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Geschichte der Erddrucktheorie
Graben, Schichten, Schütten, Spannen, Wölben, Stellen und Legen sind die Urformen des Bauens, welche in ihrer historischen Ausprägung dieser Reihenfolge entsprechen und Basis jeder großen Architektur bildete und bildet: die Urformen sind auch heute Grundformen des Bauens (von Halász 1988, S. 257). Während das Graben historisch tief in das Tier-Mensch-Übergangsfeld reichte, entstanden noch mit den aztekischen „Tzaqualli“ durch Schütten und Schichten großartige Pyramiden; dabei heißt „Tzaqualli“ übersetzt „die von einem Steinmantel Umschlossenen“ (von Halász 1988, S. 257), deren Kern aus einem Erdhügel besteht. Noch heute gründet sich das Bauen mit Erde – der Erdbau – auf den elementaren Tätigkeitsformen des Grabens, Schichtens und Schüttens. So veränderte und verändert die Bewegung großer Erdmassen bei Straßen-, Eisenbahn- und Wasserbauten mit ihren Dämmen, Einschnitten und Durchstichen nicht nur das Landschaftsrelief, sondern auch das Stadtbild (Guillerme 1995).
Die Entwicklungsgeschichte der Geotechnik bis 1700 fasste Jean Kérisel in einem umfangreichen Kongressbeitrag zusammen (Kérisel 1985). Dagegen wird hier der Versuch unternommen, die Theorie des Erddrucks von ihren Anfängen kurz vor der Wende zum 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart aus dem Blickwinkel der Geschichte der Baustatik nachzuzeichnen. Neben den Originalquellen werden dabei die folgenden historiographischen Arbeiten herangezogen: Burland (2008), Corradi (1995, 2002), Chrimes (2008), Feld (1928, 1948), Golder (1948, 1953), Guillerme (1995, S. 85–145), Gullián (2015), Habib (1991), Herries und Orme (1989), Heyman (1972), Jáky (1937/1938), Kalle und Zentgraf (1992), Kérisel (1953), Kötter (1893), Marr (2003), Martony de Köszegh (1828), Mayniel (1808), Mehrtens (1912, S. 55–73), Ohde (1948–1952), Peck (1985), Reissner (1910), Skempton (1981, 1985), Verdeyen (1959) und Winkler (1872).
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts nahm die Theorie des Erdbaus als experimentell abgesicherte Theorie der Böschungen aus bindigen Böden durch Alexandre Collin (1808–1890) Gestalt an (Collin 1846). Zehn Jahre später veröffentlichte Culmann seine Broschüre „Ueber die Gleichgewichtsbedingungen von Erdmassen“ (Culmann 1856) und 1872 sein Manuskript über Erdbau (Culmann 1872). 1888 teilte der Professor für Baumechanik an der Deutschen Technischen Hochschule in Prag, Karl von Ott, seine Vorträge ein in
- die Theorie des Erdbaus (oder der Böschungen),
- die Theorie der Futtermauern (Stützmauern),
- die Theorie der Gewölbe und
- die Elastizitätstheorie und ihre Anwendungen auf Holz- und Eisenkonstruktionen mit besonderer Rücksicht auf den Dach- und Brückenbau.
Unter Erdbau verstand er dabei die Bildung bestimmter Körperformen, „die unter dem Namen Dämme, Wälle, Einschnitte, Durchstiche usw. vorkommen und bei deren Herstellung jenes Material bearbeitet wird, welches der natürliche Boden liefert“ (von Ott 1888, S. 2). Die Aufstellung der Gesetze für das Gleichgewicht dieser Erdkörper (Abb. 2.1) ist Inhalt der „Theorie des Erdbaues oder der Böschungen“ (von Ott 1888, S. 2).
Ihre klassische Zusammenfassung erhielt die Theorie des Erdbaus in der Mitte der Vollendungsphase der Baustatik (1875–1900) durch August von Kaven (1885). Erst mit den Untersuchungen des Kaieinsturzes am 5. März 1916 im Hafen von Göteborg (Petterson 1916) erfuhr die Theorie des Erdbaus neue Impulse (z. B. Hultin 1916; Fellenius 1927). Mit der Herausbildung der Bodenmechanik in den 1920er-Jahren und ihrem Gründungsdokument „Erdbaumechanik auf bodenphysikalischer Grundlage“ (von Terzaghi 1925) setzte sich auch auf dem Gebiet des Erddrucks ein dem Experiment verpflichteter Theoretisierungsstil durch. Die Theorie der Böschungen gehört heute mit der Erddrucktheorie zur Erdbaumechanik bzw. Erdstatik oder Statik im Erdbau (Abb. 2.2), welche ihrerseits eine Subdisziplin der Geotechnik ist.
Die Erddrucktheorie kann auf eine über 300jährige Geschichte zurückblicken. Ihre erste Hälfte wurde von französischen Ingenieuroffizieren geprägt, die sich von Vauban über Bélidor und Coulomb bis zu Poncelet mit dem Entwurf, der Konstruktion, dem Bau und der Unterhaltung von Festungen zu befassen hatten. In den folgenden Abschnitten wird die These ausgeführt, dass das Corps du Génie Militaire des frühen 18. Jahrhunderts nicht nur eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung des modernen Bauingenieurs spielte, sondern dessen Ingenieuroffiziere in Gestalt der Erddrucktheorie die erste genuin technikwissenschaftliche Theorie schufen, die das wissenschaftliche Selbstverständnis des Bauingenieurs konstituierten. Erst in der Etablierungsphase der Baustatik (1850–1875) sollte die Hegemonie des Ingenieuroffiziers durch den Eisenbahningenieur auf dem Gebiet des Erddrucks ersetzt werden (Kurrer 2015b, S. 19–20): An der Wiege des modernen Bauingenieurs stand also der Festungsbau als Geburtshelfer mit der Erddrucktheorie als dessen wissenschaftliches Instrument.
