2. Eine Nahtoderfahrung und das Leben danach
Hier ist ein Test, um herauszufinden, ob deine Mission auf Erden schon beendet ist: Solange du noch lebendig bist, ist sie es nicht.1
RICHARD BACH, SCHRIFTSTELLER
Ich möchte dieses Buch mit der Schilderung einer charakteristischen Nahtoderfahrung sowie des mühsamen Verarbeitungsprozesses, der sich an sie anschließt, beginnen. Diese NTE wurde von einer schweren Komplikation während einer Entbindung ausgelöst.
»Am 23. September 1978 bekomme ich die ersten Wehen. Zu der Zeit bin ich im neunten Monat schwanger und erwarte, wie sich später herausstellen wird, unsere zweite Tochter. Bis dahin war es eine Bilderbuch-Schwangerschaft. Nach einiger Zeit machen sich mein Mann und ich gemeinsam mit der Hebamme auf den Weg ins Krankenhaus. Dort fährt man mich in den Kreißsaal. Regelmäßig hört mich die Hebamme mit einem großen hölzernen Hörrohr ab. Es kommt zum Blasensprung. Im Kreißsaal wird es ganz still. Alle laufen hin und her. Sie sprechen hastig und leise miteinander. Auf meine Frage, was denn los sei, erhalten weder ich noch mein Mann eine Antwort. Die Wehen setzen aus, aber mir geht es gut. Mittlerweile sind auch der Gynäkologe und weitere Pflegekräfte eingetroffen. Wir haben keine Ahnung, was vor sich geht. Sie sagen mir, ich solle pressen. ›Ich habe keine Presswehen!‹ Da stimmt etwas nicht. Sie hantieren mit Zangen, Scheren, Behältnissen und Decken. Mein Mann kippt um. Er wird aus dem Kreißsaal gebracht und auf den Flur gelegt.
Plötzlich bemerke ich, dass ich von oben auf eine Frau hinabschaue, die auf dem Bett liegt, ihre Beine ruhen auf Stützen. Ich sehe die Panik der Pflegekräfte und Ärzte, ich sehe eine Menge Blut auf dem Bett und auf dem Boden und große Hände, die sehr fest auf ihren Bauch drücken, und dann sehe ich, wie sie von einem Kind entbunden wird.
Das Kind wird sofort in einen anderen Raum gebracht. Die Pflegekräfte wirken niedergeschlagen. Alle warten. Mit einem harten Schlag fällt mein Kopf nach hinten, als man mir das Kopfkissen mit einem Schwung wegzieht. Wieder sehe ich, wie hektische Betriebsamkeit aufkommt. Schnell wie ein Pfeil schieße ich durch einen dunklen Tunnel. Ein intensives friedliches und seliges Gefühl durchströmt mich. Ich fühle mich von Grund auf zufrieden, glücklich, ruhig und friedvoll. Ich höre herrliche Musik. Ich sehe schöne Farben und eine große Wiese mit herrlichen Blumen, in allen nur denkbaren Schattierungen. In der Ferne leuchtet ein schönes, helles, warmes Licht. Dort muss ich hin. Ich sehe eine Gestalt in einem lichten Gewand. Sie wartet auf mich und streckt mir ihre Hand entgegen. Ich fühle, dass sie mich herzlich und liebevoll empfängt. Hand in Hand gehen wir auf das schöne warme Licht zu. Dann lässt sie meine Hand los und dreht sich um. Ich spüre, wie mich ein Sog zurückzieht. Ich muss zurück. Ich merke, wie eine Krankenschwester mich hart auf die Wange schlägt und mich ruft.
Nach einiger Zeit (?) weiß ich wieder, wo ich bin, und ich weiß auch, dass es nicht gut um mein Kind steht. Unsere Tochter ist nicht mehr am Leben. Was für eine schmerzhafte Rückkehr! Und wie gerne möchte ich wieder zurück nach … ja wohin eigentlich? Doch diese Welt geht weiter.
