»Peters Abschied – Abschied von Peter« – Lernen, daß Sterben »O.K.« ist
Anita Lammermann und Kai-Uwe Schütz
Am 29. 9. 1991 starb Peter Lammermann im Alter von 22 Jahren nach langer Krankheit. Er starb nicht in einer sterilen Krankenhausatmosphäre, sondern im Frieden mit sich selbst zu Hause, im Kreise seiner nächsten Angehörigen.
Peter war an Morbus Recklinghausen (Neurofibromatose) erkrankt, einer Erbkrankheit, aufgrund derer sich zunächst gutartige Tumore im Bereich der motorischen Nerven bilden, die aber in ca. 20 Prozent der Fälle bösartig werden. Die Tumorbildung kann zu einer enormen Wirbelsäulenverkrümmung führen.
Mit vier Jahren wurde Peter das erste Mal operiert, an einem kleinen Tumor im rechten Halsdreieck. Die Ärzte sagten damals, die Krankheit sei unbehandelbar, die Betroffenen würden höchstens 40 Jahre alt, aber auch schon im Kindesalter könne beispielsweise der Lungennerv ausfallen.
Peter wuchs zunächst heran in dem Bewußtsein, gesund zu sein. Als er 14 Jahre alt war, war sein Tumor etwa faustgroß. Ein Jahr später wurde er sozusagen über Nacht doppelt so groß; in einer langen mühevollen Operation konnte er größtenteils entfernt werden.
Neun Monate später, Peter war jetzt 16 Jahre alt, wurde dann ein pflaumengroßes Neurofibrosarkom auf der rechten Schulter entfernt. Peter bekam Bestrahlungen. Die Ärzte kamen jedoch bald zu der Erkenntnis, daß eine Aussicht auf Erfolg überhaupt nur bei erheblicher Erhöhung der Strahlendosis unter Einbeziehung des Knochenmarks bestünde. Die hätte allerdings weitreichende Folgewirkungen gehabt: Der betroffene Arm wäre funktionsunfähig geworden, Phantomschmerzen wären aufgetreten, und die Haut wäre total zerstört worden, was zahlreiche langwierige Hauttransplantationen nach sich gezogen hätte.
Nach reiflicher Überlegung lehnte Peter die Fortsetzung der Strahlenbehandlung ab. In der Zeit, die ihm noch verblieb, wollte er nicht auch noch zusätzlich verkrüppelt, entstellt und ständig operiert werden. Auch der Radiologe gab schließlich auf die Frage, was er denn tun würde, wenn er selbst betroffen wäre, die eindeutige Antwort, daß er gar nichts machen würde.
Nach der Schule versuchte Peter eine Lehre als Bürokaufmann, was aber an Schwierigkeiten beim Sitzen scheiterte. Er lebte dann, in Erfüllung seines größten Wunsches, in einer eigenen kleinen Wohnung und war in einem kirchlichen Jugendzentrum als ehrenamtlicher Mitarbeiter tätig, bis der Tumor nach fünf Jahren im Januar 1991 mit aller Macht wieder zu wachsen begann. Peters Bewegungsfreiheit wurde zunehmend eingeschränkt, die Schmerzen wurden größer. Schließlich mußte er die liebgewonnene Unabhängigkeit aufgeben. Im April 1991 kam er nach Hause zurück, wissend, daß er bald sterben würde.
Nachdem die Eingewöhnung zu Hause und die direkte Auseinandersetzung mit dem Näherrücken des unvermeidlichen Todes zunächst nicht unproblematisch war, änderte sich dies bald. Die letzten Wochen und Monate seines Lebens waren nicht nur von einem langsam fortschreitenden körperlichen Verfall, sondern auch von einem Prozeß des inneren Reifens, des Lernens und des Erkennens gekennzeichnet, sowohl bei Peter selbst als auch bei den ihn versorgenden Angehörigen.
Das offene Gespräch über das Nahen des Todes, die Pflege in dem Bemühen, es Peter so angenehm wie möglich zu machen, und die Art und Weise, wie Peter selbst mit alledem umging, ließen keinen, der dies, etwa als Besucher, miterlebte, unberührt. In ihrem Tagebuch hat Peters Mutter, Anita Lammermann, eindrucksvoll viele schöne und unvergeßliche Augenblicke in den Wochen bis zu Peters Tod dokumentiert.
Das Besondere an Peters Sterben und der Sterbebegleitung sprach sich im Freundes- und Bekanntenkreis der Familie Lammermann und auch in der Gemeinde, in der sie lebt, herum. Viele machten sich plötzlich selbst Gedanken über den Tod und das Sterben.
Abschied der Familie
Ja, daß Sterben »O.K.« ist, das mußten auch wir in der Familie und im Freundeskreis lernen.
Als Peter bei seinem letzten Krankenhausaufenthalt im März erfahren hatte, daß eine Operation nicht mehr gemacht werden konnte, brauchte er drei Wochen, um innerlich soweit zu sein, daß er wieder nach Hause ziehen wollte.
In diesen drei Wochen hat er folgende Schritte durchgemacht.
Meine Wohnung gebe ich aber noch nicht auf
Vielleicht komme ich doch schon dieses Jahr
Oder doch schon Ende Mai oder Juni
Auf jeden Fall noch diesen Monat
Am liebsten schon nächste Woche
Wir hatten inzwischen alles vorbereitet, und so kam er dann am 20. April mit seinem ganzen Haushalt wieder zu uns, denn sterben wollte er zu Hause.
