Mein toter Vater hat mich immer beschützt
Rosann Phillips, Hebamme, Jahrgang 1982
Glücklich zu sein und das an andere weiterzugeben – das ist die einzige Aufgabe, die wir auf der Welt haben. Deswegen bin ich Hebamme geworden. Das heißt: Eigentlich musste ich mit der Nase darauf gestoßen werden, dass das mein Beruf ist. Ich wusste nicht genau, was ich machen wollte, ich hatte Interesse an allem Möglichen und keine Ahnung, wie ich das unter einen Hut bringen sollte. Schließlich hat mir die Frau bei der Berufsberatung einen Ordner mit Berufsbildern mitgegeben und mir geraten, den in Ruhe anzusehen. Ich habe ihn erst einmal mit mir herumgetragen. Auf dem Weg zum Zahnarzt habe ich ihn schließlich aus der Tasche gezogen und aufgeschlagen – genau auf der Seite, auf der über Hebammen geschrieben wurde. Ich habe den Text durchgelesen und gedacht: Ja, das ist es.
Seit ich in diesem Beruf arbeite, denke ich häufig darüber nach, was es eigentlich bedeutet, geboren zu werden. Wenn ich den Bauch einer Schwangeren abtaste, nehme ich jedes Mal Kontakt zum Kind auf. Es bewegt sich, es reagiert auf mich, es lebt ganz eindeutig. Geborenwerden ist etwas anderes als anfangen zu leben. Das findet viel früher statt. Die Geburt ist eher eine Prüfung. Oder eine schmerzhafte Krise für Frau und Kind, durch die beide gehen müssen. Wenn das Kind dann geboren ist, folgt die große Erleichterung. Für die Mutter, für das Kind und für die Hebamme.
Denn es ist ja keineswegs sicher, dass immer alles gut ausgeht. Im Kreißsaal gibt es manchmal Situationen, in denen es richtig ernst wird. Ich habe auch schon einmal erlebt, dass eine Mutter bei der Geburt gestorben ist. Es war fürchterlich, als es dem Ehemann und den Verwandten gesagt worden ist. Für meinen beruflichen Weg ist es wichtig zu wissen, dass so etwas wirklich passieren kann. Das ist mir erst in diesem Moment richtig bewusst geworden. In einer dramatischen Situation reagiert man im Kreißsaal zunächst automatisch. Man macht alle notwendigen Handgriffe, holt Ärzte, bereitet Eingriffe vor, ist in Aktion. Das große Zittern kommt hinterher.
Ganz erstaunlich finde ich, wie sensibel die Kinder vom ersten Augenblick an sind und wie intensiv sie reagieren. Ich erinnere mich an eine Frau, die nach der Geburt sehr stark geblutet hat. Das kann lebensgefährlich werden. Das Neugeborene hat zunächst geschrien, weil es Hunger hatte. Als diese Notsituation eintrat, wurde es ganz ruhig und hat keinen Laut mehr von sich gegeben. Erst als die Mutter wieder stabil war und bereit, etwas abzugeben, hat es sich wieder gemeldet.
Eine ähnliche Beobachtung habe ich bei einer Zwillingsgeburt gemacht. Eins der Kinder war schon geboren, versorgt und eingepackt. Das zweite kam lange nicht, und im Kreißsaal breitete sich eine angespannte Stimmung aus. Der Kleine lag auf dem Wärmebettchen und hatte seine Augen weit aufgerissen. Man hat genau gemerkt, dem entgeht nichts. Er hat überhaupt nicht geschrien, er war nur ganz aufmerksam und hat den Eindruck erweckt, als würde er auf seinen Bruder warten.
Wenn die Kinder geboren werden, kommt es mir manchmal so vor, als ob sie aufwachen. Allerdings reagieren sie völlig unterschiedlich. Manche sind schon hellwach, sobald nur ihr Kopf geboren ist. Andere sind noch ganz in sich gekehrt. Die brauchen auch erst einmal eine Weile, bis sie merken: Hoppla, etwas ist anders! Manchen Kindern gefällt es offensichtlich, auf der Welt zu sein. Die machen große Augen, gucken ihre Eltern an und sind ganz aufmerksam. Und manche sind fürchterlich beleidigt darüber, dass sie geboren sind. Die schreien nicht aus Angst. Die sind eher verstimmt.
Wenn ich sehe, wie unterschiedlich sie sind und wie viel sie schon mitbringen, denke ich manchmal: Woher kommen die? Ich hatte als Kind immer die Vorstellung, dass ich einmal ein Kind bekomme und dass dieses Kind mein wiedergeborener Vater ist. Er ist gestorben, als ich erst zwei Monate alt war. Der Gedanke hat mich nie wirklich verlassen. Ich wünsche mir, dass es die Wiedergeburt gibt, und ich schließe es auch nicht aus. Die Betreuung der Kinder im Wochenbett bestärkt mich darin. Sie sind nicht nur völlig verschieden, wenn sie geboren werden. Sie sind auch nicht einfach klein und süß. Sie haben ausgeprägte Charakterzüge und reagieren sehr unterschiedlich auf mich. Und ich reagiere unterschiedlich auf sie, ich weiß gar nicht, woher das kommt. Es liegt jedenfalls nicht an ihrem Aussehen oder daran, dass das eine mehr schreit als das andere.
