Erstes Kapitel
1977: Erinnern, Entlasten
Ob es wirklich so war, weiß ich nicht mehr. Aber wer wissen will, warum ich Theologin bin, bekommt diese nicht besonders spektakuläre Geschichte zu hören: Es habe sich im Frühsommer 1977 ereignet. Zu viert seien wir, von unserem Studienort Tübingen aus, unterwegs gewesen, zwei Männer, zwei Frauen, um die Stadt Zürich zu erkunden, in der wir Auslandssemester verbringen wollten. Irgendwann im Laufe dieses gemeinsamen Wochenendes habe die andere Frau im Auto beiläufig etwa dies zu mir gesagt: »Aber GOTT liebt uns doch, bevor wir etwas leisten!« Dieser Satz sei mir, der Tochter aus gutem, bildungsbürgerlichem Hause, so mitten hinein in die Seele gefahren, dass ich kurzerhand beschlossen hätte, Theologie zu studieren. Und seither habe mich die Kunst und die Aufgabe, vom ANDEREN zu sprechen, nicht mehr losgelassen, bis heute.
In meinem Tagebuch aus dem Jahr 1977, das ich kürzlich beim Aufräumen wieder entdeckt habe, steht nur dies: ich sei am Montag, 21. Mai 1977, von einem Wochenendausflug zurückgekehrt, aus Zürich, nach Tübingen. Und ein paar Tage später, am 26. Mai, konstatiere ich:
»Folgendes hat sich ereignet: Ich werde wohl bald nicht mehr Anglistik, sondern stattdessen Theologie studieren.«
Es folgt die Begründung: Theologie sei ein »interessantes Studium«, in dem »Fragen behandelt werden, die mich schon seit langem beschäftigen«. Zwar sei ich weder kirchentreu noch bibelfest noch vom christlichen Glauben überzeugt, hätte aber »die Bereitschaft, mich mit religiösen, ethischen und philosophischen Fragen eingehend auseinanderzusetzen«, und deshalb eigne sich die Theologie vielleicht als »Alternative zum ungeliebten Anglistikstudium«.
Und dann stehen da noch Zweifel:
»War’s richtig? ... Ist es auch kein Strohfeuer? ... Fragen über Fragen ... Aber trotz alledem ist es ein schönes Gefühl, sich ganz verantwortlich zu fühlen für das, was man tut. ... Müsste ich jetzt ›Gottvertrauen‹ haben? Vielleicht hab’ ich’s? ...«
Erleichterung
Wie kann eine Einundzwanzigjährige, die sich viel einbildet auf das, was sie ihr »Heidentum« nennt, von einem Satz, aus dessen Mitte heraus eine unsichtbare Person handelt, an die zu glauben sie für unaufgeklärt hält, dermaßen beeindruckt sein, dass sie mit einer folgenreichen biographischen Wendung ihre eher unfromme Umgebung in Staunen versetzt?
Ich kann mich an ein Gefühl der Erleichterung erinnern. Seit ich in die erste Schulklasse eingetreten war – dem Kindergarten hatte ich mich noch entziehen können –, hatten Leistungen und die Belohnungen dafür in meinem Dasein eine wichtige Rolle gespielt. Der Erweis meiner Tüchtigkeit waren vor allem gute Schulnoten gewesen, dreizehn Jahre lang. Aber es gab noch anderes: das seltene Lob des Vaters für einen nicht nur fehlerlos gespielten, sondern auch angemessen interpretierten Sonatensatz, den Sieg im Schach, die auf Anhieb bestandene Fahrprüfung. Die Kehrseite des beständig sich wiederholenden Spiels aus Leistung und Lohn war das Scheitern gewesen, vor allem im Sport. Zwar galt sportlicher Erfolg als »nicht so wichtig«, trotzdem schämte ich mich, wenn ich den Handstand nicht ohne Hilfestellung schaffte.–Im Studium wurden gängige Lehrpläne, bürgerlicher Kulturbetrieb und protestantische Arbeitsmoral dann zwar in langen Theoriedebatten als verachtenswertes »System« entlarvt. Dafür galt es jetzt, eine tadellose Linke zu werden.
Erleichterung – und Erinnerung an etwas ANDERES diesseits von Anstrengung setzte der Satz vom unbedingt liebenden GOTT in Bewegung: Vor und neben den diversen Instanzen, die unentwegt Noten austeilten, hatte es nämlich auch Ferien gegeben, Spaziergänge, mein Strickzeug, den Zeichenblock, selbstvergessenes Brüten auf dem Sofa, endlose Gelächter und faul im Bett verbrachte Schnupfentage. Es war, als träfen all die Lebenslagen, in denen ich in einundzwanzig Jahren unbewertet da gewesen war, einfach so, tätig oder untätig, liegend oder in gelassener Bewegung, plötzlich in diesem Wort »Gott« zusammen. Der Satz »GOTT liebt uns doch schon, bevor wir etwas geleistet haben!« übersetzte die Erfahrung, dass es ein genüssliches Dasein vor dem Eingespanntsein gibt, in eine Sprache, von der ich vermutet hatte, sie sei mir fremd: die Gottsprache.
Fremde Nähe
Wie fremd war mir, der Studentin der Germanistik und Anglistik, religiöses Sprechen damals, im Frühjahr 1977 in Tübingen?