Er hatte ja seine Krankheit schon lange akzeptiert, aber was das Sterben anbetraf, so befand er sich wohl im Stadium der Depression, aber auch Aggressionen und Wut kamen oft durch. Diese Zeit war für uns alle nicht leicht. Peter war einsilbig, ablehnend, ja sehr verschlossen. Gespräche waren nicht möglich. Er hat für sich allein in seinem Zimmer gewohnt und uns kaum beachtet.
Auf die Frage unseres Pastors, ob er ihn einmal besuchen dürfe, hat er uns geantwortet: »Ich brauche noch keinen Pastor!« Er hat ihn dann trotzdem an seinem Geburtstag Ende Mai besucht, und später waren dann auch Gespräche mit ihm möglich.
In dieser für Peter sehr einsamen Zeit war es ein Segen, daß Herbert, ein Familienvater aus dem Haus, lange krank geschrieben war. Bei ihm draußen hat Peter oft gehockt. Sitzen und Stehen konnte er nicht mehr gut. Sie haben sich etwas erzählt oder auch geschwiegen. Und noch etwas Schönes gab’s für Peter: Herberts Familie hatte sich einen Hund angeschafft. Die beiden haben sich sehr angefreundet. Auch später hat der Hund ihn oft besucht oder bei ihm gelegen. So hatte Peter am Ende seines Lebens noch ein Tier, was er sich schon immer gewünscht hatte.
Ja, und dann fiel mir eines Tages Ende Juli auf, daß Peter den Fernseher nicht mehr laufen hatte und daß er nur auf seinem Bett lag und immer lange hinter mir hersah, wenn ich an seiner stets offenen Zimmertür vorbeiging. Ich habe dann gefragt: »Peter, du siehst so aus, als ob du Langeweile hast, soll ich dich mal besuchen?«
Und plötzlich war das Eis gebrochen. Die Angst um seine Schwester, die für eine Woche verreisen wollte, war so groß, daß er einfach reden mußte. Und schließlich hat er sie gebeten, nicht wegzufahren, sondern bei ihm zu bleiben. Es waren bewegende Stunden und Tage – und für Peter der Anfang des Stadiums der Annahme.
Wir haben uns dann vorsichtig an Peter herangetastet, denn er war noch sehr empfindlich, was Nähe anbetraf. Wir haben Karten gespielt, gewürfelt, und jeden Nachmittag waren wir zusammen im Garten unterm Nußbaum. Peter konnte immer noch die Treppe hinuntergehen, aber dann mußte er gleich wieder liegen. Wir hatten oft Besuch draußen, was für Peter schön war, wenn er sich wohl auch selten am Gespräch beteiligt hat.
Schmerzen
Während der ganzen Zeit zu Hause bis zu seinem Tod fand eine Behandlung mit Ausnahme der Schmerzbekämpfung nicht mehr statt. Die ärztliche Betreuung wurde durch den Hausarzt vorgenommen.
Peter hatte Glück. Er hatte in Bethel (v.Bodelschwinghsche Anstalten in Bielefeld, wo sich Peter im Laufe seiner Krankheit mehrmals aufgehalten hat) Tropfen bekommen, die er selbst immer höher dosieren konnte, von 3 × täglich 10 Tropfen bis auf 4 × täglich 30 Tropfen. Ende Juli mußte dann auf ein stärkeres Medikament umgestiegen werden. Es war eine Tablette, die er unter der Zunge zergehen lassen mußte. Zwei Stück pro Tag brachten zwar nicht die angestrebte Schmerzfreiheit, aber doch Erträglichkeit. Zuletzt brauchte er sechs Tabletten in 24 Stunden, aber damit ist er auch ausgekommen, bis ich in der letzten Nacht doch zur Spritze greifen mußte.
Auch was er sonst noch einnahm, gegen Übelkeit und Gleichgewichtsstörungen, hat er weitgehend selbst dosiert. So war er doch nicht ganz entmündigt.
Körperliche Bedürfnisse
(Essen, duschen, Wasser lassen, abführen)
Peter hatte große Angst davor, das alles eines Tages nicht mehr allein zu können. Allgemein gilt ja die Regel: »So lange selbständig sein lassen, wie es geht.« Ich habe, was die körperlichen Bedürfnisse anging, bei Peter eine andere Erfahrung gemacht.
Als ich sah, daß er schon nach ein paar Minuten wieder aus der Dusche kam, halb abgetrocknet und völlig erschöpft, habe ich gesagt: »Peter, warum quälst du dich so, du kannst es viel leichter haben. Morgen wasche ich dich im Bett, dann kannst du liegenbleiben und mußt nur noch zum Rückenwaschen aufsitzen.« (Er konnte ja schon lange nicht mehr auf der Seite liegen, auch kurzfristig nicht, darum das Aufsitzen beim Rückenwaschen.)
»Wir können es ja mal versuchen«, war seine Antwort. Und dann hat er es gern angenommen.
Dasselbe war mit Füttern und »in die Flasche pinkeln«. Mit allem haben wir angefangen, als er es wohl noch einige Tage hätte allein tun können. Er war überrascht, wie einfach alles ging und glücklich darüber, daß er liegenbleiben konnte bei all diesen Dingen und sich nicht mehr so quälen mußte. Und als es dann schwieriger wurde, hatte er so gut geübt, daß es da auch gutging.
Auch das Abführen haben wir im Liegen gemacht. Er konnte auf kein Becken, aber wir hatten...