Befinden wir uns zur Zeit in einer Umbruchphase der Sterbekultur in Deutschland? Neigt sich das vom französischen Historiker Philippe Ariès (1914 - 1986) beschriebene „Modell des ins Gegenteil verkehrten Todes“ seinem Ende zu? Einige Entwicklungen scheinen darauf hinzudeuten.
„Kultur“ wird im Wörterbuch der Soziologie definiert als „…die Gesamtheit der Lebensformen, Wertvorstellungen und der durch menschliche Aktivitäten geformten Lebensbedingungen einer Bevölkerung in einem historischen und regional abgrenzbaren (Zeit-)Raum… “ (Hillmann, 1994, S. 460). Von ihr leiten sich Normen, Rollen, Traditionen und Verhaltensmuster ab. Die „Sterbekultur“ beschreibt somit den Ausschnitt der Kultur, der den Rahmen für den Umgang einer Gesellschaft mit dem Thema Sterben bildet. In den USA benannte Robert Kastenbaum 1972 mit „death system“ …“Teile der Kultur, die mit Sterben, Tod und Trauern zu tun haben und mit der Art und Weise, in der wir unsere Sterblichkeit leben“ (Morgan, 2003, S. 15). Die Sterbekultur ist also ebenso wie die Kultur als Ganzes den jeweiligen historischen Strömungen unterworfen.
Der Geschichtsforscher unterschied im Laufe der Geschichte fünf Modelle, die jeweils für einen gewissen Zeitabschnitt typisch waren (Ariès, 1996):
1. der gezähmte Tod (frühe Geschichte bis ins Mittelalter)
2. der eigene Tod (etwa 12. – 15. Jahrhundert)
3. der lange und nahe Tod (etwa 16. – 18. Jahrhundert)
4. der Tod des Anderen (19. Jahrhundert)
5. der ins Gegenteil verkehrte Tod (ab dem 20. Jahrhundert)
Der Wandel lässt sich seiner Meinung nach an vier Parametern beobachten: dem Bewusstsein des Menschen von sich selbst, der Verteidigung der Gesellschaft gegen die wilde Natur, dem Glauben an ein Leben nach dem Tode und dem Glauben an die Existenz des Bösen.
Bis ins Mittelalter war der Tod etwas Vertrautes und Alltägliches, und das Sterben fand mitten in der Gemeinschaft statt. Die Sterbezeremonie, in der der Sterbende eine aktive Rolle einnahm, stärkte das Zusammengehörigkeitsgefühl. Da der Tod aber auch das Überleben der ganzen Sippe gefährden konnte, stellte er gleichzeitig eine Prüfung ihrer Stabilität dar und konnte zu einer Schwächung ihres Verteidigungssystems führen. Der eigentliche Tod wurde nicht als Lebensende aufgefasst, sondern zunächst nur als Eintritt in ein Übergangsreich, in dem die Verstorbenen in Ruhe auf das wirkliche Ende warteten. Obwohl der Tod etwas Vertrautes war, stellte er doch – vor allem, wenn er plötzlich kam und nicht genug Zeit bot, materielle und spirituelle Angelegenheiten zu regeln – ein Unglück dar.
Das zweite Modell unterscheidet sich vom vorherigen in den Bereichen „Bewusstsein des Menschen von sich selbst“ und „Glauben an ein Leben nach dem Tode“. Der Grund hierfür ist ein stark ausgeprägter Individualismus. Der einzelne Mensch konnte und wollte sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Sein Körper durfte das Leben genießen oder/und Buße tun, während seine Seele nach dem Tod unsterblich wurde. Mit der Verfassung eines Testamentes bewirkte der Verstorbene einerseits ein positives Andenken an seine Person in der Welt, und andererseits meinte er so beim „Jüngsten Gericht“ seine Aussicht auf einen Platz im Himmel zu verbessern. Nach seinem Tod wurde der Leichnam umhüllt, so dass niemand mehr den Anblick eines Toten gewahr wurde. Kirchliche Zeremonien sorgten dafür, dass sich die Phase zwischen Todeszeitpunkt und Beerdigung verlängerte. Als sichtbares Zeichen seiner gewesenen Existenz verblieb nun meist ein Grabstein auf dem Friedhof oder in der Kirche (Ariès, 1996; Morgan, 2003).
Das Modell des langen und nahen Todes unterscheidet sich vor allem in der Abwehr der wilden Natur von den vorherigen Epochen. Erste Erfolge der Naturwissenschaften trugen das Ihrige dazu bei. Der Glaube an Gott (Reformation) und die Gefühle der Menschen befanden sich im Aufruhr, was sich auch in den Darstellungen des Todes abbildete. Er faszinierte und flößte gleichzeitig Angst ein, besonders die, lebendig begraben zu werden. Der Tod schien wieder wie einst unberechenbar zu sein.
Die stürmischen Entwicklungen des 19. Jahrhundert lassen sich auch an der Veränderung der Sterbekultur ablesen, die alle vier Parameter betrifft. Die aufgrund der besseren Hygienemaßnahmen und des medizinischen Fortschritts gestiegene Lebenserwartung schuf die Möglichkeit längerfristige Bindungen einzugehen und eine Privatsphäre aufzubauen. Es bildete sich die Kernfamilie. Im Modell „der Tod des anderen“ machte nicht mehr der eigene Tod Angst, sondern die Tatsache von einem geliebten Wesen Abschied nehmen zu müssen. Durch die Vorstellung die Lieben einst im Jenseits wieder zu sehen, bekam der Tod eine schöne Gestalt. Vor der Hölle fürchtete sich niemand mehr.
