihrem Garten saß und selbst gebackenen Kuchen aß, „… das Schlimmste ist doch, wenn niemand mehr da ist, mit dem man reden kann oder der mit einem den Moment teilt.“
Und damit hatte sie wohl recht. Vielleicht war diese Aussage für mich sogar der Anstoß, dieses Buch zu schreiben und dem folgenden Gedanken intensiv zu folgen: Was ist es genau, das uns so guttut, wenn wir mit anderen in Kontakt sind, und was hilft uns tatsächlich in schweren Zeiten?
In meiner psychologischen und pädagogischen Beratungspraxis habe ich viele Menschen kennengelernt, die sich nur sehr mühsam und schwer von Schicksalsschlägen wie einer Trennung oder dem Tod eines geliebten Menschen erholten. Einsamkeit, so fanden US-Wissenschaftler heraus, ist genauso schädlich wie Rauchen oder Alkoholmissbrauch. In einer Langzeitstudie mit über 300.000 Teilnehmern konnte ein Zusammenhang zwischen einem höheren Sterberisiko und Einsamkeit festgestellt werden (siehe Cacioppo, Fowler, Christakis 2009). Wichtig hierbei ist, dass es dabei nicht auf die objektive Einsamkeit ankommt, also für wie lange eine Person tatsächlich allein ist, sondern darauf, wie einsam sich ein Mensch tatsächlich fühlt (ebd., S. 977–991). Wie gut Menschen mit dem Alleinsein umgehen können und wie erschütternd sich Schicksalsschläge auf ihre Leben auswirken können, hängt von vielen Faktoren ab und ist oft von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Es scheint aber so, dass es Umstände...