Abb. 2.1 Stabilitätsuntersuchung einer Böschung mit Belastung durch Aushub; ψ = Neigung der Gleitfläche, ρ = Winkel der inneren Reibung (von Ott 1888, S. 20).
Abb. 2.2 Das Buchcover zeigt das Schema einer Standsicherheitsuntersuchung des Baugrundes einer Stützmauer mit gekrümmter Gleitfläche (Türke 1990).
2.1 Stützmauern im Festungsbau
Der Festungsbau im Europa der frühen Neuzeit bis in die Zeit der Vollendung der Industriellen Revolution der kontinentaleuropäischen Nationalstaaten basiert auf dem Erdbau, der zusammen mit dem Mauerwerksbau zu Großbauformen führte, welche Städte prägen sollte. Als Beispiel sei Luxemburg genannt, das von 1543 bis 1867 zu einer der stärksten Festungen Europas ausgebaut wurde (Abb. 2.3).
An der Erweiterung der Luxemburger Festung arbeitete u. a. der 1678 von Ludwig XIV. zum Generalkommissar aller französischen Festungen ernannte Vauban (Abb. 2.4), deren Eroberung er 1684 geleitet hatte. Luxemburg ist allerdings nur ein Splitter aus dem gewaltigen Œuvre dieses Ingénieur de France wie er noch zu Lebzeiten genannt wurde. So steht im Larousse Universel des Jahres 1923 geschrieben: „Gegen Ende seines Lebens veröffentlichte Vauban, den Saint-Simon (1760–1825) als den rechtschaffensten Mann seines Jahrhunderts bezeichnete, geleitet vom Gefühl echter Menschlichkeit sein ,Projekt eines königlichen Zehnten, worin er Steuergleichheit forderte, was ihn bei Ludwig XIV. in Ungnade fallen ließ“ (zit. n. Göggel 2011, S. 136). Unter Vauban entstanden in wenigen Dezennien 33 neue Festungen. Rund 300 Festungen ließ er umbauen. Bislang konnten 411 Baumaßnahmen für 160 Plätze nachgewiesen werden (Neumann 1984, S. 381). Für seine Festungen und zivilen Bauten setzte Vauban ungefähr ϑ Mio. m3 Mauerwerk ein (Petzsch 2011, S. 191). Nach eigenen Angaben verwandte Vauban auf die Stützmauern als tragende Baukörper der Wallanlagen mit ihren Bastionen in den Eckpunkten der sternförmigen Festungen und den dazwischenliegenden Mauern, den Kurtinen, mehr als 3,7 Mio. m3 Mauerwerk (vgl. Poncelet 1844, S. 67), was 41 % des gesamten verbauten Mauerwerks entspricht.
Abb. 2.3 Historischer Plan der Bundesfestung Luxemburg von Premier-Lieutenant Cederstolpe, ca. 1845 (Reinert und Bruns 2013, S. 48).
Schon 1684 veröffentlichte Vauban Bemessungstabellen für Stützmauern von Höhen im Bereich 3 m < H < 25 m (Kérisel 1985, S. 55). Drei Jahre später sandte Vauban als frischgebackener Generalkommissar aller französischen Festungen seinen Ingenieuren vom Corps du Génie Militaire sein Memoire „Profil général pour les murs de soutènement“ zu. Dort stellte er seine von Ingenieuroffizieren wie Bélidor (1729), Poncelet (1840) und Wheeler (1870) rezipierten Profile von Stützmauern vor (Feld 1928, S. 64ff.). Dieses „allgemeine Vaubansche Profil“ (Poncelet 1844, S. 4) untersuchte Poncelet und glich das „Hauptprinzip der Vauban’schen Regel“ (Poncelet 1844, S. 68ff.) mit Resultaten seiner Erddrucktheorie ab. Einen Eindruck der Vauban’schen Profile von Stützmauern für die Festung Ypern vermittelt Abb. 2.5, mit dem sich ihr Schöpfer 1698 in seinem Tagebuch auseinandersetzte (s. Kérisel 1985, S. 86). Das trapezförmige Profil der Stützmauer der rechten Seite der Bastion 63 der Festung Ypern besitzt folgende Maße: Höhe H = 11,38 m, Breite der Basis b = 3,52 m, Kronenbreite k = 1,62 m; der Anlauf der luftseitigen Wand beträgt m = (3,52 − 1,62)/11,38 = 1 : 6. Die mittlere Höhe der Erdüberdeckung der Mauerkrone beträgt h′ = 0,5 ⋅ (2,11 + 1,35) = 1,75 m. Die Stützmauer ist im Achsabstand von 4,87 m durch Strebepfeiler der Höhe 16,90 m ausgesteift, deren trapezförmiger Querschnitt die Höhe h = 3,25 m, die untere Breite bu = 2,60 m und die obere Breite bo = 1,30 m besitzt; sie sorgen für eine erhebliche Steigerung der Standsicherheit.
Abb....