Der erste Schritt zur Selbstliebe:Achtsamkeit
Weil ich mich liebe, achte ich auf mich
Wer Liebe lernen will, bleibt immer Schüler.
– O.C. Bernhardi
Die zwei Töchter
In einem Dorf lebte eine einst alte Frau, die von den Dorfbewohnern nur »Weinendes Weib« gerufen wurde, weil sie immer weinte, egal, ob es regnete oder ob die Sonne schien. Nasruddin besuchte eines Tages das Dorf und hörte von dieser Frau. Sogleich fragte er sie, warum sie denn immer weine. Sie antwortete: »Meister, ich habe zwei Töchter. Die Jüngere verkauft Regenschirme, die Ältere Strohschuhe. Wenn es regnet, dann denke ich an meine ältere Tochter, die keine Strohschuhe verkaufen kann, weil das Wetter schlecht ist. Wenn die Sonne scheint, dann denke ich an meine jüngere Tochter, die keine Regenschirme verkaufen kann, weil das Wetter gut ist.« Nasruddin erwiderte: »Ab heute denkst du an deine jüngere Tochter, wenn es regnet, und bist glücklich darüber, dass sie ihre Regenschirme verkaufen kann. Und wenn die Sonne scheint, dann denkst du an deine ältere Tochter und freust dich darüber, dass sie Strohschuhe verkaufen kann.« Nach der Begegnung mit dem Meister weinte die Frau an keinem Tag mehr. Sie lächelte, wenn die Sonne schien, und sie lächelte, wenn es regnete. Und schon rief man sie in ihrem Dorf nur noch mit ihrem neuen Spitznamen »Lächelndes Weib«.
Ganz am Anfang auf dem Weg hin zu mehr Selbstliebe steht die Achtsamkeit. Wenn ich damit beginne, mich mit mir und meiner Selbstliebe zu beschäftigen, richte ich meine Aufmerksamkeit immer mehr auf mich selbst. Ich beobachte mich genauer, ich achte auf mich. Diese Fokussierung auf mich selbst lässt mich erst erkennen, was meine Bedürfnisse sind. Was brauche ich, was fehlt mir gerade am meisten?
Achtsamkeit hilft mir, vielleicht zum ersten Mal wirklich zu bemerken, wie unaufmerksam ich oft mit mir selbst umgehe. Nehme ich mich selbst wirklich wichtig, achte ich tatsächlich auf mich? Sicher noch nicht genug. Auf meiner Prioritätenliste komme ich leider viel zu oft an letzter Stelle. Mit meiner Selbstachtung ist es leider in vielen Lebensbereichen noch nicht sehr weit her.
Selbstliebe beginnt bei der Selbstachtung.
Denn wie gehe ich zumeist im Alltag mit mir und meinen Bedürfnissen um? Jedem von uns stehen nur ganz bestimmte Ressourcen an Energie zur Verfügung, und es steht uns prinzipiell frei, diese so einzusetzen, wie wir es gern möchten. Dummerweise nutzen wir aber diese Möglichkeit zumeist nicht und achten auf alles, nur nicht auf uns selbst. Wie die Frau in der Geschichte am Anfang dieses Kapitels blicken wir oft auf die falschen Dinge und übersehen dabei die wirklich wichtigen. Und dann wundern wir uns, dass wir unglücklich sind.
Deshalb ist Achtsamkeit so wichtig. Sie kann uns zeigen, was uns guttut. Und sie hilft uns dabei, uns dieses Gute dann selbst zu schenken. Im Seminar vergleiche ich Selbstliebe gern mit einem Brunnen, der überfließt und der mit seinem Wasser dann die Umgebung bewässern und bereichern kann. Wenn wir uns selbst lieben, fließt die Liebe in uns sinnbildlich über. Wir sind dann ganz gesättigt von ihr. Ganz selbstverständlich haben wir immer Liebe übrig und zur Verfügung. Die Liebe sorgt in uns für Überfluss.
Fehlt es dagegen an Selbstliebe, ist der Brunnen trocken. Es ist zu wenig Wasser vorhanden, und dieses bisschen behalten wir sicherheitshalber lieber für uns. Wenn wir etwas abgeben, dann nur, wenn wir sicher sind, dass wir es auch wieder zurückbekommen. Statt Überfluss herrscht in unserem Brunnen eher der Mangel vor. Ein wichtiger Satz zur Selbstliebe lautet darum:
Ich kann anderen Menschen nur geben, was mir selbst zur Verfügung steht.
Wenn ich gut auf meinen Brunnen achte und auf ihn aufpasse, habe ich genug Wasser. Nur dann kann ich anderen Menschen von ihm abgeben. Andernfalls lebe ich in einem Gefühl von Mangel. Meine Achtsamkeit richtet sich darum zuerst einmal auf mich. Wo soll die Liebe zu anderen denn auch herkommen, wenn wir zu wenig auf uns selbst achten?
Viele meiner Teilnehmer kommen mit einem Missverständnis ins Seminar. Sie denken, Liebe zeige sich vor allem darin, dass man sich selbstlos um andere kümmert. Sie verstehen den Satz der Bibel falsch: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Sie meinen, erst müssten sie anderen ganz viel geben, damit sie es überhaupt verdienen, selbst etwas zurückzubekommen. Sozusagen als Tauschhandel.
Liebe wird oft missverstanden als reiner Dienst am anderen.