Für das 20. Jahrhundert trifft das Modell des ins Gegenteil verkehrten Todes zu. Es stellt eine Weiterentwicklung des Todes des Anderen dar, wenn auch die Auswirkungen teilweise ein sehr verändertes Bild erzeugen. Die in der Romantik zelebrierte letzte Kommunion mit Gott oder mit den Anderen wurde dadurch erschwert bzw. verhindert, dass dem Sterbenden zu dessen Schutz die gesundheitliche Prognose verheimlicht wurde. Gleichzeitig sorgte eine nun häufig stattfindende Einlieferung in ein Krankenhaus für eine „Beschmutzung“ und Entprivatisierung des Todes. Die Gemeinschaft trat vollkommen in den Hintergrund, die Medizin hatte die wilde Natur scheinbar im Griff und für die Organisation des kollektiven Lebens war nicht mehr die Gemeinschaft zuständig, sondern der Staat mit seinem Regelwerk. Statt traditioneller Gemeinschaft existiert nun eine Massengesellschaft, die …“von unwiderstehlichen Strömungen durchzogen [wird], die sie in einen permanenten Krisenzustand versetzen und zu sporadischen Aggressivitätsausbrüchen oder kollektiven Phobien treiben“ (Ariès, 1996, S. 787). Ariès sieht dies neben der Bedeutung des Anderen als Ursache für die Negierung des Todes. Dem Sterbenden wurde nun weniger mit Mitleid gegenübergetreten als mit Scham und Ekel. Das Böse war nicht mehr von Natur her böse, es bildete sich als Folge einer Fehlleistung der Gesellschaft und konnte daher durch Überwachung und Sanktionen eliminiert werden. Die Todesangst blieb und der Tod gewann seine einst gezähmte Wildheit zurück.
Philippe Ariès verstarb 1986 und konnte somit nur die Anfänge der Hospizbewegung beobachten. Würde er in der stetigen Verbreitung des Hospizgedankens vielleicht den Beginn eines neuen Modells erkennen?
Andere Autoren (Vovelle, 1983 zitiert in Feldmann, 1997) betonen den Einfluss der demografischen Entwicklung auf den Umgang mit Sterben und Tod. Ein genauerer Blick darauf hilft uns, die bis ins Ende des letzten Jahrhunderts wachsende Ausblendung des Todes in unserer Gesellschaft besser zu verstehen. Im Mittelalter waren die Menschen den Infektionskrankheiten vollkommen hilflos ausgeliefert. So starb allein an der Pest im 14. Jahrhundert ca. ein Drittel der Bevölkerung Europas (Tuchmann, 1984 zitiert in Morgan, 2003). Einer gewissen demografischen Beruhigung im 16. Jahrhundert folgten erneute massive Einschnitte durch anhaltende Kriege und eine Rückkehr der Pest. Eine Erholungsphase im 18. Jahrhundert wurde abgelöst durch neue Seuchenausbrüche (Cholera, Typhus), die durch die Urbanisierung begünstigt wurden. Gleichzeitig wurden nun aber Mittel entwickelt und angewandt, die Krankheit und Schmerz lindern konnten. Die durchschnittliche Lebenserwartung stieg erheblich, was vor allem auf die Eindämmung der Säuglings- und Kindersterblichkeit zurückzuführen ist (Feldmann, 1997). Dadurch dass nun zunehmend ein höheres Alter erreicht wird, wächst die Zahl der damit assoziierten chronisch-degenerativen Erkrankungen kontinuierlich. Diese sind häufig mit einem langen Leidensweg verbunden, so dass der Tod nicht plötzlich eintritt, sondern das Sterben einen langsamen Prozess darstellt (Heller, 1994). Klaus Feldmann spricht in diesem Zusammenhang von „reduzierten Individuen“, die ihr eigenes „Hoch-Selbst“ überleben können und stellt die These auf: „Die moderne Identität wird durch ein lebenslanges psychisches und soziales (Partial)-Sterben geprägt …“ (Feldmann, 1997, S. 46).
Wie gehen wir nun Anfang des 21. Jahrhunderts mit Sterben und Tod um? Wir wissen mehr über die biologischen Vorgänge am Lebensende als alle Generationen vor uns. Forscher befragten Studenten zum Thema Tod und stellten fest, dass diese häufiger an den Tod denken, als ihre Großeltern dies taten (Lester & Becker, 1992-93 zitiert in Morgan, 2003). Wird der Tod noch – wie von Ariès beschrieben - im psychologischen Sinn verneint? Spiegelt sich in der Verneinung des Todes vielleicht überdies eine Reaktion auf zwei Weltkriege und die verheerenden Geschehnisse des Holocaust wieder, in denen der Tod vehement in den Alltag der Menschen zurückgekehrt war? Die Einen wollten sich ihrer folgenreichen Taten nicht erinnern; die Anderen mussten vergessen, um das ihnen und ihren Familien widerfahrene Leid zu überwinden, um weiterleben zu können. Die Täter und Opfer, die diese Zeit überlebt haben, sind nun größtenteils am Ende ihrer statistischen Lebenserwartung angelangt. Die jetzt lebenden Generationen sind...