Ob Wiedergeburt oder etwas anderes: Ich glaube daran, dass man nach dem Tod irgendwo weiter da ist als ein Ich, das man gewesen ist. Mit dieser Überzeugung bin ich aufgewachsen. Es war immer sonnenklar, dass es unseren Vater gibt und dass der auch auf uns schaut, dass er irgendwie erreichbar ist. Deshalb habe ich mich auch immer so gefühlt, als wäre ich beschützt und behütet. Auch meine Großeltern sind nicht weg. Irgendwo sind sie und sorgen dafür, dass alles gut läuft. Sie sind auch als Gesprächspartner für mich erreichbar, das spüre ich deutlich. Genauso wie ich fühle, dass Gott eine Energie ist, die für Gutes sorgt.
Dass auf diese Weise für mich gesorgt wird, habe ich einmal als Kind erlebt. Damals habe ich noch in einem kleinen Dorf in Österreich gewohnt, es bestand nur aus ein paar Bauernhöfen ganz in der Nähe des Waldes. In diesem Wald gab es einen See, in dem wir oft gebadet haben. Eines Tages – ich war sechs oder sieben Jahre alt – war ich allein mit meiner Schwester dort. Sie ist zwar drei Jahre älter als ich, konnte aber, anders als ich, noch nicht schwimmen. Ich bin im Wasser herumgeschwommen, und sie wollte nur am Rand bleiben. Plötzlich habe ich gesehen, dass sie untergegangen war. Das Ufer war sehr steil, und sie hatte den Boden unter den Füßen verloren. Ich habe versucht, sie herauszuziehen, aber weil sie größer und schwerer war als ich, wäre ich beinahe mit ihr zusammen ertrunken. Ich erinnere mich noch daran, dass auf einmal eine fremde Frau da war, die uns herausgezogen und auf die Wiese gestellt hat. Dann ist sie gegangen, ohne etwas zu sagen. Ich habe auf der Wiese gestanden und mich nach ihr umgeschaut, aber sie war nicht mehr da, und auch später habe ich sie nicht mehr gesehen.
Ein Teil meiner großen Familie lebt noch immer in Österreich. Ich habe fünf Geschwister, meine Mutter natürlich und dazu eine Menge Tanten und Onkel, Cousins und Cousinen und auch schon eine Nichte. Sie leben überall verstreut, in Deutschland, England und Irland und sogar in Südafrika. Wenn ich wüsste, ich hätte nur noch ein halbes Jahr zu leben, würde ich mit meinem Partner zusammen eine große Rundreise machen und sie alle besuchen. Ich hänge an meiner Familie und hätte das Verlangen, alle noch einmal zu sehen. Vielleicht wäre es auch möglich, dass wir an einem schönen Ort im Sommer eine Familienfeier veranstalten. Das haben wir nicht oft geschafft, das letzte Mal bei der Beerdigung meiner Oma. Und obwohl wir traurig waren, war es ein gutes Gefühl, zusammen zu sein.
Meine Oma hatte ein schwaches Herz. Aber ihren achtzigsten Geburtstag wollte sie noch feiern, und das hat sie auch geschafft. Danach ging es rapide bergab mit ihr, sie hat nur noch drei Monate gelebt. Wenn der Tod so käme, im Alter, nach einer schweren Krankheit, hätte ich keine Angst. Aber wenn es so wäre wie bei meinem Vater, durch einen Unfall, das fände ich schlimm. Wenn ich daran denke, mache ich mir Sorgen um meine Familie. Mein Vater ist so abrupt herausgerissen worden aus dem Leben. Ich war zwar damals noch zu klein, um etwas davon mitzubekommen. Aber ich habe in meiner Kindheit immer gemerkt, dass er eine Lücke hinterlassen hat. Man kann sich dann auch selbst nicht auf seinen Tod vorbereiten. Mein Opa hat das gemacht. Er war sehr krank und hatte Schmerzen. Aber er war bis zu seinem Tod zu Hause und konnte tun, was er wollte. Ein paar Wochen vor seinem Tod ist er noch nach Österreich gefahren und hat einen Rasen eingesät, damit der wachsen konnte. Danach hat er sich hingelegt, und drei Wochen später ist er gestorben. Das fand ich gut, es hat für mich so ausgesehen, als wäre es seine Entscheidung gewesen.
Ich wünsche mir, dass ich alt werde. In meiner Vorstellung habe ich mich immer als Oma mit weißen Haaren gesehen. Ich denke, wenn man alt wird und langsam stirbt, sodass man das nicht mehr ganz mitbekommt und nur ab und zu wach ist, dann ist es in Ordnung. Am letzten Tag meines Lebens würde ich gern meine Familie sehen. Ganz zum Schluss aber, in meiner letzten Stunde, möchte ich allein sein und diese Stille haben, die ich so sehr liebe, und die ein Grund dafür ist, dass ich gern lebe. Wenn ich zum Beispiel in meiner Wohnung allein bin, dann kommt diese Stille. Sie macht ein Geräusch, das ich mag, ein Summen, das man hört, wenn man ganz in sich ist, wenn man mit sich allein in Ruhe ist. Ich denke, dass man nicht sterben kann, wenn die Familie um einen ist. Jedenfalls war es bei meinem Großvater so. Er ist erst gestorben, als die Oma gerade die Hühner gefüttert hat. Man braucht Ruhe, um loslassen zu können.
Meine Trauerfeier soll von den Familienmitgliedern gestaltet werden. Das ist bei uns...