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Empirische Sozialforschung. Darstellung von Wissenschaftstheorie, Forschungsansätzen, Forschungsspraxis und Qualität der Forschung

AutorRudolf Kutz
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl565 Seiten
ISBN9783668011342
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis35,99 EUR
Fachbuch aus dem Jahr 2015 im Fachbereich Soziologie - Sonstiges, , Sprache: Deutsch, Abstract: Wissenschaftstheorie kann als Metatheorie des kulturspezifischen wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses bezeichnet werden. Sie beschäftigt sich primär mit den begrifflichen und methodischen Grundannahmen und Regeln, nach denen Wissenschaft und Ergebnisse der Wissenschaft als allgemeingültig anerkannt werden. Wissenschaftstheorie ist anders ausgedrückt ein Problem unterschiedlicher Vorgehensweisen zur Erkenntnisgewinnung. Die Naturwissenschaften arbeiten nach anderen Regeln als die Psychologie oder die Soziologie, die Philosophie oder die Jurisprudenz. In diesem Fachbuch geht es nicht nur um die Systematik der empirischen Sozialforschung, sondern vielmehr um die wissenschaftstheoretischen Grundlagen, die Probleme und die Qualität der Forschung.

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Leseprobe

1.Grundlagen der Wissenschaftstheorie


 

Definition: „Wissenschaftstheorie ist ein Sammelbegriff für alle metawissenschaftlichen Erörterungen über Wissenschaft, zu denen insbesondere die logische Analyse der Begriffe der Wissenschaft, der wissenschaftlichen Methoden sowie der Wissenschaftsvoraussetzungen gehört“ (Lexikon der Soziologie).

 

1.1 Einleitung


 

Wissenschaftstheorie kann als Metatheorie des kulturspezifischen wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses bezeichnet werden. Sie beschäftigt sich primär mit den begrifflichen und methodischen Grundannahmen und Regeln, nach denen Wissenschaft und Ergebnisse der Wissenschaft als allgemeingültig anerkannt werden. Wissenschaftstheorie ist anders ausgedrückt ein Problem unterschiedlicher Vorgehensweisen zur Erkenntnisgewinnung. Die Naturwissenschaften arbeiten nach anderen Regeln als die Psychologie oder die Soziologie, die Philosophie oder die Jurisprudenz.

 

Aufgrund ihrer formal-logischen und mathematisch orientierten Regeln unterstellt man den Naturwissenschaften ein höheres Maß an Objektivität als den Sozialwissenschaften, wobei der Begriff der Objektivität gleichsam zu problematisieren wäre (s. Konstruktivismus).

 

Prinzipiell ist Wissenschaftstheorie aber ein Sprachspiel mit Begriffen und Regeln, die mehr oder weniger Konsens bzw. Verbindlichkeit in der scientific community beanspruchen können.

 

Die generelle Problematik der Wissenschaftstheorie ist gekennzeichnet durch:

 

den Werturteilsstreit der Sozialwissenschaften: Dürfen wissenschaftliche Ergebnisse bewertet werden?

 

den Methodenstreit Hermeneutik-Empirismus-Dialektik: Welche Methoden dürfen in der Wissenschaft verwendet werden? Gibt es eine einheitliche wissenschaftliche Methodik.

 

den Theorie-Realitätsstreit (Rationalismus-Empirismus-Konstruktivismus). Was ist Realität und was ist Theorie?

 

das Ethikproblem. Wie weit darf die Freiheit von Wissenschaft und Forschung gehen? Wissenschaftsprinzip oder wissenschaftliches Präventionsprinzip.

 

den Wahrheits- und Unversalisierungsanspruch. Gibt es universelle Wahrheiten und Erkenntnisse?

 

und den Prognoseanspruch. Können aus Beobachtungen wahre Aussagen über zukünftige  Entwicklungen gemacht werden oder ist die Prognose nur eine unbestätigte Hypothese?

 

In der wissenschaftlichen Forschung lässt sich generell eine Dominanz der logisch-analytischen Methoden (Experimente), insbesondere die der Naturwissenschaften, konstatieren. In den Sozialwissenschaften wiederum dominieren die quantitativen Methoden der Positivisten (Comte 1840, Carnap1931/32, Popper1934), die teils eine induktive und teils eine deduktive Denkweise in Anlehnung an die exakten Naturwissenschaften intendieren.

 

Die hermeneutisch orientierten Wissenschaften (Schleiermacher 1838, Dilthey1960, Gadamer 1960) präferierten die induktive Denkweise und gelten als Gegenpart zu den Positivisten, sind aber mithin dem logisch rationalen Erkenntnisprozess verhaftet. Die Philosophen der Frankfurter Schule (Adorno1969, Horkheimer 1970, Habermas 1973, Markuse1969) hingegen vertreten eine Gegenposition zu diesen Ansätzen, sie präferieren die Dialektik (bzw. negative Dialektik- Adorno). Insbesondere haben sie auf die Probleme einer subjektunabhängigen Formalisierung und die einseitige Subsummtion der Wissenschaft bzw. der Theorie unter die formale Logik hingewiesen sowie auf den Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Mit anderen Worten, Wissenschaft ist kein autopoietisches System, sondern abhängig bzw. Bestandteil gesellschaftlicher und kultureller Traditionen und Rahmenbedingungen. Der Wissenschaftler selbst lebt in einem spezifischen sozialen Interaktionskontext und unterliegt zwangsläufig internalisierten kultur- und wissenschaftsspezifischen Denkweisen und Erkenntnisregeln.

