Wort Gottes
Beim Eintritt in die Welt des Glaubens begegnen wir zuerst dem Wort Gottes – als einer Herausforderung und Zumutung. Wenn es dieses Wort wirklich und so wirkmächtig gibt, wie es zu sein verspricht; wenn in der Flut der Wörter dieses eine, verlässliche tatsächlich vorkommt, und wir es zu hören vermögen und nicht nur zu »hören«, wären wir gerettet. Von nichts anderem spricht der Glaube Israels und der Christen.
Wir tun gut daran, Begriffe unserer Erfahrung zu verwenden, wenn wir dem Wort von Gott näher treten und nicht nur über den sprechen wollen, der vom Schöpfungsanfang an dieses Wort war und ist. So bliebe das Nachdenken verbindlich und die Verständigung nachvollziehbar. Wir werden gleichzeitig aus dem noch nicht Gewussten schöpfen und immer neu zu begreifen versuchen, wer Gott ist, besser: wer er nicht ist; und was das Wort Gottes ist oder besser nicht ist, und worin es über seine Verschriftlichungen hinausgeht. Wir sollten auch »zwischen den Zeilen« lesen lernen, um uns in den geschriebenen Zeichen nicht hoffnungslos zu verirren.
Erfahrungsaustausch
Von dem französischen Dichter und Philosophen Paul Valéry (1871–1989) stammt ein Gedanke, den der englische Sozialpsychologe Ronald D. Laing (1927–1989) aufgegriffen und programmatisch zugespitzt hat: »Erfahrung ist die Unsichtbarkeit des Menschen für den Menschen. Erfahrung nannte man früher Seele«,4 weil beide, Erfahrung und Seele, einmalig sind wie wir selbst. Die Seele, ebenfalls einer dieser leer gewordenen und entseelten Begriffe, ist das Organon unserer Erfahrung.
Daraus folgt, dass wir die Erfahrungen anderer nicht erfahren können. Wenn sich die Theologie mit vergangenen und gegenwärtigen Gotteserfahrungen der Menschen beschäftigt, die tief in die Geschichte zurückreichen, gestikuliert sie mit Geheimnissen und Abgründen, die der Mensch für den Menschen bereithält und die sich nur noch über Erzählungen und Texte mitteilen, die oft dunkel und unklar bleiben und nicht leicht zu entschlüsseln sind. Das ist auch deshalb so, weil die ursprünglichen Erfahrungen in solchen Verschriftlichungen festgeschrieben und schon durch diese Fixierung verändert wurden. Das Aufgeschriebene stimme nicht, befand der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard. In der Sache ähnlich, nur positiv gewendet, stellte die Lyrikerin Ilse Aichinger sinngemäß fest, dass jeder Satz durch unsagbar viele ungeschriebene Sätze belegt sein müsse, sonst stehe er gar nicht da. Ihm fehlten seine Wurzeln und Quellen, aus denen er lebt. Die ungeschriebenen Sätze sind das Lebenselement der geschriebenen.
Judentum und Christentum verfügen über gewaltige Texte, in denen die persönlichen Erfahrungen der ersten Glaubenszeugen fixiert und kanonisiert vorliegen. Ihre Erfahrungen können wir nicht mehr erfahren – ein Befund, der sich neuzeitlich noch verschärft hat. Denn jetzt gibt es jenen »garstig breiten Graben«, von dem als Erster Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) gesprochen hatte, und zwar in religionskritischer Absicht.5 Lessing ging davon aus, dass die Erfahrungen derer, die Wunder gesehen haben wollen, erst recht unerreichbar sind für den nach Beweisen fragenden ebenso aufgeklärten wie distanzierten Zeitgenossen, der Wunder in der Regel nicht für möglich hält. Wunder lassen sich nicht beweisen, nur glauben – und nur dadurch möglicherweise wieder zu einer aktuellen Erfahrung machen.
Nicht durch Beschwörung, forsche Aktualisierung oder theologische Belehrung, schon gar nicht durch sklavische Unterwerfung unter den Text wären die früheren Glaubensgewissheiten zurückzuerlangen. Nur durch das Lebenszeugnis und das authentische Glaubensbekenntnis der Glaubenden, so muss man Lessing verstehen, könnten das Wort von Gott und der Glaube der ersten Glaubenden wieder lebendig und dadurch erneut glaubwürdig werden. Aber schon Lessing glaubte wohl nicht mehr an solche Christen.
Mitgeteiltes Wort
Wie entsteht dieser »Graben«, den Lessing zwischen den ersten Glaubensboten und der Moderne ausmachte? Wir haben es mit einer langen Geschichte zu tun, die beginnt, wo der Gottesname zum ersten Mal auf den Menschen trifft, von Menschen angerufen, nachgesprochen, weiter erzählt, schriftlich festgehalten und dabei sofort wieder umgeformt wird. Er konnte anders ja gar nicht angeeignet und bewahrt werden, als durch solche erzählerischen Um- und Weiterbildungen.
