Glücklich sein für sich
und andere
Warum ist das Leben voll von Schwierigkeiten und unnötigem Leiden? Warum werden wir geboren und zu welchem Zweck? Und warum müssen wir sterben? Warum haben wir so viele Verpflichtungen, und was ist der Unterschied zwischen Gut und Böse? Wenn wir Gottes Schöpfung sind, ist es wahr, dass wir seinen Regeln folgen sollen und er uns dafür ein ewiges Leben im Himmel verspricht? Macht das wirklich Sinn? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Und wenn wir nicht von einem Gott geschaffen wurden, wer sind wir dann, und warum sollten wir jegliche Regeln befolgen?
DAS RAD DES LEBENS
Alle Religionen und Glaubenssysteme versuchen, uns Antworten auf diese Fragen zu liefern. Am interessantesten ist dabei wohl, dass der Buddhismus die Kluft zwischen Leben und Tod, wie sie von den monotheistischen Religionen beschrieben wird, nicht als solche versteht. Im Christentum ist der Tod ein finales Ereignis, dem ein Gericht folgt, das entscheidet, ob die Seele in den Himmel oder in die Hölle geht. Nach dem wissenschaftlichen oder materialistischen Weltbild ist unser Tod das Ende unseres Lebens, nach dem alles vorbei ist und unser Körper verwest. Im Buddhismus gibt es keine so dramatische Sichtweise auf den Tod. Aus buddhistischer Sicht leben und sterben wir die ganze Zeit. Es ist das sogenannte Samsara, der leidvolle Kreislauf von Geburt, Tod und Wiedergeburt, der eindrucksvoll im Bhavachakra dargestellt wird, einem Gemälde, das in vielen tibetischen Klöstern zu finden ist. Das Bhavachakra zeigt das Rad unserer zyklischen Existenz.
Laut dieser Darstellung werden wir seit zahllosen Ewigkeiten in sechs unterschiedlichen Welten oder Existenzformen wiedergeboren. Drei dieser Welten sind angenehm und wünschenswert und drei weitere sind schmerzhaft und beängstigend. Aber alle sechs Welten repräsentieren unser Leben im Samsara, d. h. einem Leben, dass unvermeidlich voller Leiden ist und in dem auf jeden Tod eine Wiedergeburt folgt, bis wir die Erleuchtung erlangen und uns aus diesem Kreislauf befreien können.
Das fasst den Buddhismus als Religion relativ einfach zusammen. Aber woran wir mehr interessiert sind, ist, was uns diese Welten über unser Leben im Hier und Jetzt verdeutlichen. Die drei höheren Welten sind die Welten der Götter, der Halbgötter und der Menschen. Die Götter repräsentieren Menschen, die ein sehr angenehmes, vergnügliches Leben im Überfluss führen. Wir können dabei an Buddha selbst denken, der als Sohn eines Königs in einem prunkvollen Palast aufwuchs, oder wir denken an neuzeitliche Beispiele wie Präsidenten oder Personen, die in reiche Familien geboren werden usw.
All jene, die in die Welt der Götter geboren werden, sind der Befreiung sehr nahe, sind aber auch stark gefährdet, Habgier und Süchten zu unterliegen, die ein vergnügliches Leben mit sich bringen kann. In Folge dessen können sie ein solch unmoralisches Verhalten zeigen, dass sie in niederen Welten wiedergeboren werden. Die Welten der Menschen und Halbgötter werden auch als höhere Existenzformen angesehen, da jeder Einzelne in diesen Welten der Erleuchtung nahe ist und sich somit von weiteren Wiedergeburten und weiterem Leid befreien kann.
Wenn wir unsere eigene Situation betrachten, dann finden sich wohl viele von uns in den höheren Welten wieder. Wir sprechen hier nicht von Religion, sondern von der Realität unseres Lebens. Aus rein materialistischer Sichtweise können wir sehr wohl einen Bezug zu den Göttern, Menschen und Halbgöttern erfahren, haben wir doch Zugang zu einem Überfluss an Nahrungsmitteln, materiellen Gütern und anderem Vergnügen. Und doch können wir psychologisches Leid erfahren. Wir haften an unseren Besitztümern an, oder wir wollen immer mehr haben. Oder wir leiden schlichtweg aufgrund von Krankheiten, Einsamkeit, Konflikten, dem Älterwerden usw. Im Buddhismus geht es darum, einen Weg zu beschreiten, der dem Ziel dient, jegliches Leiden zu beenden.
Es war einmal eine junge Frau, die mit ihrem kleinen Sohn in der Wüste des alten Indiens lebte. Eines Tages kam ein Dieb zu ihrem Haus und stahl ungesehen all ihre Kleider. Als er sich gerade davonstehlen wollte, sah er ihren jungen Sohn, wie er Wasser aus einem Glas trank. In dieser Wüste gab es kein Wasser, und der Dieb verspürte großen Durst.
Er wand sich die Kleider um seinen Kopf und Körper und tat, als sei er ein Geist, um den Jungen zu verängstigen und dessen Wasser zu trinken. Nachdem er das Glas bis auf dem letzten Tropfen geleert hatte,
verschwand er. Der Junge jedoch starb an seinem Durst, und die Mutter sprang, überwältigt von Ihrer Trauer, in einen trockenen Brunnen und starb ebenfalls.
