Allgemeine Vorbemerkungen
Unter kraftgerechtem Gestalten soll das Entwerfen von Maschinenteilen unter Berücksichtigung der Hauptbeanspruchungsart des Maschinenbaus ‑ der Einwirkung von Kräften und Momenten ‒ verstanden werden. Da die Beanspruchung durch ein Moment immer auf eine Kraft, am Hebelarm angreifend, zurückgeführt werden kann, wird hier grundsätzlich nur mit dem Begriff „kraftgerechtes Gestalten“ gearbeitet.
Dass eine Maschinenbaukonstruktion so ausgeführt sein muss, dass sie durch mechanische Beanspruchung nicht zu Bruch gehen darf, ist für jedermann selbstverständlich. Dieses „Zu Bruch gehen“ kann bedeuten: Zerstörung eines Bauteiles durch zu hohe
Eine nicht so selbstverständliche Art des Versagens von Maschinenteilen kann unzulässig große Verformung sein:
Dehnung durch Zug (selten),
Stauchung durch Druck (sehr selten),
Durchbiegung,
Verdrehung durch Torsion,
Stabilitätsverlust (Knicken, Beulen …) oder
Schwingungen (meist Resonanzen, hier nicht betrachtet).
In der Regel wird daher von sehr vielen Maschinenteilen eine hohe Steifigkeit gefordert. Verschiedentlich wird anstelle des Begriffs Steifigkeit mit dem Begriff Starrheit gearbeitet. Da starr als nicht verformbar gedeutet werden kann, ist dieser Begriff falsch, denn es gibt keinen Werkstoff, der sich unter Einwirkung von Kräften nicht verformt. (Diese Tatsache ist jederzeit mit entsprechenden Messmitteln nachweisbar, bleibt aber dem bloßen Auge häufig verborgen.) Es gibt nur leicht verformbare und schwerer verformbare Werkstoffe. Daher wird hier stets mit dem Begriff Steifigkeit gearbeitet und die Forderung nach hoher Steifigkeit ist der Forderung nach geringer Verformung gleichzusetzen.
Welche Beziehungen bestehen zwischen dem kraftgerechten Gestalten und dem Fachgebiet Technische Mechanik? Die Technische Mechanik beschäftigt sich mit der Berechnung von Spannungen oder Verformungen ausgehend von gegebenen Maschinenteilen. Das kraftgerechte Gestalten liegt im Konstruktionsprozess vor dieser Berechnungsphase und erhebt den Anspruch, die Grobgestalt eines Maschinenteiles weitgehend den herrschenden Kräften so anzupassen, dass mit möglichst geringem Werkstoffaufwand der gewünschte Effekt erreicht wird. Dabei geht es nicht um extreme Leichtbauforderungen, wie sie z. B. der Flugzeugbau stellt, bei denen die minimale Masse der Bauteile durch hohen fertigungstechnischen Aufwand und zum Teil hochwertige Werkstoffe erkauft wird, sondern um geringe Masse bei möglichst minimalen Gesamtkosten für Werkstoff/ Halbzeug, Teilefertigung und Montage.
Bevor der Konstrukteur mit dem kraftgerechten Gestalten beginnt, sollte er sich über folgende Hinweise bzw. Fragen Klarheit verschaffen:
Sind Spannungen oder Verformungen die kritische Größe?
Übersicht schaffen über Kräfte und Reaktionskräfte nach Größenordnung, Dynamik, Hauptrichtung und eventuelle Nebenkraftrichtungen!
Übersicht schaffen über „berufstypische Umgangsformen“ des
Bedienungspersonals (Facharbeiter, ungelernter Bediener) und
Wartungs-, Reinigungs- und Reparaturpersonals
beim Umgang mit der Maschine/Gerät.
Extreme Gegensätzlichkeiten bestehen zwischen Feinmechanik und Bergbau/ Bauwesen. Ist mit Besteigen, Mitfahren oder dergleichen an dafür nicht vorhergesehenen Bereichen zu rechnen? Reinigungskräfte haben kein „Maschinengefühl“, müssen aber Schmutz aus jedem Winkel entfernen (denke an Maschinen für Lebensmittelindustrie, Medizintechnik usw.)
Bild 3.1 Meißelträger (Querbalken) von Langhobelmaschinen
Die Entwicklung der Querschnitte des Querbalkens von 1910 (a) bis 1960 (c). Schlussfolgerungen über die Proportionen kraftbeanspruchter Bauelemente müssen die Entwicklungstendenzen berücksichtigen!
3.1 | Die Grundregeln des kraftgerechten Gestaltens steifer Maschinenteile |
Die erste Grundregel lautet:
K1: Leite Kräfte auf kurzen und direkten Wegen!
Zur Ergänzung lässt sich formulieren:
K1.1: Zug ist die ökonomischste Beanspruchungsart!
