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E-Book

Gegenwindgedanken

Auf dem Fahrrad durch das Kirchenjahr

AutorJohann Hinrich Claussen
VerlagKreuz
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783451346583
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Wer das ganze Jahr Rad fährt, sieht seine Welt mit anderen Augen. Claussen ist nicht nur Ganzjahresradfahrer, sondern außerdem evangelischer Pastor. Als solcher radelt er bei Wind und Wetter durch die Hamburger City. Das pustet das Denken durch und bringt den Glauben auf die Straße. Dieser ungewöhnliche (Kirchen)Jahresbegleiter versammelt Texte und Themen, die nicht am Schreibtisch, sondern im Gegenwind ersonnen wurden. Erfrischend und ganzjährig zu lesen.

Johann Hinrich Claussen, Jahrgang 1964, Propst im Kirchenkreis Hamburg-Ost und Hauptpastor an St. Nikolai, Privatdozent für systematische Theologie an der Universität Hamburg, schreibt regelmäßig für deutsche Zeitungen und Zeitschriften, verheiratet, drei Kinder.

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Leseprobe

I.

FRÜHWINTER – ANFANG


DEZEMBER – ADVENT


Das Rad der Zeit


Das Rad und die Zeit verbindet, dass sie keinen Anfang und kein Ende kennen, sondern sich im Kreise drehen. Man gibt dem Rad einen Impuls und schon rollt es dahin, bis ihm die Puste ausgeht. Der Zeit wurde vor fast einer Ewigkeit ein deutlich größerer Schubs gegeben und seither geht sie im Kreis. Natürlich ist das Rad in sich gegliedert. Es hat Speichen. Doch wenn es sich auch nur etwas schneller dreht, sieht man sie nicht mehr. Die Zeit geht langsamer und in unseren Breiten hat sie vier große Speichen, die man gut wahrnehmen kann: die Jahreszeiten. Doch keine von ihnen kann für sich den Anspruch erheben, die erste zu sein. Auf ein Mindestmaß an Orientierung aber bin ich angewiesen. Deshalb halte ich mich gern an die alte kirchliche Tradition, die jährliche Zeitrechnung in der kalten Jahreszeit beginnen zu lassen. Am ersten Advent, der zwar nicht mit dem Winteranfang zusammenfällt, aber doch nah dran ist, beginnt der Zyklus der kirchlichen Feste, der meinem Arbeiten als Pastor den Rhythmus vorgibt. Und da ich zugleich das ganze Jahr hindurch Rad fahre und nicht wie manche Schönwetterbicyklisten feierlich einen Saisonbeginn im Frühsommer begehe, ist es mir recht. So beginnt mein Berufsjahr im Winter, führt über Frühling und Sommer zu seinem Ende am Ewigkeitssonntag im Spätherbst, während mein Fahrradjahr als ewige Wiederkehr des Gleichen im Kreis geht.

Es tut einfach gut, zu jeder Jahreszeit Rad zu fahren. Denn diese Art der Fortbewegung ist keineswegs nur bei gutem Wetter, unter einer ungetrübt hellen Sonne eine Freude. So richtig spürt man sich erst, wenn es gegen Schlagregen, Hagel und scharfe Winde geht. Wenig ist so erhebend, wie über einer festen, trockenen Schneeschicht daherzurollen, dem eigenen dampfenden Atem hinterher. Es muss das Ergebnis einer erfolgreichen Massenmanipulation der Autoindustrie sein, dass so viele Menschen meinen, man dürfe nur im Frühjahr mit dem Fahrradfahren beginnen und müsse es mit Ablauf des Herbstes einstellen. So fahre ich das Jahr hindurch und beginne meine Gegenwindgedanken im Advent.

