Der »Engagierte Beobachter« und die Zeitdiagnostik
Zur Einführung
»Engagierte Beobachter« sind Experten der Zeitdiagnostik. Der Berliner Religionsphilosoph und Kulturhistoriker Ernst Troeltsch wählte für seine regelmäßigen Kolumnen zur politischen und sozialen Neuordnung Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg mit Bedacht das Pseudonym »Spectator«. Als »einen illusionslosen Beobachter der Dinge« bezeichnete er sich, als er im aufgewühlten Berlin der politischen Attentate im Oktober 1921 die Ermordung des katholischen Zentrumsführers und ehemaligen Reichsfinanzministers Matthias Erzberger kommentierte. »Die Verfassungskrise« war der Artikel überschrieben, in dem Troeltsch die polarisierte Öffentlichkeit zugleich aufklärte, warum für ihn illusionslose Beobachtung alles andere bedeute als Standpunktlosigkeit in den Ideenkämpfen der frühen Weimarer Republik. Das Gegenteil sei der Fall. Wer die Befestigung der Demokratie, den Ausgleich mit den Siegerstaaten, die soziale »Hebung der Massen« und den »Kampf gegen die Teuerung« wollte, wer »an einem dieser Punkte wesentlich interessiert war, der wurde an diese Seite gedrängt und für das Ganze mitengagiert«. [1] Troeltsch war in den Zeiten des Bürgerkriegs und der Dauerkrisen der Republik höchst interessiert und engagiert. Gerade deshalb schien ihm die distanzierte Beobachtung der angemessene Ort eines politischen Publizisten zu sein, der Philosoph von Beruf ist und in welthistorischen Dimensionen denkt.
Wie Troeltsch wissen die »engagierten Beobachter« des 20. Jahrhunderts darum, dass die Einsicht in historische Entwicklungslinien immer einen Standpunkt in der Gegenwart voraussetzt, dass sie aber ihre politischen Werte und Urteile nicht unmittelbar aus dem Verlauf der Geschichte ableiten können. Engagierte Beobachter der modernen Zeiten und ihrer Krisen leben und schreiben im Bewusstsein dieser nicht lösbaren Spannung. Wie sie damit umgehen, darum geht es in diesem Buch an ausgewählten Beispielen.
Geschichte und Politik, was bindet diese beiden Welten zusammen, was hält sie auseinander? Und was tun historische Denker, wenn sie Gegenwartsdiagnostik betreiben? In der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts hat die Figur des »engagierten Beobachters«, des »spectateur engagé« oder des »committed observer« deshalb ihren besonderen Ort, weil sie sich diesem Problem in besonderer Intensität gestellt hat.
Der französische Philosoph Raymond Aron ist der Schöpfer des Sprachbildes vom »spectateur engagé«. In seinen »Mémoires – 50 ans de réflexion politique« von 1983, übersetzt unter dem treffenden Titel »Erkenntnis und Verantwortung«, [2] beschreibt Aron seine Erfahrungen als Lektor in Deutschland zwischen 1931 und 1933, seine intensive Auseinandersetzung mit der an Kant geschulten Geschichtsphilosophie und mit dem Denken Max Webers. In dieser Zeit beobachtete er die Zerstörung der Weimarer Republik und die nationalsozialistische Machtübernahme. In Berlin wurde er unmittelbar Zeuge der Bücherverbrennungen vom 10. Mai 1933. [3] Diese Erfahrungen trieben ihn an, quer zum Mainstream der französischen Intellektuellen über das Verhältnis von Geschichte und Gegenwart nachzudenken und als Gegenpol zu seinem Studienfreund und »petit camérade« Jean-Paul Sartre den Habitus des »engagierten Beobachters« zu entwickeln: »Weil ich ein engagierter Beobachter sein wollte, war ich es mir schuldig, die Beziehungen zu klären zwischen dem Historiker und dem handelnden Menschen, zwischen der Kenntnis der sich entwickelnden Geschichte und den Entscheidungen, die der historische Mensch zu treffen gezwungen ist.« [4]
Im Kern ist hier der »engagierte Beobachter« definiert durch eben jene Spannung zwischen wissenschaftlicher Beobachtung der historisch-sozialen Welt und politischem Handeln in dieser Welt, wie sie bei Troeltsch bereits zum Ausdruck kam. Sie beruht auf einer europäischen Grunderfahrung an der großen Kulturschwelle um 1900, der Übergangsphase in die »Moderne«, in der auch Arons geistiger Mentor Max Weber wirkte. Das Signum der »Moderne« ist nicht die Beschleunigung aller Lebensrhythmen als solche, als die sie gern charakterisiert wird. Es ist die »Vielfalt«, die Pluralität und die Gegensätzlichkeit der Lebensentwürfe und Lebensordnungen. In den demokratisierten Massengesellschaften führt das zwangsläufig zu Dauerspannungen zwischen konträren Ordnungsideen und zu dauerhaften Ideen- und Geltungskämpfen, vorneweg in den Metropolen von Paris, London, Wien oder Berlin.