Liebe in dieser Form führt jedoch schon bald zu einer Abhängigkeit vom anderen. Wenn ich das wenige, was mir an Liebe zur Verfügung steht, immer an andere weitergebe, wird mein Brunnen immer leerer. Ich fühle mich nicht gut dabei. Also erwarte ich, dass die von mir geliebten Menschen mir in ebensolcher Weise Liebe zurückgeben, damit mein Brunnen wieder etwas voller wird. Solche Beziehungen funktionieren nach dem Motto: »Ich liebe dich, wenn du mich liebst.« Und umgekehrt: »Liebst du mich nicht, dann liebe ich dich auch nicht.«
Wer seine Liebe nur anderen schenkt, lebt bald selbst im Mangel.
Weil wir nicht genügend auf uns achten und uns darum selbst zu wenig Liebe und Aufmerksamkeit schenken, ist in unserer heutigen Welt Hektik zu unserem ständigen Begleiter geworden. Die Menschen hasten von Termin zu Termin und laufen ständig hinter etwas her. Sie haben einfach keine Zeit mehr. Wenn selbst unsere Freizeit durchgetaktet ist und es oft Wochen dauert, bis wir einen guten Freund mal wieder treffen, stimmt doch offenbar etwas ganz grundsätzlich nicht.
Diese Entwicklung beginnt schon bei unseren Kindern. Im neuen System unserer Gymnasien, das einige Jahre ausprobiert worden ist, sollten die Jugendlichen in acht statt neun Jahren zum Abitur gebracht werden. Der Lernstoff der Klasse, die so eingespart wurde, kam einfach in den anderen Schuljahren noch obendrauf. Das bedeutet selbstverständlich für die Schüler, dass sie noch weniger Freizeit haben. Als die ersten Abschlussjahrgänge dieses G8-Schulsystems ihr Abitur machten, kam, was kommen musste. Diese Jugendlichen waren so ausgebrannt, dass sie erst mal ein Jahr gar nichts machen wollten. Von wegen, ein Jahr gewonnen! Es stellte sich heraus, den Schülern war vor allem die Freude am Lernen verleidet worden. Zum Glück haben jetzt viele Bundesländer begonnen, wieder auf das alte G9-System umzustellen. Was für ein Segen!
Was kann ich also tun, wenn mein Terminkalender überquillt? Ich beginne, mir mehr Zeit für mich zu nehmen! Das darf ganz klein anfangen.
Beginnen wir doch ganz naheliegend, beim morgigen Tag. Wenn du morgen bei deiner Arbeit bist, belohne dich für eine kleine Aufgabe, die du abgeschlossen hast, mit einer kurzen Pause. Gönne es dir, einmal kurz am Schreibtisch aufzustehen und kurz durchzuatmen. Nur wenige Minuten können bereits genügen, um dich zu entspannen. Vielleicht machst du dir einen Tee, gehst kurz auf den Balkon oder nach draußen. Atme die frische Luft und tank wieder ein wenig auf. Wenn du danach die nächste Aufgabe deiner täglichen Arbeit angehst, wirst du sie mit viel mehr Elan und Freude tun!
Achte darauf, deine Mittagspause morgen wirklich zu zelebrieren. Versuche dabei, aus der Hast des Alltags einen Moment lang auszubrechen. Jetzt ist Pause! Spaziere eine Runde durch den Park oder finde irgendwo eine Möglichkeit, ganz für dich zu sein, um zu entspannen. Hier kannst du Kraft sammeln, die dir für den restlichen Tag von Nutzen sein wird.
Schau dann beim Arbeitsende einmal zurück, wie dieser Tag sich für dich gestaltet hat. Was war anders? Wenn es dir gefallen hat, dann schenk dir doch immer wieder solch einen Tag mit kleinen Pausen. Es muss ja nicht jeden Tag sein. Aber immer öfter.
Wer sich selbst liebt, gestattet sich eine Pause.
Ich finde, wir können da sehr viel von der Natur lernen. Schauen wir uns doch zum Beispiel einmal einen Apfelbaum an, wie er durch die Jahreszeiten geht. Vor dem Fenster meines Büros steht ein Exemplar in meinem Garten. Im Frühling treibt er Knospen, bekommt seine Blätter und beginnt zu blühen. Er wird wieder grün. Dann fangen seine Äpfel an zu wachsen, und im Sommer ist Erntezeit. Seine Arbeit ist getan. Im Herbst verliert er seine Blätter, im Winter ruht er sich aus. Er macht eine lange Pause, bevor er im Frühling wieder aufs Neue mit seiner Arbeit beginnt. Machen wir es doch ebenso! Es gibt eine Zeit für die Arbeit und eine Zeit, sich zu erholen und neue Kräfte zu sammeln!
Eine Freundin von mir ist vor ein paar Jahren Heilpraktikerin geworden. Sie arbeitete früher Vollzeit in einer Bank. Sie sagte, heute, mit Mitte fünfzig, wäre sie gar nicht mehr dazu in der Lage, einen Vierzig-Stunden-Job auszuüben. Denn mit Hin- und Rückfahrt zur Arbeit war sie, auch ohne Überstunden, gut und gern 50 Stunden aus dem Haus. Und bei ihrer Rückkehr fühlte sie sich oft wie gerädert und lustlos. Sie schleppte sich von Wochenende zu Wochenende und freute sich vor allem auf den Urlaub.
Während einer längeren Erkrankung fasste sie dann den Entschluss, ein anderes Arbeitsmodell zu finden. Ihr Mann, der selbstständiger Installateur ist, unterstützte sie dabei. Heute erledigt sie für ihn die Büroarbeiten und hat außerdem eine eigene Praxis eröffnet. Sie kann zu Hause arbeiten, sodass die langen Wege zur und von der Arbeit entfallen.
Viele andere meiner Freunde haben sich ähnliche Modelle gesucht. Manche arbeiten nur noch vier statt fünf Tage, was viele Arbeitgeber mittlerweile auch befürworten. Andere haben ein Homeoffice und müssen nur noch tageweise...