Die medizinische Ursache meiner NTE war der Blutverlust, der während der Geburt aufgetreten war. Das Pflegepersonal hatte ihn zunächst nicht oder nicht richtig bemerkt. Wahrscheinlich weil sich alle so darauf konzentriert hatten, das Kind zur Welt zu bringen. Erst im letzten Moment traf man die notwendigen Maßnahmen, man zog mir das Kissen unter dem Kopf weg und versorgte mich mit Blut … Aber das habe ich alles nicht mehr gesehen. Denn in diesem Moment war ich schon im Paradies.
Bei meiner Rückkehr aus jener schönen Welt, von dieser schönen Erfahrung, erlebte ich den Empfang hier, in dieser Welt, kühl, frostig und vor allem lieblos. Die Pflegekraft, der ich erzählen wollte, wie viel Schönes ich erlebt hatte, tat meinen Versuch nur mit der Bemerkung ab, gleich bekäme ich meine Medikamente, dann könne ich gut schlafen und schon bald sei alles vorbei! Vorbei? Vorüber? Das wollte ich überhaupt nicht. Ich wollte ja gerade, dass es nicht vorüber, nicht vorbei war. Ich wollte zurück an diesen Ort. Der Gynäkologe erklärte mir, ich sei noch jung und könne noch genug Kinder bekommen, ich solle einfach weitermachen und nach vorne schauen.
Ich erzählte meine Geschichte niemandem mehr. Ich fand es ohnehin schon schwierig genug, meine Erfahrung in Worte zu fassen. Wie hätten denn Worte beschreiben können, was ich erlebt hatte? Aber was nun? Wem konnte ich meine Geschichte denn dann mitteilen? Was war mit mir los? War ich verrückt geworden?
Der Einzige, dem ich meine Geschichte bis zum Gehtnichtmehr erzählen durfte, war mein Mann. Er hörte zu und stellte Fragen. Aber er wusste auch nicht, was ich eigentlich erlebt hatte, was ich damit anfangen sollte, wie man so etwas nannte und ob ich die Einzige war, die eine solche Erfahrung gemacht hatte. Wie froh war ich damals und wie froh bin ich heute noch, dass er so gut zuhören konnte. Meine NTE hat meine Beziehung nicht gefährdet. Und ich weiß heute, wie ungeheuer wertvoll das ist. Das ist wirklich bedingungslose Liebe! Aber ich fühlte mich, als sei ich die Einzige, die so etwas erlebt hatte. Kein Mensch fragte mich danach, niemand wollte etwas wissen. Nun war das in meinem Fall auch nicht gerade einfach, denn wie soll man reagieren, wenn man eine Geburtsanzeige erwartet und dann eine Trauerkarte erhält? Das ist für viele Leute schon schwierig genug, und wie viel schwieriger ist es erst, einer Erfahrung, wie ich sie gemacht hatte, Gehör zu schenken.
Ich lebte damals wie ein Roboter. Ich kümmerte mich zwar um meinen Mann und unsere älteste Tochter, und ich ließ den Hund raus, aber ich war nicht bei der Sache. Ich war mit meiner Erfahrung beschäftigt. Wie kam ich wieder an diesen Ort? Wo konnte ich diese schöne Musik hören, diese schönen Farben sehen, diese schönen Blumen finden, dieses schöne Licht sehen, wo konnte ich so viel bedingungslose Liebe erfahren? War ich denn verrückt, weil ich mir solche Gedanken machte? Was war mit mir los?
