Wer über längere Zeit Probleme haben will,
muss sie aktiv aufrechterhalten, sonst verschwinden sie.
Arnold Retzer
Von ungeeigneten Lösungsversuchen
Probleme sind dazu da, gelöst zu werden. Sie lösen sich nicht von allein. Solche Überzeugungen sind weit verbreitet. Sie spornen die Tatkraft an und können denen, die nicht aktiv werden, ein schlechtes Gewissen machen – selbst schuld, wenn sich nichts ändert, sie kommen ja nicht in die Gänge. Eine tiefe Wahrheit erkennt man daran, dass zugleich ihr Gegenteil wahr ist. Das trifft auch für den Umgang mit Problemen zu. »Die meisten Probleme lösen sich von selbst, man darf sie nur nicht dabei stören« – diese provozierende Feststellung, mit einem Augenzwinkern vorgetragen, hat nach anfänglichem Unverständnis und heftigem Protest schon viele Klientinnen und Klienten zum Nachdenken gebracht. War es möglich, dass sie durch ihr Verhalten die Probleme beim Verschwinden gestört und sogar zu ihrer Verfestigung beigetragen haben? Dann hätten sie ja mit all ihren Bemühungen das Gegenteil von dem bewirkt, was sie eigentlich wollten.
Viele Menschen versuchen, ihre Not in Bezug auf ihre Mutter oder ihren Vater dadurch zu lindern, dass sie äußerlich Distanz zwischen sich und die Eltern bringen. Schon als Jugendliche hatten sie die Hoffnung, das Verhältnis zu den Eltern würde sich mit dem Auszug aus dem Elternhaus »normalisieren«. So ziehen sie daheim aus, sobald sie finanziell auf eigenen Füßen stehen. Oder sie suchen sich eine Ausbildungsstelle oder einen Studienplatz weit weg vom Wohnort der Eltern. Manche wandern gar aus, um mit der äußerlichen Entfernung auch innerlich Distanz zu schaffen. Das bringt vielleicht ein wenig Erleichterung, löst die Schwierigkeiten aber nicht wirklich. Das Elend ist dadurch nicht überwunden.
Ebenso verhält es sich mit den Versuchen, durch eine Verringerung der Kontakte zu innerem Abstand zu gelangen. Offener Streit mit den Eltern wird weitgehend vermieden. Eine möglichst geringe »Dosis Elternkontakt« ist das Maximum, was angesichts alter Verletzungen oder ständiger Auseinandersetzungen zu verkraften ist, wie bei Frau G.: »Bei jedem Besuch gab es früher oder später Streit, ich war abends fix und fertig. Irgendwann hat es mir dann einfach gereicht. Wir gehen jetzt bloß noch zu den Geburtstagen hin, und das nur noch zum Kaffeetrinken und nicht mehr den ganzen Tag. Das ist schon ein Fortschritt, aber natürlich fühle ich mich nicht wirklich gut damit. Ich denke viel an meine Eltern und hätte gerne eine bessere Beziehung zu ihnen.«
Und Frau E. berichtet: »Früher habe ich mindestens einmal in der Woche bei meiner Mutter angerufen. Mein Vater ist schon vor zehn Jahren gestorben, seitdem lebt sie allein. Aber ich habe einfach keine Lust mehr, mir immer wieder anzuhören, wie toll meine große Schwester alles macht und wie süß und klug ihre Kinder sind. Ich habe ihr mehrfach gesagt, dass mich das nervt und verletzt, doch ihr Verhalten ist gleich geblieben. Wahrscheinlich will sie meine Bedürfnisse nicht ernst nehmen, sonst könnte sie das doch lassen, so schwer ist das doch nicht. Jetzt rufe ich nur noch gelegentlich an, wenn ich den Nerv dazu habe. Mich gar nicht mehr zu melden schaffe ich nicht, schließlich ist sie ja meine Mutter.«
Das Elternthema loszuwerden, das ist offensichtlich nicht einfach. Selbst mit einem vollständigen Kontaktabbruch ist das nicht zu schaffen, es lässt sich nicht mit Gewalt lösen. Im Gegenteil, Vorwürfe binden, und Zorn und Hass verstärken die innere Bindung noch zusätzlich. Das ist uns klar, wenn es um Partnerschaften geht: Solange ich noch voller Wut auf meinen geschiedenen Mann oder meine geschiedene Frau blicke, bin ich noch »verhakelt« und nicht wirklich frei. Bezogen auf die Eltern wird diese Dynamik oft nicht gesehen, obwohl sie noch stärker wirkt und zentraler für das Leben eines Menschen ist. Schließlich ist die Bindung zur Mutter ja die allererste und allerwichtigste für das Kind, und der Vater kommt gleich danach, egal ob er körperlich anwesend ist oder nicht. Dazu später mehr.
Halten wir fest: Die Versuche, über äußere Distanzierung von den Eltern innerlich wirklich frei zu werden, führen in eine Sackgasse. Je mehr ich strampele, desto enger wird das Netz, in dem ich gefangen bin. Durch meine von enttäuschten kindlichen Erwartungen bestimmten Lösungsversuche trage ich unterm Strich dazu bei, dass alles beim Alten bleibt und eher noch schwieriger wird. Menschliche Vernunft und Erfahrung gebietet in einem solchen Fall, mit dem aufzuhören, was sich als wenig oder gar nicht wirksam erwiesen hat.
