Wie wir leben
Wer seine Wünsche zähmt,
ist immer reich.
Voltaire
Eine Durchschnittsfamilie in den westlichen Industrieländern besitzt rund 10000 Teile an Inventar, von der Kopfschmerztablette bis zum Fernsehprogramm, vom Schlagbohrer bis zum Wok, von der Dschungelbuchbettwäsche bis zum Dampfbügeleisen, vom ausgestopften Fuchs bis zur Gummibärchenleuchte. Müllhalden, Speicher und Sperrmüllcontainer quellen über. Aber wir kaufen weiter. Ständig werden neue Bedürfnisse geweckt. Jede Generation findet einen neuen Kick. Wer es sich noch leisten kann, kauft. Neue Sportarten, Modetrends und Kommunikationsformen sorgen für neuen Bedarf und lassen neue Geschäftszweige entstehen, deren Ladenkassen klingeln. Selbst für Haushalte, wo es schon alles gibt, werden immer neue Dinge erfunden. Einen elektronischen Garagenöffner oder batterieerwärmten Autoschlüssel mit Minitaschenlampe fürs Schlüsselloch mögen ja schon Hinz und Kunz haben. Doch eine sensorbetriebene Pfeffermühle mit Beleuchtung, einen Staubsauger, der uns mit menschlicher Stimme daran erinnert, daß der Beutel voll ist, oder gar ein Rückfahrwarner, der piepst, wenn der Abstand zur nächsten Stoßstange immer kleiner wird, fehlt vielleicht in manchem Haushalt.
Wenn wir in diesem Tempo weiterkonsumieren, werden unsere Kinder als Erwachsene 20000 Artikel angehäuft haben, unsere Enkel gar 40000. Im Vergleich dazu: Der Indianerstamm der Navajo kommt mit 250 Dingen aus. Diese Zahl errechnete René Frey, Professor für Sozialwissenschaften an der Universität Basel. Und eine Ausstellung des Deutschen Werkbundes mit dem Titel: »Welche Dinge braucht der Mensch?« diagnostizierte die »Not der Konsumenten, alles zu haben, und die Not der Produzenten, kaum noch etwas verbessern zu können«[5]. Es ist eine Form der »Fettlebe« entstanden, die nichts mit Zweckmäßigkeit oder Genuß zu tun hat, sondern mit vermeintlichem Sozialprestige. Man hat gewisse Dinge halt, wenn man dazugehören will. Auch, wenn sie eigentlich total überflüssig sind. »Angesichts dieser Pattsituation wuchert nicht nur die Phantasie der Designer. So manches Stück von zweifelhaftem Nutzen wird dem Kunden als sinnvolle Neuerung angedreht … elektronische Bröselabsauger oder eine Mikrowelle, bei der kleine rote Lämpchen die Beschaulichkeit eines offenen Feuers vorgaukeln. Neue Heinzelmännchen wie der elektrische Entsafter, der Teeautomat oder die Kräutermühle sollen die Küchenarbeit leichter machen, doch Expertinnen wie die Berliner Professorin für Haushaltslehre Gerda Tornieporth haben ihre Zweifel. Das Saubermachen der Kräutermühle kostet mehr Zeit als das Zerkleinern der Kräuter, der Geschmack des Getränks aus dem Automaten ist für Teetrinker eine Zumutung, und die Kräutermühle ignoriert kleine Mengen und schleudert sie an den Rand der Schüssel. Wer Abstellfläche, Zeit und Geld sparen möchte, dem rät Gerda Tornieporth zu einer schönen Teekanne, einem solide gearbeiteten Hackmesser und einem Mörser aus Porzellan.«[6]
Für die, die die Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit nicht erlebt haben, sind exklusive Forderungen an den Alltag eine Selbstverständlichkeit. Man kannte es bis vor kurzem nicht anders. Immer mehr, immer höher, immer weiter. Die Protestgeneration ist zur Generation der Superkonsumenten geworden. Der Satz: »Dafür fehlt uns das Geld«, war lange Zeit aus dem Vokabular gestrichen. Für diese Generation ist der Abbau, der zur Zeit stattfindet, neu und beängstigend. Hat doch nie jemand darüber nachgedacht, daß sich das Rad auch wieder rückwärts drehen könnte.
