1. Die Trennung: Eine heile Kinderwelt zerbricht. Etwas Neues entsteht
Jeden Sonntag gegen 18 Uhr macht sich Lisa auf den Weg. Mal an der Hand ihrer Mama, mal an der Hand ihres Papas. Je nachdem, zu wem sie gerade zieht. Lisa ist acht Jahre alt. Seit einem Jahr leben ihre Eltern getrennt in unterschiedlichen Wohnungen. Die liegen so nah beieinander, dass Lisa immer zu Fuß umzieht. Sie trägt dann ihren Schultornister mit den Delphinen auf dem Rücken, das Kuschelschwein Bärbelchen daran festgeschnallt. Diesmal trägt die Mutter die Sporttasche mit dem Hockeyschläger und die Tasche mit dem großen Zeichenblock. Wenn ihr Vater Lisa dann am nächsten Sonntag wieder zurückbringt, ist das genauso. Fast. Ihr Vater trägt nur die Sporttasche, weil sie beide immer den Zeichenblock vergessen. Den muss Lisa dann am nächsten Tag nach der Schule holen, oder aber der Vater legt ihn vor Mamas Haustür.
Eine Woche Mama, eine Woche Papa:
Für Lisa ist das inzwischen ganz normal geworden
Am Anfang war das nicht so, da war gar nichts normal. Am Anfang war die ganze Trennung für Lisa ein Schrecken. Nicht mehr mit Mama und Papa gemeinsam wohnen? Mama hat eine andere Wohnung als Papa? Die beiden haben sich nicht mehr lieb? Aber beide haben sie, Lisa, weiter lieb? Wie sollte Lisa sich das vorstellen?
Die Mutter nahm damals ihre Tochter mit in die neue Wohnung, nur ein paar hundert Meter entfernt von der des Vaters. Aber die Wohnung war noch nicht fertig, überall ragten Leitungen aus der Wand, Lisas Füße machten Abdrücke auf der Staubschicht des Bodens. Die Mutter zeigte Lisa ihr neues Zimmer. Groß war es und hell und an der Decke hatte es ein Loch. Da konnte Lisa die Dämmung des Daches sehen. »Gefällt es dir?«, fragte die Mutter. Lisa nickte ein bisschen.
Wieder zu Hause, in Papas Wohnung, wo ja Mama auch noch wohnte, warf Lisa sich weinend auf das Sofa im Wohnzimmer. Wenn so das neue Leben aussehen sollte – ein Kinderzimmer mit Loch und alles dreckig und kaputt und nirgends etwas schön –, dann sollten ihr die zwei Zuhause gestohlen bleiben.
Vor Kurzem hat Sylvia, Lisas Mutter, ihre Tochter auf diesen Moment angesprochen. Lisa konnte sich nicht mehr daran erinnern. Sylvia schon. Die unbändige Trauer ihrer Tochter, dieses jammervolle Schluchzen auf dem Sofa, hat sich tief in sie eingebrannt. Diese Trauer über die verlorene Einheit der Familie, die Angst vor dem, was kommt.
Das Kinderzimmer wurde schließlich fertig, mit hellblauen Wänden, wie Lisa es sich wünschte. Lisa half beim Einräumen. Und half auch in der Papa-Wohnung beim Umräumen. Der Vater änderte die Zimmer-Aufteilung. Lisa bekam das frühere Eltern-Schlafzimmer. Ihre Mutter weiß nicht, wie Lisas neues Zuhause beim Vater aussieht. Wie ihre Tochter eine Woche lang wohnt, wenn sie nicht bei ihr ist.
Sylvia kann das mittlerweile aushalten – das Nicht-mehr-alles-Wissen vom Leben ihrer kleinen Tochter. Denn Sylvia hält ihren Ex-Mann für einen guten Vater. Selbst wenn sie wütend war über ihn hat Sylvia daran nie gezweifelt. Sie hat das Wechselmodell immer favorisiert als Familienmodell der Trennungsfamilie: Lisa sollte ihren Vater nicht nur alle zwei Wochen am Wochenende sehen dürfen.
