III. Das Komplott Cherval
Stieber wußte indes mit dem gestohlenen Schatz zu wuchern. Die ihm am 5. August 1851 zugekommenen Papiere führten zur Entdeckung des sogenannten »deutsch-französischen Komplotts zu Paris«. Sie enthielten sechs Berichte des von Willich-Schapper abgesandten Emissärs Adolph Majer d. d. Paris und fünf Berichte des leitenden Kreises Paris an die Zentralbehörde Willich-Schapper. (Zeugenaussage Stiebers in der Sitzung vom 18. Oktober.) Stieber unternimmt eine diplomatische Lustreise nach Paris und macht dort die persönliche Bekanntschaft des großen Carlier, der soeben in der berüchtigten Affäre der Goldbarrenlotterie den Beweis geliefert hatte, daß er zwar ein großer Feind der Kommunisten, aber ein noch größerer Freund von fremdem Privateigentum sei.
»Demgemäß reiste ich im September 1851 nach Paris ab. Ich fand in dem damaligen dortigen Polizeipräfekt Carlier die bereitwilligste Unterstützung... Durch französische Polizeiagenten wurden die in den Londoner Briefen enthüllten Fäden schnell und sicher aufgefunden; es gelang, die Wohnungen der einzelnen Chefs der Verschwörung zu ermitteln und alle ihre Bewegungen, namentlich alle ihre Versammlungen und Korrespondenzen, zu beobachten. Man ermittelte dort sehr arge Dinge... Ich mußte den Anforderungen des Präfekten Carlier nachgeben, und es wurde in der Nacht vom 4. zum 5. September 1851 eingeschritten.« (Aussage Stiebers vom 18. Oktober.)
Im September reiste Stieber von Berlin ab. Nehmen wir an den 1. September. Abends den 2. September traf er im besten Falle zu Paris ein. In der Nacht vom 4. wird eingeschritten. Bleiben also für die Besprechung mit Carlier und die Ergreifung der nötigen Maßregeln 36 Stunden. In diesen 36 Stunden werden nicht nur die Wohnungen der einzelnen Chefs »ermittelt«; alle ihre Bewegungen, alle ihre Versammlungen, alle ihre Korrespondenzen werden »beobachtet«, natürlich erst, nachdem ihre »Wohnungen ermittelt« sind. Stiebers Ankunft bewirkt nicht nur eine wundertätige »Schnelligkeit und Sicherheit der französischen Polizeiagenten«, sie macht auch die konspirierenden Chefs »bereitwillig«, in 24 Stunden so viel Bewegungen, Versammlungen und Korrespondenzen zu begehen, daß schon am andern Abend gegen sie eingeschritten werden kann.
Aber nicht genug, daß am 3. die Wohnungen der einzelnen Chefs ermittelt, alle ihre Bewegungen, Versammlungen und Korrespondenzen beobachtet sind:
»Französische Polizeiagenten«, schwört Stieber, »finden Gelegenheit, den Sitzungen der Verschworenen beizuwohnen und die Beschlüsse derselben über das Verfahren bei der nächsten Revolution mit anzuhören.«
Kaum haben also die Polizeiagenten die Versammlungen beobachtet, so finden sie durch die Beobachtung Gelegenheit beizuwohnen, und kaum wohnen sie einer Sitzung bei, so werden es mehrere Sitzungen, und kaum sind es ein paar Sitzungen, so kommt es auch schon zu Beschlüssen über das Verfahren bei der nächsten Revolution – und alles an demselben Tage. An demselben Tage, wo Stieber den Carlier, lernt Carliers Polizeipersonal die Wohnungen der einzelnen Chefs, lernen die einzelnen Chefs das Polizeipersonal Carliers kennen, laden es denselben Tag in ihre Sitzungen ein, halten ihnen zu Gefallen denselben Tag eine ganze Reihe von Sitzungen und können sich nicht von ihnen trennen, ohne noch eiligst Beschlüsse über das Verfahren bei der nächsten Revolution zu fassen.
So bereitwillig Carlier sein mochte – und niemand wird an seiner Bereitwilligkeit zweifeln, drei Monate vor dem Staatsstreich ein kommunistisches Komplott zu entdecken –, Stieber mutet ihm mehr zu, als er leisten konnte. Stieber verlangt Polizeiwunder, er verlangt sie nicht nur, er glaubt sie auch; er glaubt sie nicht nur, er beschwört sie.
»Beim Beginne des Unternehmens, nämlich des Einschreitens, verhaftete ich zuerst persönlich mit einem französischen Kommissär den gefährlichen Cherval, den Hauptchef der französischen Kommunisten. Er widersetzte sich heftig, und es entstand ein hartnäckiger Kampf mit ihm.«
So Stiebers Aussage vom 18. Oktober.
»Cherval verübte in Paris ein Attentat auf mich, und zwar in meiner eigenen Wohnung, in welche er sich während der Nacht eingeschlichen, und wobei meine Frau, die mir bei dem dadurch veranlaßten Kampfe zu Hülfe kam, verwundet wurde.«
So Stiebers andere Aussage vom 27. Oktober.