Aber es gibt ja noch genug, die kaufen können. Und während der Spielraum für Haushaltswaren begrenzt ist, freuen sich neue Zweige im Bereich für Sport und Freizeit wachsender Profite. Alte Sportarten werden neu entdeckt und zum Trend hochstilisiert. Selbstredend, daß von der Unterhose bis zu Schuhen, Anorak und Sportgerät alles aufs I-Tüpfelchen stimmen muß. Das Outfit hat hohen Erkennungswert, und wenn es nicht stimmt, macht man sich lächerlich. »Damit die Erwachsenen durch die Stadt gleiten können, gibt es jetzt einen neu entwickelten Spezialroller – und das dazugehörige Outfit. Ob Snowboard, Gleitschirm, Badmintonschläger oder Trampolin, jede neue Sportart erschließt so einen eigenen Markt bis hin zum Spezialgetränk. Die Branche konnte im vergangenen Jahr zweistellige Zuwachsraten schreiben, weil sich die Mehrheit der Konsumenten selbstverständlich mit eigenem Zubehör auf der Piste zeigen will.«[7] Es gibt heute kaum noch etwas, das nicht outfitmäßig erfaßt ist. Selbst der ganze Schulzubehörbereich ist uniformiert, und Kinder, die schreibmappen- oder tornistermäßig aus dem Rahmen fallen, werden verlacht. Auch der Fachhandel für Informationstechnik und Telekommunikation schreibt schwarze Zahlen. Allein die Zahl der Mobiltelefone wuchs 1996 um 30 Prozent auf 2,6 Millionen Stück, erwartete Zuwachsrate steigend. Für den deutschen PC-Markt sieht es ähnlich aus. »Um einen leistungsfähigen Zugang zur Internet- und Online-Welt zu besitzen, werden Computer ausrangiert, die zum Teil noch nicht mal zwei Jahre alt sind.«[8] Was das an Ressourcen und Energie verschwendet, darüber macht sich niemand Gedanken. Über 3,8 Millionen Tonnen an Sperrmüll wurden 1993 in Deutschland gelagert, verbrannt oder zerkleinert. »Allein die jährlich ausrangierten 130 Millionen Elektrogeräte geben eine Schlange vom Nordkap bis nach Sizilien. Um tausend Deutsche mit Gütern und Dienstleistungen zu versorgen, werden pro Jahr 13700 Tonnen Treibhausgase in die Luft geblasen, die Spediteure kommen auf 4,3 Millionen Tonnenkilometer, und am Ende müssen 187 Tonnen giftiger Sondermüll entsorgt werden.«[9]
Wir schmeißen Dinge immer schneller weg, weil wir mit immer neuen Designs, Farben und angeblich verbesserten Funktionen überhäuft werden. Wer die Flohmärkte in den Tageszeitungen vergleicht, stellt fest, daß der Berg ausrangierter Güter immer größer wird: Die Angebote füllen Seiten, Kaufgesuche nehmen nur einen Bruchteil von diesem Platz ein. Niemand will gebrauchte Sachen kaufen, weil er selbst genug davon hat. Ich selbst habe vor kurzem auf so einem Flohmarkt ein gut erhaltenes Wohnzimmersofa für Selbstabholer angeboten. Obwohl ich keine Mark haben wollte, hat sich niemand gemeldet. Selbst »arme Leute« scheinen noch viel zu haben. Mein Sofa landete also auf dem Sperrmüll.
Fernsehgeräte gehören bereits zur nichtpfändbaren Grundausstattung, ohne die Möglichkeit, E-Mails zu empfangen, gilt man als leicht verschroben. Eierkocher, Toaster, Kühlschrank, Gefrierschrank, Staubsauger und Bügeleisen haben 90 von 100 Haushalten ganz selbstverständlich. Darüber hinaus besitzen die meisten noch Mikrowelle, Dunstabzugshaube, Grillgeräte und Allesschneider. Wenn die Großeltern sterben und es an die Haushaltsauflösung geht, wird vieles verramscht oder landet auf dem Sperrmüll, weil die Enkel selbst schon alles in modernerer, aktuellerer Ausführung haben. Omas alter Kram ist überholt, es sei denn, er ist so alt, daß er als Antiquität gilt und deshalb wieder schick ist.
Im 18. Jahrhundert schrieb der französische Abbé Coyer in einem Pamphlet über den Luxus: »Der Luxus gleicht insofern dem Feuer, als er ebensowohl wärmen als verzehren kann. Wenn er einerseits reiche Häuser zugrunde richtet, so hält er andererseits unsere Manufakturen am Leben. Er frißt das Vermögen des Verschwenders auf, aber er ernährt auch unsere Arbeiter … Wollte man unsere Lyoner Seidenstoffe, unsere Goldbeschläge, unsere Juwelen mit dem Bann belegen, so sähe ich die Folgen kommen: Mit einem Schlag lägen Millionen Arme brach, und ebensoviel Stimmen erhöben sich, die nach Brot riefen.« Montesquieu bestätigt: »Ohne Luxus geht es nicht. Wenn die Reichen nicht reichlich ausgeben, werden die Armen Hungers sterben.« (Vom Geist der Gesetze) Wir jedoch leben in einer Epoche, in der nicht nur die Armen sparen, weil sie müssen, sondern auch die Reichen ihre Lust verloren haben, Geld auszugeben. So entdeckte der Spiegel als eines der ersten politischen Magazine den Trend zur Neuen Bescheidenheit. In einem langen Leitartikel mit dem Titel »Von der Ware Luxus zum wahren Luxus« schreibt er: »Luxusproduzenten, Marktforscher und Soziologen beobachten nun, gegen Ende des protzigen halben Jahrhunderts, einen zunehmenden Überdruß am Überfluß – die einen haben genug von dem teuren Zeug – die anderen haben zu wenig Geld.«[10]
Seit Kriegsende sind die Ausgaben eines jeden Bürgers für den privaten Verbrauch kontinuierlich gestiegen. 1950 träumten noch 60 Prozent der Deutschen von einem Kühlschrank. Bis 1975 besaßen 70 Prozent der Bürger einen Staubsauger, 55 Prozent hatten einen Kühlschrank und 43 Prozent saßen vorm eigenen Fernseher, zwei Programme, schwarz-weiß. 30 Prozent lenkten bereits ihr eigenes Auto. In den siebziger Jahren kam der Farbfernseher, und die erste Mikrowelle tauchte auf. »Zu Beginn der achtziger Jahre ging der private Verbrauch erstmals nach dem Kriege zurück, die Grenzen des Wachstums schienen erreicht. Als Mitte der...