Auch der Name Gottes benennt nicht Gott, sondern Erfahrungen, die mit ihm gemacht worden sind. Wer ist Gott selbst? Wer könnte das sagen, außer – Gott. Und wie könnte er es sagen, wenn nicht zusammen mit uns, die es hören und verstehen müssen, je in ihrer Zeit? Die »Religionen des Buches«, die »Offenbarungsreligionen« gehen davon aus, dass Gott längst gesagt hat, wer er ist. Dass er sich nicht nur »mitgeteilt« hat, wie Karl Rahner (1904–1984) den Offenbarer umschrieb, sondern dass er den Menschen nahe gekommen, ja einer von ihnen geworden ist und das Leben mit ihnen geteilt hat: »Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt« (Joh 1, 14). Die biblischen Texte sind nicht zuletzt Wohnungen Gottes. Aber diese »Wohnungen« sind zu klein für ihn. Die Texte suchen nach uns, ihren eigentlichen Adressaten und »Bewohnern«.
Das Wort war und bleibt angewiesen auf die, die es in sich »aufnehmen« (Joh 1, 11) und bei sich wohnen lassen, anders konnte es sich nicht inkarnieren und stünde nicht einmal wirklich da.
»Am Anfang
war das Wort
und das Wort
war bei Gott«
Und Gott gab uns
das Wort
und wir wohnen
im Wort
Und das Wort ist
unser Traum
und der Traum ist
unser Leben
(Rose Ausländer)6
»Wohnen« ist ein Wort, das etymologisch mit »Wonne« und »Wahn« zu tun hat, nicht selten auch mit der Verrücktheit der Wünschenden und Hoffenden. David tanzte fast nackt vor der Bundeslade, um Gottes Wohnung zu bereiten (vgl. 2 Sam 6, 14). Gott wohnt, er ist im Sozial- und Zeitbezug, sonst »ist« er nicht Gott, sondern Phantom oder Götze. Die Bibel spricht ausschließlich von diesem Gott, der »ist«, indem er uns begegnet und der immer noch kommt. Der deshalb weder kirchlich verfügbar, noch politisch zu gebrauchen oder persönlich zu vereinnahmen ist.
Der Gott Israels hat eine lange Geschichte. An ihrer unglaublichsten Stelle ist zu erkennen, wer er ist: »Schöpfer« und »Vater« gerade auch dort, wo er die Zeit, die Vergangenheit und sogar die Toten nicht in Ruhe lässt. Auch Texte nicht, wie sich zeigen wird. Zeichnet man die Genese dieser in der Auferstehungshoffnung kulminierenden Gottesbotschaft als einer Zeitbotschaft nach, so bestätigt sich, dass die Heilsverheißung geborgt ist. Dass wir von den leidenschaftlichsten Hoffnungen anderer zehren – meist ohne selbst noch leidenschaftlich zu sein. Das unglaubliche Wort aus der Johannes-Apokalypse: »Der Tod wird nicht mehr sein, kein Leid, kein Geschrei, kein Schmerz« (Offb 21, 4) stünde gar nicht da, wäre es nicht gedeckt und gleichsam »gegengezeichnet« von den zahllosen Opfern in den Verbannungslagern Domitians (51–96) auf Patmos, wo die Geheime Offenbarung entstanden sein soll.
Das Christentum ist eine apokalyptische Erzählung, und die Apokalyptik die »Mutter der christlichen Theologie«, stellte der Neutestamentler Ernst Käsemann (1906–1998) fest.7 In diese Erzählung findet niemand hinein, der sich nicht berühren lässt von der Hoffnungs- und der mit ihr verwobenen Leidensgeschichte der Menschheit, wie sie auch in der apokalyptischen Vision des Matthäus vom Weltgericht zum Ausdruck kommt: »Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan ... Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan« (Mt 25, 31–46).
Erstarrung
Gott, erst recht ein Gott, der Tote auferweckt, lässt sich nicht verstehen. »Die mit mir sind«, zitierte Hans Blumenberg (1920–1996) aus einem außerkanonischen »Agraphon«, »haben mich nicht verstanden«.8 Das Verständnis macht die Nachfolge so schwer, weil es an ihre Stelle treten will. An Gott lässt sich aber auch nicht einfach glauben - im Sinne eines vagen Für-wahr-Haltens. Der Glaube an das Wort Gottes ist Gehorsam, Nachfolgegehorsam.
»Keiner, der die Hand an den Pflug gelegt hat und nochmals zurückblickt, taugt für das Reich Gottes« (Lk 9, 62). Wer sich sicherheitshalber umdreht, wie Lots Frau (vgl. Gen 19, 26), erstarrt. Wer nicht loslassen will, verliert alles, Menschen und manchmal Texte. Mose darf sich dem Dornbusch nicht nähern, denn der Ort, wo er steht, »ist heiliger Boden« (Ex 3, 5). Genauso musste Maria von Magdala ihre Lektion an Ostern lernen: noli me tangere, »halte mich nicht fest« (Joh 20, 17). Und doch ist das Nicht-festhalten-Dürfen nur die eine Seite der Dialektik, welche die biblischen Texte für uns darstellen, und die uns beinahe zu zerreißen droht. Paul Valéry sprach dies auf eine Weise aus, die ebenso zwingend wie verstörend ist: »Was nicht festgehalten wird, ist nichts. Was festgehalten wird, ist tot«.9 Auch die Worte, Begriffe, Dogmen und Gebote des Christentums leben nur dann, wenn sie zwar fixiert und dadurch bewahrt, aber gleichzeitig auch wieder losgelassen und frei gegeben werden. Sonst wären sie nichts als die erhabenen Fassaden und musealen Bestände vergangener Erfahrungen, Sätze und Begriffe, in denen...