Sanftmütigkeit


Manchmal hat man einen Wurm im Ohr. Ein Fetzen Melodie ist das, eine abgerissene Textzeile, eingenistet irgendwo im Gehörgang. Er summt so vor sich hin, meldet sich in jedem stillen Moment, wie ein kleiner Schwindel. Manchmal ist das ärgerlich, weil es sich um ein eigentlich scheußliches Liedchen handelt. Manchmal aber ist es fein, solch einen inneren Überraschungsgast zu haben, eine schöne Melodie, ein paar gute Worte, die einen beschwingen, trösten, erheitern, ohne dass man es darauf angelegt hätte. So war es bei mir in der letztjährigen Adventszeit. In diesen Wochen ging mir dauernd diese eine Zeile durch den Kopf: »Sanftmütigkeit ist sein Gefährt.« Sie stammt aus dem altbekannten Lied »Macht hoch, die Tür, die Tor macht weit!«. Dort heißt es in der zweiten Strophe: »Er ist gerecht, ein Helfer wert; Sanftmütigkeit ist sein Gefährt.« Warum hatte sich gerade diese Textzeile in mir festgemacht? Vielleicht weil sie so barock verschmockt ist? Oder weil sie so bekannt und doch so rätselhaft ist? Denn was ist das eigentlich: Sanftmütigkeit? Und inwiefern kann sie ein Gefährt sein? Natürlich, sanftmütige Fortbewegungsmittel lösen sogleich freundliche Assoziationen bei mir aus, zum Beispiel Gedanken an mein treues Fahrrad. Aber das kann ja nicht gemeint sein.

Während ich diesen Vers mit mir durch den Advent trug, gesellte sich bald die Erinnerung an eine Skulptur dazu. In der Mittelalterabteilung des Berliner Bode-Museums hatte ich sie einmal gesehen. Riesige Kruzifixe hingen da von der Decke. Überwältigend: Romanische Christusse am Kreuz, enorm lang gestreckt, mit bedrohlich weit ausgebreiteten Armen, mit finster zerrissener Miene. Schmerzensmänner aus dem frühen, noch sehr dunklen Mittelalter, vielleicht drei Meter groß und grauenvoll, zum Fürchten und Erschrecken. Ich war unwillkürlich zurückgewichen und wäre fast über eine viel kleinere Figur gestolpert, die hinter mir auf dem Boden stand. Gerade rechtzeitig hatte ich sie noch bemerkt und mich umgedreht. Da stand ein kleiner Jesus aus Holz, das heißt: Er stand nicht, er saß auf einem kleinen Holzesel. Eine schlichte, fast derbe Skulptur, alt, lädiert und dadurch so bescheiden und freundlich. Ich weiß auch nicht warum, aber der Anblick von Eseln löst bei mir sofort Sympathie aus, besonders dieser Holzesel aus dem frühen Mittelalter, das dann vielleicht doch nicht so finster war. Sind Esel sanftmütig, fragte ich mich? Leider kenne ich keinen persönlich. Ich hatte immer gedacht, Esel seien vor allem störrisch. Aber nein, dieser Esel war die Sanftmütigkeit selbst. Und auf ihm saß ein Jesus, der ganz anders war als die riesigen Schmerzensmänner, die hier von der Decke hingen. Er war viel kleiner, reichte mir vielleicht gerade bis zur Brust. Sanft wirkte er, sehr sanft, sehr ungöttlich. Fast ein bisschen lächerlich schaute er aus. Dieser Holz-Jesus also saß auf einem Esel, und dieser Esel stand auf einem Brett, und dieses Brett hatte Räder untendran. Mit ihm vorneweg und den Priestern sowie dem Kirchenvolk hinterdrein gedachte man in feierlichen Umgängen des Einzuges Jesu nach Jerusalem. Wie passend, so ein Eselchen war doch das einzig angemessene Fortbewegungsmittel für diesen König, der anders sein wollte als alle anderen Könige, nämlich unmajestätisch, eben sanftmütig. So wurde mir diese Eselsskulptur zu einem regelrechten Augenwurm und verband sich mit dem Ohrenwurm: »Sanftmütigkeit ist sein Gefährt.«