Und deshalb zieht Lisa jede Woche um, einmal zu Mama, einmal zu Papa. Denn der gehört zu ihrem Leben dazu wie die Mama auch. Das ist doch völlig normal, findet Lisa.
Was Lisa als »völlig normal« empfindet, nämlich zwei Zuhause zu haben, wird von Wissenschaftlern als Forschungsbereich gerade erst entdeckt – und bestätigt. Da heißt das Wechselmodell, etwas komplizierter »multilokales Familienleben«, etwa in der aktuellsten Studie zu diesem Thema, durchgeführt vom renommierten Deutschen Jugendinstitut in München. Dessen Expertinnen kommen in der Untersuchung »Wenn Eltern sich trennen – Familienleben an mehreren Orten« nach Interviews mit Kindern und Eltern zu folgendem Ergebnis: »Auch wenn eine Trennung oder Scheidung der Eltern für die Kinder ein einschneidendes Ereignis ist, werden der Alltag an zwei Orten sowie das Pendeln zwischen diesen für sie nach einiger Zeit zur Normalität.« (vgl. www.dji.de/presse/medieninfo/2011/2011_12_15.pdf) Außerdem, so das Deutsche Jugendinstitut weiter, seien die Kinder in der Lage, sich an beiden Orten, also sowohl in der Wohnung des Vaters als auch in der Wohnung der Mutter, zu Hause zu fühlen. Sie »betrachten Mutter und Vater weiterhin als Teil ihrer Familie« (vgl. www.dji.de/presse/medieninfo/2011/2011_12_15.pdf).
Das Wechselmodell: Väter gegen Mütter?
Was für ein schöner Anreiz für das Wechselmodell. Jedenfalls, wenn alles, oder besser: vieles, glattläuft. Denn diese Lebensform nach einer Trennung stellt Bedingungen an die Eltern. Nur wenn diese erfüllt werden, können die Kinder diese schöne Normalität erleben. Wir werden auf diese Bedingungen zu sprechen kommen. Sie sind nicht unerfüllbar oder bleischwer. Nein, die wichtigsten haben etwas zu tun mit Achtung und einem Mindestmaß an Gesprächsbereitschaft. Beides für sich mag zu Beginn einer Trennung schwer genug fallen. Doch wenn die Bereitschaft für das Wechselmodell da ist oder eine Zeit damit gelebt wird, rücken die Ex-Paar-Auseinandersetzungen in den Hintergrund, verlieren dem Kind zuliebe an Schärfe. Wir haben mit zahlreichen Familien bundesweit gesprochen, die das Wechselmodell leben. Väter und Mütter haben uns erzählt, manchmal selbst überrascht, dass die großen Konflikte, die zur Trennung führten, im neuen Familienalltag keine besonders große Rolle mehr spielten. Und auch die Kinder sprechen, nach dem Umgang der Eltern untereinander befragt, nicht mehr von großen Streits zwischen Mama und Papa.
Kommen wir noch einmal zurück auf Lisas Mutter Sylvia. Sie ist eine typische und zugleich untypische Mutter. Typisch, weil sie vor, während und nach der Trennung oft ziemlich sauer war auf ihren Ex-Mann. Weil sie Angst hat um das Seelenheil ihrer kleinen Tochter während der aufreibenden Trennungszeit der Eltern. Weil sie, die Mutter, Lisa immer gerne um sich haben möchte.
Untypisch ist Sylvia, weil sie das Wechselmodell von Anfang an als praktikable Möglichkeit für die getrennte Familie betrachtete, schon während der Trennungsphase. Sylvia ließ sich von Anfang an darauf ein, ihre Tochter zumindest tageweise nicht zu sehen. Zugunsten ihrer Tochter und auch, ja, zugunsten des Vaters. Untypisch für viele Frauen ist Sylvia vielleicht auch, weil es ihr sehr früh gelang, die Elternbasis zu trennen von der Ebene wütender, gescheiterter Eheleute.