In der Nacht vom 4. auf den 5. schreitet Stieber bei Cherval ein, und es entsteht ein Faustkampf, worin Cherval sich widersetzt. In der Nacht vom 3. auf den 4. schreitet Cherval bei Stieber ein, und es entsteht ein Faustkampf, worin Stieber sich widersetzt. Aber am 3. herrschte ja gerade die entente cordiale zwischen Verschwörern und Polizeiagenten, wodurch so Großes an einem Tage geleistet ward. Jetzt soll nicht nur Stieber am 3. hinter die Verschwörer, sondern die Verschwörer sollen am 3. auch hinter den Stieber gekommen sein. Während Carliers Polizeiagenten die Wohnungen der Verschwörer, entdeckten die Verschwörer die Wohnung Stiebers. Während er ihnen gegenüber eine »beobachtende«, spielen sie ihm gegenüber eine tätige Rolle. Während er von ihrem Komplott gegen die Regierung träumt, sind sie mit einem Attentat auf seine Person beschäftigt.
Stieber fährt in seiner Aussage vom 18. Oktober fort:
»Bei diesem Kampfe« (wo Stieber in der Offensive) »bemerkte ich, daß Cherval bemüht war, ein Papier in den Mund zu stecken und es hinunterzuschlucken. Es gelang nur mit Mühe, die Hälfte des Papiers zu retten, die andere Hälfte war schon verzehrt.«
Das Papier befand sich also im Munde, zwischen den Zähnen des Cherval, denn nur die eine Hälfte ward gerettet, die andere war schon verzehrt. Stieber und sein Helfershelfer, Polizeikommissär oder wer sonst, konnten die andere Hälfte nur retten, indem sie ihre Hände in den Rachen des »gefährlichen Cherval« steckten. Die nächste Art, wie Cherval sich gegen einen solchen Angriff verteidigen konnte, war die des Beißens, und wirklich meldeten die Pariser Blätter, Cherval habe die Frau Stieber gebissen, aber in dieser Szene wohnte dem Stieber nicht die Frau bei, sondern der Polizeikommissär. Dagegen erklärt Stieber, bei dem Attentat, das Cherval in seiner eigenen Wohnung verübt, sei Frau Stieber, die ihm zu Hülfe gekommen, verwundet worden. Stellt man die Aussagen Stiebers und die Aussage der Pariser Journale zusammen, so scheint es, daß Cherval in der Nacht vom 3. auf den 4. Frau Stieber biß, um die Papiere zu retten, die Herr Stieber ihm in der Nacht vom 4. auf den 5. aus den Zähnen riß. Stieber wird uns antworten, daß Paris eine Wunderstadt ist und daß schon Larochefoucauld erklärt hat, in Frankreich sei alles möglich.
Lassen wir einen Augenblick den Wunderglauben, so scheint es, daß die ersten Wunder entstanden sind, indem Stieber eine Reihe von Handlungen, die der Zeit nach weit auseinanderliegen, in einen Tag zusammendrängt, auf den 3. September – und die letzten Wunder, indem er verschiedene Tatsachen, die an einem Abende und an einem Orte vorfielen, an zwei verschiedene Nächte und zwei verschiedene Orte verteilt. Wir stellen seiner Erzählung von »Tausendundeiner Nacht« den wirklichen Tatbestand gegenüber. Vorher noch ein verwunderliches Faktum, wenn auch kein Wunder. Stieber entriß eine Hälfte des von Cherval verschluckten Papiers. Was enthielt die gerettete Hälfte? Das Ganze, was Stieber suchte.
»Dieses Papier«, schwört er, »enthielt eine höchst wichtige Instruktion für den Emissär Gipperich in Straßburg mit dessen vollständiger Adresse.«
Jetzt zum Tatbestand.
Am 5. August 1851, wissen wir von Stieber, erhielt er das in starke Wachsleinwand verpackte Archiv Dietz. Am 8. oder 9. August 1851 fand sich zu Paris ein gewisser Schmidt ein. Schmidt scheint der unvermeidliche Name für die inkognito reisenden preußischen Polizeiagenten. Stieber reist 1845-1846 als Schmidt im schlesischen Gebirge, sein Londoner Agent Fleury reist 1851 als Schmidt nach Paris. Er sucht hier die einzelnen Chefs der Willich-Schapperschen Verschwörung und findet zunächst Cherval. Er gibt vor, aus Köln entflohen zu sein und von dort die Bundeskasse mit 500 Talern gerettet zu haben. Er beglaubigt sich durch Mandate von Dresden und verschiedenen anderen Orten, spricht von Reorganisation des Bundes, Vereinigungen der verschiedenen Parteien, da die Spaltungen auf rein persönlichen Differenzen beruhten – die Polizei predigte schon damals Einigkeit und Einigung –, und versprach, die 500 Taler zu verwenden, um den Bund wieder in Flor zu bringen. Nach und nach lernt Schmidt die einzelnen Chefs der Schapper-Willichschen Bundesgemeinden in Paris kennen. Er erfährt nicht nur ihre Adressen, er besucht sie, er spioniert ihre Korrespondenzen aus, er beobachtet ihre Bewegungen, er dringt in ihre Sitzungen, er treibt sie voran als agent provocateur, Cherval speziell renommiert um so mehr, je bewundernder Schmidt ihn als den großen Unbekannten des Bundes rühmt, als den »Hauptchef«, der bisher nur seine eigene Wichtigkeit ignoriert, was schon manchem großen Manne passiert ist. Eines Abends, als Schmidt sich mit Cherval in die Bundessitzung begibt, verliest Cherval seinen berühmten Brief an Gipperich, vor dessen Abschickung. So erfuhr Schmidt die Existenz des Gipperich. »Sobald Gipperich nach Straßburg zurückgekehrt ist«, bemerkte Schmidt, »wollen wir ihm gleich eine Anweisung auf die 500 Taler geben, die zu Straßburg liegen. Hier haben sie die Adresse des Mannes, der das Geld verwahrt, geben sie mir dagegen die Adresse des...