Voller Erstaunen hielt ein sensibler Europareisender wie der amerikanische Schriftsteller Henry Adams angesichts der technischen und kulturellen Leistungsschauen der rivalisierenden Industrienationen auf der Pariser Weltausstellung von 1900 fest: »Das Kind, das 1900 geboren wurde, würde also in eine neue Welt hineingeboren werden, die keine Einheit, sondern eine Vielfalt darstellen würde.« Die neue Welt der Moderne biete nicht mehr die Sicherheit eines »Universums«, in dem die Geschichte Lehren für die Gegenwart bereitstellt. Das »Kind« der Moderne wird sich in den unübersichtlichen Verhältnissen eines »neuen Multiversums« zurechtfinden müssen. [5]
Der »engagierte Beobachter« ist auf konsequente Weise ein solches »Kind« der modernen Unübersichtlichkeiten zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Und niemand hat sich an diesem Typus als Essayist und Romancier so wortmächtig abgearbeitet wie der studierte Ingenieur und Philosoph Robert Musil.
Wenn die »Geschichte« für den »modernen Zivilisationsmenschen« eine Erfahrung bereithalte, so schrieb Musil nach dem Ersten Weltkrieg in einem Essay über »Das hilflose Europa«, dann die, dass die Gegenwart zwangsläufig eine Zeit »ohne große ordnende Gesichtspunkte« [6] sei: »Es ist ein babylonisches Narrenhaus; aus tausend Fenstern schreien tausend verschiedene Stimmen, Gedanken, Musiken gleichzeitig auf den Wanderer ein«. [7] Das schürt Dauerkonflikte, weltplanerische Allmachtsphantasien prallen auf fundamentale Zivilisationszweifel. Distanz zum historischen »Gefilz von Kräften« scheint geboten, eine Distanz, welche die Tugenden eines »Mannes ohne Eigenschaften« verlangt.
Ulrich, Musils »Mann ohne Eigenschaften«, ist alles andere als ein Weltflüchtling. Im faszinierenden Kapitel 85, »General Stumms Bemühung, Ordnung in den Zivilstand zu bringen«, [8] geht es um nicht weniger als um die Verfassung der Moderne. Seit der Jahrhundertwende »bewegte sich die Zeit so schnell wie ein Reitkamel«, in den pluralisierten Zeit- und Lebenswelten der Moderne prallen Hunderte »unbeantworteter Fragen von größter Wichtigkeit« [9] permanent aufeinander. Ziellose Beschleunigung und eine »allgemeine Vieldeutigkeit« in allen Lebensbereichen erzwingen die Einsicht: »Es gibt kein Ja, an dem nicht ein Nein hinge.« General Stumm von Bordwehr, ein Alter ego des Protagonisten Ulrich, hat es deshalb unternommen, mit militärischer Präzision in einem »Grundbuchblatt der modernen Kultur« alle miteinander rivalisierenden Ideen zu verkarten. Er verzeichnet »die heute im Gefecht stehenden Gedankengruppen« und hält im Ergebnis die moderne Kultur für einen »Sauhaufen«, weil »wir immer mehr Ordnungen und immer weniger Ordnung« haben. Musils »geschulte Beobachter« [10] der Ideen-Topographie ihrer Zeit stoßen auf das Grundgesetz der Moderne: »Dem gegenwärtigen Zeitalter sind eine Anzahl großer Ideen geschenkt worden und zu jeder Idee durch eine besondere Güte des Schicksals gleich auch ihre Gegenidee, so daß Individualismus und Kollektivismus, Nationalismus und Internationalismus, Sozialismus und Kapitalismus und Pazifismus, Rationalismus und Aberglaube gleich gut darin zu Hause sind.« [11]
Musils »Mann ohne Eigenschaften« erschien in seinen beiden ersten Bänden zwischen 1930 und 1933 in Berlin. Es sind die Jahre des erneuten Bürgerkriegs und der nationalsozialistischen Machtergreifung, [12] die Raymond Aron unmittelbar vor Augen hatte, als er seine Figur des »spectateur engagé« formte. Zwei Medienforscher aus der linken Pariser Intellektuellenszene, Jean-Louis Missika und Dominique Wolton, hat der von Aron gelebte Typus so interessiert, dass sie ihm ein Interview-Buch gewidmet haben: »Es kommt selten vor, daß ein Intellektueller über einen so langen Zeitraum im Hinblick auf so viele Ereignisse und Probleme in so unterschiedlichen Funktionen – als Journalist, Historiker, Philosoph und Soziologe – die sich vollziehende Geschichte – denn die interessiert ihn – zu analysieren versucht, ohne auf eine gewisse kritische Distanz zu verzichten. Diese drei Haltungen, die des Analytikers, des Interpreten und des Handelnden, mit ihren Zwängen, ihren Widersprüchen, ihren Stärken, reizten und faszinierten uns.« [13]
Die Historiker hat es bislang weniger gereizt, sich mit Entstehung und Ausprägungen eines solchen Habitus mit seinen Stärken und Widersprüchen zu beschäftigen. In die Geschichte der Intellektuellen ist die Haltung des »engagierten Beobachters« als eine schwache Haltung eingegangen. So gewährt die maßgebliche Studie von Michel Winock über das 20. Jahrhundert als das »Jahrhundert der Intellektuellen« dem Historiker, Zeitdiagnostiker und Widerstandskämpfer Marc Bloch nur eine einzige nebensächliche Bemerkung. [14] Dabei ist Bloch eine Jahrhundertgestalt. Das Geschichtsdenken revolutionierte er mit Hilfe einer Zeitschrift, die er zusammen mit Lucien Febvre »Annales d’histoire économique et sociale« nannte und...