Aber was ist Sanftmut? Zunächst schlicht das Gegenteil von Gewaltsamkeit. Sanft ist ein Mensch, der sich nicht vom Zorn hinreißen lässt, der behutsam mit anderen umgeht. Sanftmut ist dabei mehr als die Art eines einzelnen Verhaltens, sondern eine ganze Lebenshaltung. Sie ist eine Art von Vorsicht, die keinen Schaden an andere herankommen lassen will. Es ist ein verbreitetes, dummes Missverständnis, Sanftmut mit Feigheit gleichzusetzen, so als wäre der Sanfte mutlos, ärmlich, niedrig, unterwürfig. Schwach ist in Wahrheit der Unsanfte, der Zornmütige oder Jähzornige. Denn er kann sich selbst und seine bösen Gefühle nicht beherrschen. Der Sanftmütige besitzt eine innere Stärke: Er kann Rücksicht nehmen, verzeihen, Frieden stiften. Er kann das, weil er sich selbst zu beherrschen weiß. Und darum ist er der eigentlich Mutige. Äußerlich kommt die Sanftmut unscheinbar oder armselig daher. Deshalb bewundert man eher die Prächtigen und Mächtigen, die Stolzen und Kalten, deren Gefährt eine strahlende Herzlosigkeit ist, die von ihren hohen Thronen grußlos auf den weniger privilegierten Rest der Menschheit herabsehen. Man bewundert sie eher, aber beneiden sollte man sie nicht. Denn ihnen, den Hartmütigen, fehlt etwas Entscheidendes: Respekt für andere, Nachsicht, Freundlichkeit, Güte und Humor – all das, was nur aus einem sanftmütigen Herzen quellen kann.

Gegenwärtig ist viel von den sogenannten Werten die Rede, meist aber nur die Rede. Man beachtet nicht recht, dass Werte wertlos sind, wenn sie nicht das eigene, alltägliche Leben bestimmen. Wenn Werte aber Teil der eigenen Lebenshaltung werden, nennt man sie Tugenden – ein weiteres schönes altes Wort. Unter den christlichen Tugenden ist die Sanftmut für alle Beteiligten die wohl angenehmste. Der Apostel Paulus stellt sie in eine Reihe mit der Demut und der Geduld. Und wir könnten sie gut gebrauchen, weil uns so häufig das Gegenteil begegnet: verhärtete Herzen, die alles für sich haben, verwerten und ausnutzen wollen, Unversöhnlichkeit in der Familie, Neid und Häme in der Nachbarschaft, rücksichtslose Konkurrenz im Beruf. Da sind wir täglich gefordert, nicht Gleiches mit Gleichem zu beantworten, uns nicht gemein zu machen, sondern anders zu sein, nämlich uns nicht vom Bösen überwinden zu lassen, sondern Böses mit Gutem zu überwinden. In der Familie: unsere Liebe frei zu verschenken, ohne nachzurechnen. In der Freundschaft und der Nachbarschaft: uns an den Erfolgen anderer mitzufreuen und ihre Traurigkeiten mitzudurchleiden. Im Beruf: nur den Vorteil zu suchen, der anderen nicht zum Nachteil wird. Also den anderen zu geben, was wir uns selbst von ihnen wünschten: nichts Hartes und Feiges, sondern etwas Sanftes und zugleich Mutiges. Die Lebensfrage von Martin Luther lautete: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Unsere Frage wäre wohl eher: Wie bekommen wir gnädige, also sanftmütige Menschen? Aber bevor wir diese Frage an andere richten, müssten wir uns selbst ihr stellen: Wie werden wir selbst sanftmütige Menschen?

Paulus hat die Sanftmut eine »Frucht des Geistes« genannt. Ihr Urbild hat sie in Jesus Christus. Der hat seine Botschaft so verkündet, dass Menschen sich frei zu ihr bekehren konnten, nämlich nicht mit Feuer und Schwert, sondern mit Demut, Geduld und Sanftmut. So war es am Anfang, die ganze Geschichte des Christentums über und so ist es auch heute noch: Der christliche Glaube überzeugt dann, wenn er dem Vorbild Jesu treu bleibt. Wenn er nicht mit staatlicher Macht und politischer Gewalt, mit klerikalem Gepränge und bürgerlichem Sozialdruck daherkommt, sondern wenn er sanftmütig ist. Deshalb ist es so wichtig, dass Christen auf Christus schauen und von seiner Sanftmütigkeit lernen: »Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen.« Ruhe finden für unsere Seelen, das wäre schön: endlich Ruhe finden, sich lösen von Daseinskampf und...

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