Ich hatte mich eingerichtet in der Vorstellung, die Kirche sei altbacken und verklemmt, die Bibel widersprüchlich und gleichzeitig doktrinär, also unbrauchbar. Man hatte mich als Säugling getauft und als Vierzehnjährige konfirmiert. Danach war ich stolz aus dem Religionsunterricht ausgetreten, weil ich es albern fand, dass die Religionslehrer, denen das Druckmittel Noten nicht zur Verfügung stand, sich unbeholfen mit vermeintlich jugendgerechten Themen, mit »Sex und Drogen« anbiederten. Hätten sie Themen aus der Tradition aufs Programm gesetzt, wäre ich ihnen allerdings auch davongelaufen. Denn zuhause amüsierten sich die Älteren lauthals über die frühpietistischen Texte der Bachkantaten, mit denen meine Mutter als Musikerin zu tun hatte und die von der Bibel zu unterscheiden ich mir nicht die Mühe machte: »Jesus schläft, was soll ich hoffen?« »Widerstehe doch der Sünde!« »Ärgre dich o Seele nicht!« »Wo ist mein Schäflein, das ich liebe?« »O Jesulein süß, o Jesulein mild!«
Zwar hatte ich, soweit ich mich entsinnen konnte, jeden Abend vor dem Einschlafen ein Gebet gesprochen, zusammen mit Schwester, Mutter oder Tante. Meistens dieses:
Du lieber GOTT, ich danke dir,
du warst den ganzen Tag bei mir.
Nun bleib’ auch bei mir diese Nacht,
schick’ deine Englein mir zur Wacht
und lass’ mich schlafen still und fein,
auch Eltern und Geschwisterlein.
Amen.
Auch Tischgebete fanden wir schön, zum Beispiel das von Martin Luther:
Alle guten Gaben,
alles was wir haben
kommt o GOTT, von dir,
wir danken dir dafür.
Amen.
GOTT, die großzügige, wachsame, unsichtbare PERSON, war also durchaus in meinem Vorleben präsent gewesen, zuerst in Form schlichter Gebete, dann als bebilderte Kinderbibel, und natürlich, versteckt im Stall, an Weihnachten. Durch die skeptische Jugendzeit hatte ER mich als das begleitet, was man »Kulturgut« nennt. Gotische Altäre und barocke Passionen sind nämlich ohne ES, seinen Sohn und dessen Mutter nicht zu haben, auch wenn man sich sehr anstrengt, die Gottlogik in der Kultur zu ignorieren.
Der Satz »GOTT liebt uns doch ...« konnte sich also fügen in eine Welt aus Melodien, Witzen, Feiern, Bildern, Geschichten, Gefühlen und noch viel mehr. Dieses noch unsortierte Vorhandensein scheint der Satz an jenem Wochenende im Mai 1977 mit spürbarer Notwendigkeit auf ETWAS hin geordnet zu haben, dem ich mich ergab. Ich beschloss, der Sache studierend auf den Grund zu gehen.
Ein uraltes Thema
In den Hörsälen lernte ich, zum Beispiel von Herrn Professor Eberhard Jüngel, dass man GOTT nicht mit menschlichen Erfahrungen verwechseln darf. Ich lernte das Wort »Offenbarung« kennen. Es bedeutet, dass GOTT von sich aus in die Welt hinein spricht. Zwar gehe das, so hieß es, nicht ohne menschliche Vermittlung, zum Beispiel durch Prophetinnen und Propheten, Träume oder die Sonntagspredigt. Daraus dürfe ich aber nicht schließen, die Verkündiger hätten GOTT erfunden, aber auch nicht, sie sprächen bloß über »Innerweltliches«.
Mir leuchtete die Unterscheidung zwischen Offenbarung und Erfahrung halb ein. Ich verstand gut, dass ein selbstgemachter GOTT mir nicht geben konnte, was ich brauchte: GEBORGENHEIT, SINN und LIEBE. Wie aber sollte ich mir den Übergang aus der unabhängigen göttlichen Sphäre in menschliches Sprechen und Erleben vorstellen? Hatte sich in der jungen Frau, die mit mir nach Zürich und wieder zurück gefahren war, GOTT geoffenbart? Hatte sie mich nicht einfach in einem bestimmten Augenblick, in dem ich für diesen Impuls empfänglich gewesen war, mit unerwarteten Worten an bestimmte Erfahrungen aus meiner Kindheit erinnert?
Als kritische Studentin wusste ich von Ludwig Feuerbachs Enthüllung der Scheinhaftigkeit religiöser Gebilde5 und davon, dass Karl Marx Religion »Opium des Volkes«6 genannt hatte. War mein überaus angenehmes Gefühl der Erleichterung also ein Rausch gewesen? – Eine Psychologin teilte mir eines Tages mit, dieses Gefühl sei nichts anderes als das konservierte Urvertrauen meiner frühen Kindheit, und ich solle, statt es GOTT IM HIMMEL zuzuschreiben, einfach froh sein, es mitbekommen zu haben. Von Jeanne Hersch hatte ich noch nichts gelesen. Aber diesen bündigen Satz, den ich später in einem ihrer Bücher entdeckte, fand ich schon damals wahr:
»Der Mensch wird geboren und stirbt, und er hat es stets und überall nur mit Endlichem zu tun.«7
Was sollte also GOTT DIE UNENDLICHE LIEBE bedeuten, wenn es doch nichts gab, das meine menschliche Erfahrung überschritt? Jedenfalls nichts mir Zugängliches?
Was ich am Anfang meines Theologiestudiums auch kennen lernte, war die rettende Wirkung des Wortes »Paradox«. Häufig beendete es schlagartig die Debatten aus länger und länger werdenden, sich ineinander verschlingenden Satzfäden, mit denen wir einander...