Als wichtigen Hinweis für alle professionellen Helfer schrieb ich in meiner Diplomarbeit: ›Wie dankbar wäre ich damals gewesen, wenn ich nur ein Prozent der vielen Ratschläge bekommen hätte, die heute in Büchern und Artikeln über NTE zu finden sind!‹ 1978 war die Betreuung noch nicht auf dem heutigen Stand, denn außer den Pflegekräften, dem Gynäkologen und der Hebamme kümmerte sich niemand um mich. Mein Hausarzt hat mich nicht besucht, auch nach Wochen nicht. Er hat nie Kontakt zu mir aufgenommen. Ob er wohl davon ausging, dass mit mir alles in Ordnung sei? Auch ich ging nicht zu ihm, denn was hätte ich ihm erzählen sollen? Ich war zu dem Schluss gekommen, dass meine Erfahrung nicht normal sei und ich besser den Mund halten sollte. Die Kontrolluntersuchung beim Gynäkologen verlief normal. Mechanisch funktionierte ich noch, das reichte aus. Ich wurde nichts weiter gefragt.
Und ich schwieg.
Jahrelang verbrachte ich mein Leben schweigend und suchend. Und als ich endlich in der Bibliothek auf ein Buch stieß, in dem etwas über eine NTE stand, konnte ich mir selbst nicht mehr vorstellen, dass ich eine solche Erfahrung gemacht hatte. Das war doch nicht möglich? Ich glaubte mir selbst nicht mehr. Nur sehr, sehr langsam brachte ich den Mut und die Kraft auf, mir selbst zu vertrauen und meine Erfahrung als real anzusehen. Und erst von da an konnte ich sie allmählich akzeptieren und in mein Leben integrieren. Das war nicht einfach. Im Laufe der Jahre hatte ich eine wirkungsvolle Überlebensstrategie, oder besser gesagt, Fluchtstrategie entwickelt. Ich floh vor meinen Gefühlen und floh damit vor mir selbst. Ich halste mir immer mehr Arbeit auf und fing fanatisch an, Sport zu treiben, bezeichnenderweise zu laufen. Wie sinnig! Lief ich nicht auch vor mir selbst und meiner NTE davon? Das ging in den ersten Jahren noch gut, auch aus der Sicht anderer: Ziemlich oft stand ich mit Blumen in der Hand auf dem Siegertreppchen, doch das waren nicht die Blumen, nach denen ich auf der Suche war. Ich bekam immer mehr Schwierigkeiten mit den Ansichten anderer, mit den Auffassungen meiner Arbeitskollegen. Ich geriet immer mehr in Konflikt mit mir selbst, mit dem, was ich fühlte und wusste. Alles wurde immer schwieriger.
Mein Körper rebellierte. Aus Überlastung, Überanstrengung und dem Gefühl, ausgebrannt zu sein, entwickelte sich eine Depression. Ich begann eine Behandlung bei einem homöopathisch orientierten Psychologen. Das war sicher kein Zufall, denn er ist der erste professionelle Helfer, der sich meine Geschichte, meine Erfahrung anhörte. Er glaubte mir auch und fand sie normal! Aber heute liegt meine NTE schon ungefähr zwanzig Jahre zurück! Er riet mir mein Erlebnis zu zeichnen, es schriftlich festzuhalten, mich unbedingt irgendwie damit zu beschäftigen. Mit ihm habe ich mich auf eine spannende Reise zu mir selbst begeben. Alles erscheint nun akzeptabel und normal. Ich merke, dass ich nicht verrückt bin, wohl aber, dass mich meine NTE verändert hat. Ich habe nun überhaupt keine Angst mehr vor dem Tod; ganz anders als in den Jahren vor meiner NTE. Jahre, in denen ich mit dem Tod und der Furcht vor dem Tod gerungen habe. Ich habe nun Schwierigkeiten mit der Zeitvorstellung. Immer vergesse ich die Zeit, ganz im Gegensatz zu früher, als ich ständig nach der Uhr lebte. Nun ist mir Materielles nicht mehr so wichtig. Es zählt für mich nur bedingungslose Liebe. Und die fand und finde ich bei meinem Mann. Auch wenn ich kürzlich erst wieder in einer Studie las, dass es zwischen Menschen keine bedingungslose...