 

1.2   Erkenntnis


 

Generell ist Wissenschaft ein Problem der Regeln und Methoden, die zu spezifischen Erkenntnissen (Gesetzen, Kausalitätsmodellen, Theorien, Modellen, Hypothesen, Deskriptionen) führen und von der scientific community anerkannt werden. Grundsätzlich werden vier Arten der Erkenntnis differenziert.

 

1.2.1  Arten der Erkenntnis


 

Wissenschaftliche Erkenntnis:

 

Sie sollte – im Gegensatz zur Alltagserkenntnis - allgemeingültig, nachprüfbar, wiederholbar und konsensfähig sein. Um Transparenz und Verbindlichkeit zu sichern, wird eine stringente Anwendbarkeit der methodischen Regeln gefordert. In den Naturwissenschaften gilt fast ausschließlich die logisch-analytische Methode, d.h. Formalisierung und Mathematisierung des Erkenntnisgegenstands durch Anwendung von Experiment, Logik und Statistik.

 

In den Geistes- und Sozialwissenschaften spielt neben der Formalisierung und Mathematisierung auch die Hermeneutik, Dialektik und Phänomenologie eine große Rolle, wobei die Heuristik (Modell der Erkenntnisgewinnung) wiederum vernachlässigt wurde.

 

Meditative Erkenntnis (ganzheitliche Erkenntnis):

 

Im hinduistischen und im buddhistischen Kulturkreis sind Methoden der Meditation (Atemtechnik, Körperbeherrschung, Konzentration, mentale Kontrolle) dominierend und akzeptiert, so dass diese Erkenntnisart allgemein anerkannt, nachprüfbar und intersubjektiv gültig ist. Ziel der Meditation ist als letzte Stufe der Erkenntnis die Erleuchtung. Die Erkenntnis ist hier zunächst eine genuin subjektive Kategorie, in deren Verlauf differenzierte Bewußtseinstufen erreicht werden, um zum Nichts (Nirwana) zu gelangen. Erst auf dieser Stufe ist eine offene, völlig unvoreingenommene Sichtweise des Selbst und der Welt möglich. Dadurch, dass die tradierten internalisierten Denkweisen reduziert werden, gelangt man zur kosmischen Erkenntnis.

 

Spirituelle Offenbarung:

 

Sie gilt als eine genuin subjektive Art der Erkenntnis, die auf dem Glauben an eine höhere Macht beruht. Sie ist das Resultat ritualisierter spiritueller Handlungen, quasi "göttliche Eingebung". Aber auch das ist nicht ganz korrekt, sondern durch Methoden wie Trance, Rituale der Bewusstseinsveränderung – Musik, Drogen, Tanz, Hypnose, Askese – werden subjektive Zustände initiiert, die eine bewusste Handlungskontrolle ausschalten und so Bewußtsein bzw. Denkkontrollen durchlässiger machen.

 

Intuitive Erkenntnis:

 

Vorbewusste und unbewusste psychische Repräsentanzen können sich mittels Assoziationen quasi verselbständigen und so neue mentale Verbindungen herstellen, die in bewußte Repräsentanzen transformiert werden und Erkenntnisse produzieren (Hypothesen, Ideen, Theorien, Modellen). Repräsentanzen unterschiedlicher Bewusstseinsebenen konstituieren sich ohne bewusste (ohne kontrollierte) Einflussnahme zu neuen Repräsentanzen. (Sympathie, Antipathie, Geistesblitz, spontane Eingebung) Die Intuitive Erkenntnis zeigt eine enge Affinität zur spirituellen Offenbarung aber ohne Einfluss einer exorbitanten Macht.

 

Die Differenzierung der Arten der Erkenntnis zeigt offensichtlich, dass meditative, intuitive Erkenntnis und spirituelle Offenbarung genuin subjektive Kategorien sind bzw. nach abendländischer Tradition werden sie als irrationale Erkenntnisarten definiert. Die Begriffe formale Logik, Formalisierung, Mathematisierung, Objektivität, Rationalität, Wahrheit sowie Universalisierungs- oder Prognoseanspruch spielen dabei – wenn überhaupt – nur eine marginale Rolle, d.h. das Begriffssystem ist nicht vergleichbar mit dem des abendländischen Verständnisses der Erkenntnis. Zudem wird keine Trennung zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und allgemeiner Erkenntnis (Alltagserkenntnis) konstruiert, sondern diese Erkenntnisarten beanspruchen Allgemeingültigkeit, d.h. der Disput der Erkenntnisbewertungen ist nicht feststellbar.

 

Erkenntnis im abendländischen Kulturkreis ist gleichbedeutend mit dem ‚deduktiv-nomologischen Modell‘ der kausalen Erklärung, also mit dem Rationalitätsprinzip. Dieser wissenschaftliche Erkenntnisprozess ist in der neueren Geschichte erstmals von Karl Popper, in "Logik der Forschung" (1934) formuliert worden - Theorie (Hypothese, Idee) – Datenerhebung - Auswertung – Bestätigung der Hypothese (Theorie) durch das Falsifikationsprinzip.

 

Das sogenannte nomologisch-analytischen, quasi dem Rationalitätsprinzip folgenden Erkenntnismodell ist insofern zu bezweifeln, als seine Anwendung eine normative Implikation enthält. Der Formalisierung sind latente subjektive Wertungen immanent, die auf einem tradierten unreflektierten Wertesystem und Weltbild beruhen, insbesondere weil der Entdeckungskontext der Diskussion entzogen wird, anders ausgedrückt: Hypothesen sind ohne wissenschaftliches Vorverständnis bzw. wissenschaftspezifisches...

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