Einer vedischen Legende nach wurde der Dieb aufgrund dieser Sünde zu einem Geist mit einem Mund so klein wie ein Nadelöhr und einem Körper so groß wie ein Berg. Auch wenn er essen kann, wird er doch nie satt. Und auch wenn ihn sein Hunger quält, so bleibt sein Mund klein und eng. So wurde der Dieb zum ersten hungrigen Geist, den es je gab.
Die drei niederen Existenzformen sind die Welten der Tiere, der hungrigen Geister und der Höllenwesen. Wenn Sie in der Welt der Tiere wiedergeboren worden sind, dann könnten Sie dieses Buch nicht lesen; Sie würden Ihr Leben damit verbringen, nach Futter zu suchen, und Sie müssten vorsichtig sein, nicht von anderen Tieren gefressen zu werden. Selbst domestizierte Tiere haben oft kein leichtes Leben, werden Sie doch nicht selten schlecht behandelt, von ihren Familien getrennt, um mit dem Menschen zu leben oder für ihr Fleisch getötet. Wenn Sie nicht als Hund in einer netten Familie mit großem Garten leben, ist es nicht unbedingt eine Welt, in der Sie wiedergeboren werden möchten, oder?
Die hungrigen Geister sind Wesen, die nicht einmal einen Körper haben und metaphorisch mit einem niemals zu stillenden Durst und Hunger beschrieben werden. Sie werden als Wesen mit einem sehr großen Bauch, aber einem sehr langen und dünnen Hals dargestellt. Sie hungern die ganze Zeit und sind niemals in der Lage, satt und befriedigt zu sein. Die hungrigen Geister sind psychologisch gesehen eine sehr interessante Gruppe. Wir alle kennen sicher einen hungrigen Geist, jemanden, der nie zufrieden ist, oder wir können den hungrigen Geist in uns selbst erkennen, zum Beispiel, wenn wir bei einem Buffet so viel essen, dass uns der Bauch schmerzt. Das gleiche Verhalten und die sich nie einstellende Zufriedenheit kann sich auch in unserem Umgang mit Geld, Drogen, Sex, Ruhm, Reichtum usw. zeigen.
Im Buddhismus ist die Welt der Höllenwesen ein Ort, an dem wir gefoltert, in kochendes oder eiskaltes Wasser geworfen werden. Ein Ort, an dem wir die grausamsten und unerträglichsten Qualen erleiden müssen. Diese Hölle existiert, und leider leben unzählige Menschen in einer Situation, die dieser Hölle stark ähnelt. Zahllose Kinder werden in Kriegsgebieten geboren, Menschen werden vergewaltigt, gefoltert und getötet. In einer solchen Lebenssituation wünscht man sich doch als Kuh, wildes Pferd oder gar als Insekt in der Welt der Tiere wiedergeboren zu werden. Die Hölle kann aber auch rein psychologisch erlebt werden. Psychologisches Leiden kann so unvorstellbar schmerzhaft sein, dass das Beenden des eigenen Lebens manchmal als einziger Ausweg erscheint. Auch das ist die Höllenwelt.
Dieses Bild der sechs Welten gestattet es uns, unsere Situation realistisch und aus einer anderen Perspektive zu sehen. Sie mögen zum Beispiel eine Person aus dem Mittelstand sein und darunter leiden, dass Sie keinen Sinn in Ihrem Leben finden, aber wenn Sie Ihr Leiden aus der Perspektive eines fühlenden Wesens betrachten, das in der Welt der Tiere oder der Höllenwesen geboren wurde, dann können Sie sicher erkennen, wie privilegiert Sie sind. Es ist Teil der buddhistischen Weisheit, den Blick zu weiten und von der eigenen Situation auf das Leiden vieler anderer zu lenken, die sich womöglich in einer sehr viel schwierigeren Situation befinden.
Die sechs Welten des Bhavachakra können ebenso die Zyklen und Veränderungen unserer eigenen Psyche beschreiben. In einem einzigen Leben kann ein Mensch durch viele dieser Welten wandern. Stellen Sie sich zum Beispiel jemanden vor, der Präsident eines Landes ist oder Chef einer großen Firma (Welt der Götter) und bei illegalen Geschäften entdeckt wird und ins Gefängnis muss (Höllenwelt). Nach einer langen schmerzhaften Zeit besteht auch für eine solche Person die Möglichkeit, wieder in der Welt der Menschen oder Halbgötter anzukommen. Die Geschichtsbücher sind voll mit Beispielen von unglaublichen Niedergängen und Aufstiegen. Nelson Mandela verbrachte 27 Jahre im Gefängnis, um schlussendlich Präsident seines Landes und ein Vorbild für die ganze Welt zu werden. Seine Heiligkeit der Dalai Lama war erst 24 Jahre alt, als er um sein Leben fürchten und 1959 von Tibet über den Himalaya ins indische Exil fliehen musste. 30 Jahre später erhielt er den Friedensnobelpreis und lehrt seither die Menschen weltweit Frieden und Mitgefühl.
Natürlich gibt es auch Geschichten von Menschen, die auf der Spitze ihres Erfolgs tief fallen. Ein gutes Beispiel dafür ist Sokrates, der als berühmter Gelehrter von Athen zum Tode verurteilt wurde und erst durch die späteren Schriften seiner Anhänger wie z. B. Plato unsterblich wurde. Siddhartha Gautama, als Prinz im Überfluss geboren, verließ seinen Palast, wurde ein Bettler in den Straßen Indiens und erlangte nach Jahren der Suche die Erleuchtung. Nun wird er Buddha genannt und zählt zu den herausragenden Lehrern der Geschichte und Begründer der buddhistischen Philosophie.
Ihr...