Wenn man durch die Trennungsforen surft – derer gibt es ja zuhauf im Internet –, wird man zumeist Väter finden, die das Wechselmodell favorisieren. Und die von ellenlangen Auseinandersetzungen mit ihren Ex-Frauen berichten, die dieses Modell boykottierten. Und wenn man diese Foren-Einträge liest, spürt man geradezu den Hass, den frühere Lebens- und Liebespartner übereinander ausschütten. Geldfragen, Erziehungsansätze und Misstrauen gegeneinander verquicken sich zur unerfreulichen Melange. Böse Mütter kontra gute Väter? Oder umgekehrt. Muss das sein?
Das Wechselmodell verdient es, nicht in der Schmuddel-Ecke wütender Ex-Paare zertreten zu werden. Es bietet – wenn die Regelfamilie schon nicht mehr existiert – vor allem Vorteile für die Kinder. Aber auch für Mütter und Väter.
Väter wollen keine Freizeitpapis mehr sein
Schauen wir auf die Statistik: In fast 90 Prozent aller Scheidungen bleiben die Kinder bislang bei den Müttern. So stellt es das Statistische Bundesamt fest. Die Väter haben den sogenannten Regelumgang mit ihren Kindern. Das bedeutet: Die Kinder besuchen den Vater jedes zweite Wochenende und eventuell einen Nachmittag in der Woche. Die Folge dieses Umgangsmodells, das in Deutschland zum Standard gesetzt wurde: Nach ein bis zwei Jahren hat ein Fünftel dieser Väter den Kontakt zu Söhnen und Töchtern verloren. Viele Trennungskinder in Deutschland wachsen also ganz ohne Vater auf. Die meisten anderen erleben ihn höchstens als Freizeitpapa, der ordentlich was losmacht am Besuchswochenende. Und gegenüber der gestressten Mutter gut gelaunt auftrumpfen kann, weil er mit Erziehungsfragen und Tagesstreitereien wenig am Hut hat.
Solche Geschichten kennt Ralf Stallbaum zur Genüge. Er ist Trennungsberater bei der Diakonie in Wuppertal. Täglich hört er von Ängsten, Sorgen und Wut. Er weiß um die Beschwerden von Müttern, die sonntagabends, nach dem eventgeprägten Besuchswochenende, aufgedrehte Kinder beruhigen und am nächsten Morgen in den Kindergartenoder Schulalltag schicken müssen. Ralf Stallbaum weiß aber auch um den Rückzug der Väter, die – einmal vom Leben ihrer Kinder ausgeschlossen – irgendwann oft genug freiwillig draußen bleiben. Sich mit der Rolle des Wochenend-Papas zufriedengeben. Mit welchen Folgen für das Kind?
Da ist Ralf Stallbaum sehr klar: »Ich verstümmele ein Kind, wenn ich den Vater entferne«, sagt er ohne Wenn und Aber. »Kinder, die Väter und Mütter haben, denen geht es besser als Kindern, die nur eine Fantasie haben von einem Elternteil, der nicht da ist.« Diese Kinder überhöhten den fehlenden Elternteil, meist den Vater. Im Leben der Kinder habe das oft Konsequenzen: Mädchen etwa suchten womöglich eine Vaterfigur als Partner, Jungen fehle das männliche Vorbild.
Beim Wechselmodell gehen die Väter nicht verloren
So sieht es der Trennungsberater: »Das Wechselmodell ist die Chance, dass Kinder nach einer Trennung ihre Väter nicht verlieren.« Und deshalb die Möglichkeit haben, im Wortsinn vollständiger aufzuwachsen.
Seit der Kindschaftsrechtsreform von 1998 ist in...