Diese Erkenntnis gilt nicht nur für Versuche, das Elternthema durch Verringerung oder Einstellung des Kontakts abzuschließen. Sie gilt auch für alle Bemühungen, durch immer wieder neues Zugehen auf die Eltern, durch Hilfsbereitschaft, Entgegenkommen, Kompromisse, »Liebsein« die Beziehung zu verbessern. Manchmal lässt sich dadurch eine kurzzeitige Entspannung erreichen, neue Hoffnung keimt auf. Doch über kurz oder lang ist alles wieder wie zuvor, und es stellt sich die Frage: Wie oft muss ich noch auf die Nase fallen, bis ich endlich begreife, dass ein Vorankommen so nicht möglich ist?
Als ebenso fruchtlos erweisen sich vielfach Gespräche mit den Eltern über Vergangenes oder über schon länger strittige Themen. Am Ende solcher Klärungsversuche steht selten eine Entspannung der Beziehung. Viel häufiger wird nochmals deutlich, wie weit Eltern und Kinder auseinander sind, und die unterschiedlichen Sichtweisen stehen noch härter gegeneinander. Der innere Abstand wird eher größer als kleiner, alles ist noch verfahrener als zuvor. Im Nachhinein zeigt sich, es wäre besser gewesen, den Mund zu halten. Weniger ist oft mehr.
Um zu einer Klärung der Elternbeziehung zu kommen sind auch Warum-Fragen beliebt. Auf den ersten Blick erscheinen sie ganz sinnvoll. Immerhin wird versucht, die Eltern zu verstehen, statt sie gleich zu attackieren. Vielleicht gibt es ja nachvollziehbare Gründe, die ihr Verhalten erklären oder es sogar entschuldigen. Im direkten Gespräch mit Vater oder Mutter gestellt, handelt es sich jedoch so gut wie nie um echte, sachliche Fragen, sondern eher um Vorwürfe oder Unterstellungen in Frageform: »Warum hast du dich nie für mich interessiert?« »Warum musst du immer an mir herummeckern?« »Wieso hast du immer mir die Schuld gegeben, wenn etwas schief gelaufen ist?« Klar, dass darauf keine befriedigenden Antworten kommen. Wahrscheinlich sehen die Eltern das ganz anders, zudem mag sich niemand gerne rechtfertigen. Auch Warum-Fragen können also dazu beitragen, die Fronten zu verhärten und das eigene ungute Gefühl bezüglich der Eltern zu verstärken.
Das Gleiche passiert in der Regel, wenn wir im stillen Kämmerlein darüber grübeln, warum dieses oder jenes so war, wie es war. Oder wenn wir unseren Kummer bei einer Freundin oder einem Freund abladen: »Warum nur hat sich die Mutter nicht schützend vor mich gestellt, wenn der Vater so ungerecht war?« »Warum hat mein Vater immer den jüngeren Bruder vorgezogen?« »Warum herrscht dieses Schweigen zwischen meinem Vater und mir? Und warum endet jedes Telefonat mit meiner Mutter im Streit?« » Warum nur verstehen meine Eltern nicht, dass ich erwachsen bin und mein eigenes Leben leben möchte?« Zufriedenstellende Antworten auf solche Fragen lassen sich in der Regel weder durch Nachdenken noch durch Gespräche finden.
Sofern Antworten gefunden werden, folgt in der Regel gleich ein: »Ja, aber…«, wie bei Frau M.: »Meine Mutter mischt sich ständig in mein Leben ein, ich versteh das einfach nicht. Kann ja sein, dass sie sich Sorgen um mich macht und mir deshalb immer reinredet. Aber ich habe eher den Eindruck, sie kann einfach nicht zugeben, dass ich vieles ganz gut gemacht habe. Sie ist neidisch auf das, was ich erreicht habe. Warum nur kann sie nicht mal ein anerkennendes Wort sagen oder mich wenigstens gelten lassen?«
Oder wie bei Frau St., die in ihrer Kindheit regelmäßig von ihrem Vater geschlagen worden ist: »Ich mache immer noch daran herum, dass sich meine Mutter dem Vater nicht in den Weg gestellt hat. Klar, sie war nicht gerade die Kräftigste und hatte auch selber Angst. Und wahrscheinlich hätte er trotzdem weiter geprügelt, das sehe ich schon. Aber sie hätte es wenigstens versuchen müssen. Und es stimmt schon, mein Vater hat in seiner Kindheit selbst nichts anderes gekannt als Schläge. Aber gerade deshalb begreife ich nicht, dass er dann selber so viel geschlagen hat.«
Wenn wir versuchen, unsere Elternthemen durch Nachdenken zu klären, geraten wir sehr leicht ins Grübeln und damit in einen seelischen Abwärtssog. »Grübeln führt nachweislich nur zu noch mehr Grübeln«, so der Arzt und Autor Eckart von Hirschhausen. Grübeln ist unproduktiv und schädlich, wir sollten es möglichst schnell unterbrechen. Denn danach geht es uns schlechter als zuvor. Wir sind dann wieder einmal nicht weitergekommen, und das wirkt sich nicht gerade positiv auf das Selbstwertgefühl aus. Was noch schwerer wiegt: Wir haben es sogar geschafft, aktiv dazu beizutragen, dass unsere Not bestehen bleibt. Denn je mehr Aufmerksamkeit wir einem Thema widmen, desto größer wird es und desto wahrscheinlicher ist es, dass es uns noch lange erhalten bleibt. Wenn wir wirklich unsere Elternthemen zu einem guten Ende bringen wollen, sollten wir unbedingt vermeiden, immer wieder den vertrauten negativen Gedanken und Urteilen nachzuhängen – wir tun uns damit selbst nichts Gutes.
Es ist nicht leicht, von diesen ungeeigneten Lösungsstrategien wegzukommen. Das hängt vor allem damit zusammen, dass sie uns schon sehr lange vertraut sind. Oft...