K1.2: Jede vermiedene Kraftumlenkung beseitigt werkstoffaufwändige bzw. verformungsungünstige Biegung!
Die folgenden Bilder mit ihren Erläuterungen dürften ausreichend zum Verständnis dieser Regeln beitragen.
Bild 3.2 Anschauliche Darstellung zur Grundregel des kraftgerechten Gestaltens nach Leyer [25]: Leite Kräfte auf direkten Wegen!
Fall I ‒ Zwischen den Kraftangriffspunkten ist eine direkte Verbindung möglich: Geringster Werkstoffaufwand ‒ Zugbeanspruchung.
Fall II ‒ Keine direkte Kraftleitung möglich, aber das Hindernis (nicht dargestellt) kann beidseitig umfasst werden: Werkstoffaufwand wächst durch Biegeanteile.
Fall III ‒ Muss ein Hindernis einseitig umgangen werden, wächst der Werkstoffaufwand bei gleicher Maximal-Beanspruchung an den mit Pfeil markierten Stellen auf den 10-fachen Wert.
Bild 3.3 Lasthaken und Lastöse [25]
Die Lastöse entspricht der Variante II und der Lasthaken der Variante III (nach Bild 3.2).
Der Werkstoffaufwand spricht eindeutig für die Lastöse. Infolge der schlechten Handhabbarkeit ist jeder Kran mit dem werkstoffaufwändigen Kranhaken ausgerüstet.
Bild 3.4 Pressengestell ‒ Schema [25]
Praktisches Beispiel für Fall II (nach Bild 3.2).
Bild 3.5 C-Gestell [27]
Praktisches Beispiel für Fall III.
Bild 3.6 Zylinderkopfverschraubung [25]
K2: Strebe bei nicht vermeidbarer Biegung kurze Biegelängen an!
Auch diese Regel wird mithilfe der Bilder 3.7 bis Bild 3.11 so illustriert, dass keine weiteren Erklärungen notwendig sind.
Bild 3.7 Gabelförmige Verbindungsstücke ‒ Varianten [nach 40]
Bild 3.8 Ottosche Versuchs-Viertaktmaschine (1876) [38]
Bild 3.9 Kurbelwelle eines Einzylinderkompressors.
Die axiale Baulänge ist extrem kurz, die Lager sind in die Kurbelwangen „hineingebaut“.
Bild 3.10 Kegelradlagerung
Die Biegebeanspruchung kann erheblich eingeschränkt werden, wenn die Kraglänge L möglichst kurz gehalten wird. Moderne Konstruktionen zeichnen sich durch extrem kurze Kraglängen L2 aus. Der Abstand s wird teilweise < 1 mm ausgeführt.
Bild 3.11 Lagerbock bei abhebender Beanspruchung
Der Abstand s wird heute bis auf 1 mm herabgesetzt. (Die Pfeile zeigen die Kraftrichtung an.)
K3: Ordne jeder Beanspruchungsart den entsprechenden materialökonomischen Querschnitt zu!
Tabelle 3.1 Zuordnung von Bauteilquerschnitten zu Beanspruchungsarten
Die Bedeutung der bewussten Zuordnung von Profil- bzw. Querschnittsformen wird noch deutlicher bei der Betrachtung der wesentlichen Geometrieeinflüsse auf Spannung und Verformung.
Bild 3.12 Vergleich der relativen Biegespannungen (σb) und Durchbiegungen (f) von Kragbalken mit verschiedenen Profilen gleichen Flächeninhalts
Bild 3.13 Durchbiegung verschiedener Werkstoffe bei gleicher Last
Bild 3.14 Durchbiegung bei verschiedener Streckgrenze (ENAW-AlCu4Mg1-T3 zum Vergleich)
Bei der Biegung sind rechnerische Dimensionierungen oft einfach, aber die Wahl einer günstigen Basisgeometrie erspart Aufwand.
Hinsichtlich der Wahl des Werkstoffs sind Festigkeit und Verformungsverhalten zu beachten. So steigt beispielsweise bei gleicher Last die Durchbiegung, wenn der Elastititätsmodul sinkt (Bild 3.13). Mit höherer Festigkeit steigen elastische Verformbarkeit und zulässige Kraft. Übersteigt die vorhandene Spannung die ertragbare Spannung (z. B. die Biegefließgrenze), kann also ein festerer Werkstoff gewählt werden (Bild 3.14). Ist jedoch die Durchbiegung zu groß, bringt das bei gleicher Geometrie keinen Erfolg! Es ist ein Werkstoff mit höherem Elastizitätsmodul oder eine steifere Geometrie zu wählen (siehe Bild 3.19 und Bild 3.12).
Während ein Torsionsmoment in einem Abschnitt konstant ist, wächst ein Biegemoment mit dem Hebelarm. So tritt die im Bild 3.14 genannte Maximalbeanspruchung nur in der Mitte auf, an den Auflagern ist hier die Biegespannung...