1 Ziele und Nutzen von virtuellen Unternehmen als Netzwerke
Birgit Benkhoff
Große Unternehmenseinheiten sind aus der Mode gekommen. In den letzten Jahren hat sich die Organisation von Wirtschaftsprozessen gründlich gewandelt. Zwar beobachten wir, dass die Märkte nach wie vor von großen Firmen dominiert werden, es treten aber immer mehr Kooperationen auch mit kleineren Firmen auf, die sich durch flexible Strukturen auszeichnen. Begriffe wie Strategische Allianzen, Joint Ventures und virtuelle Unternehmen bzw. Organisationen kennzeichnen Spielarten dieses Phänomens.
Zum Zweck der Auseinandersetzung mit dem Potential dieser flexiblen Strukturen soll hier zunächst ganz generell von interorganisationalen Netzwerken die Rede sein, also der übergeordneten Kategorie, bevor wir uns in Kapitel 2 speziell mit einer besonderen Variante, den virtuellen Unternehmen, beschäftigen. Netzwerke – und damit auch virtuelle Unternehmen – werden in der Regel als hybride Formen betrachtet, die sowohl die Spielregeln des Marktes als auch Eigenheiten von Hierarchien in sich vereinigen (vgl. z. B. Miles, Snow 1992; Sydow 1992; Thompson 2003). Sie werden nach Meinung vieler Praktiker und Wissenschaftler den Anforderungen des internationalen Wettbewerbs besser gerecht als herkömmliche Unternehmen. Mit dieser Denkweise brechen die Befürworter solcher Mischformen traditionelle Vorstellungen über die Organisation von Wirtschaftsprozessen. Die theoretischen und praktischen Hintergründe werden hier kurz skizziert, um die Besonderheiten und Herausforderungen von Netzwerken, d. h. auch von virtuellen Unternehmen, deutlich zu machen.
1.1 Wettbewerbsvorteile durch Hierarchien
Seit der industriellen Revolution und dem Wachstum der Märkte im späten 19. Jahrhundert galten Hierarchien (definiert als große Unternehmen mit funktionaler Spezialisierung) als effizienteste Organisationsform. Die funktionale Spezialisierung, die schon Adam Smith (1776) als wohlfahrtssteigernd pries, macht einen ihrer Wettbewerbsvorteile aus, die Skalenerträge, welche durch Massenproduktion möglich werden, einen anderen. Beide führen zu reduzierten Kosten. Da sie oft neben der Produktion sowohl ihre eigene Rohstoffversorgung als auch ihren eigenen Vertrieb organisieren, sorgt diese vertikale Integration zusätzlich für ein hohes Maß an Sicherheit und Planbarkeit.
Für den Erfolg großer Organisationen spielen außerdem psychologische Mechanismen eine Rolle, die Coase (1937) aufgedeckt hat. Nach seinem Transaktionskostenansatz können Hierarchien die Produktionsprozesse auch deshalb kostengünstig und zuverlässig gestalten, weil es ihnen gelingt, den Opportunismus von Individuen zu zügeln und damit Transaktionskosten zu senken. Dieser Opportunismus, nach Williamson (1979, S. 192) definiert als »Verfolgen von Eigeninteresse auch mit Hilfe hinterlistiger Methoden«, ist eine wichtige Triebkraft der ökonomischen Agenten, die am Markt beteiligt sind. Sie sehen sich in Konkurrenz zueinander und täuschen deshalb zuweilen ihre Geschäftspartner. Umgekehrt nutzen sie bei der Suche nach dem eigenen Vorteil alle verfügbaren Informationen, um Risiken durch Opportunismus anderer zu vermeiden.
Die Marktteilnehmer stehen aber vor dem Problem, dass sie nur über eine begrenzte Rationalität verfügen und bei komplexen Aufgaben und angesichts der Unvorhersehbarkeit zukünftiger Ereignisse keine optimalen Entscheidungen treffen können. Um sich in Wirtschaftsfragen ein möglichst großes Maß an Sicherheit zu verschaffen, müssen sie Kosten z. B. für die Sammlung von Informationen oder den Abschluss von Vereinbarungen mit ihren Geschäftspartnern hinnehmen, sogenannte Transaktionskosten. Doch diese Verträge, die das Verhalten anderer Marktteilnehmer festlegen sollen, sind immer unvollständig, weil sie Interpretationsspielräume lassen und sich die Umstände ändern. Das kann von opportunistischen Vertragspartnern ausgenutzt werden.
Die Transaktionskosten lassen sich reduzieren, indem Unternehmer Organisationen gründen, deren Mitglieder durch Anstellungsverhältnisse dem Wettbewerb des Marktes entzogen sind und einen Anreiz haben, ihren Opportunismus zeitweilig hinten anzustellen (Dietz 2004). Sie erhalten Arbeitsverträge (d. h. Versprechen einer langfristigen Einkommensquelle) und bieten im Austausch Unterordnung unter den Arbeitgeber und Loyalität ihm gegenüber. Entsprechend werden Arbeitsverhältnisse auch als »Herrschaftsbeziehung« bezeichnet (Sadowski 2002, S. 78). Wenn Bedarf an unterschiedlichen Arten von Dienstleistungen besteht, erlauben sie es dem Unternehmer, auf den Abschluss immer neuer separater Verträge mit den Ausführenden zu verzichten.
Durch das Beschäftigungsverhältnis entstehen in Hierarchien auf diese Weise Produktivitätssteigerungen und Koordinationsverbesserungen, die größer sind, als wenn Individuen getrennte Einzelleistungen gegen separate Bezahlung erbringen. Das Unternehmen gewinnt durch Arbeitsverträge, anstelle von Werk- oder Dienstleistungsverträgen mit externen Auftagnehmern, ein hohes Maß an Flexibilität. Allerdings sind auch die Verträge mit Beschäftigten immer unvollständig. Da es dem Arbeitgeber wegen der Unsicherheit der Zukunft nicht möglich ist, die später erforderlichen Leistungen vertraglich festzulegen, setzen Verträge bei den Partnern ein Mindestmaß an Vertrauen voraus. Auf Seiten des Beschäftigten etwa geht man normalerweise davon aus, dass die Unternehmensseite für Arbeitssicherheit und faire Behandlung sorgt, und auf Seiten des Arbeitgebers, z. B. dass der Arbeitnehmer seine Entscheidungsspielräume im Sinne der Unternehmensziele nutzt.
Um für Verhaltenssicherheit zu sorgen und etwaigen Verletzungen von Arbeitsverträgen vorzubeugen, geben Arbeitgeber den Organisationsmitgliedern Regeln an die Hand und setzen Normen (Kay 1992). Deren Einhaltung wird auf verschiedenste Weise kontrolliert, wie z. B. Beobachtung durch Vorgesetzte und Sammlung von Leistungsdaten bzw. Mitarbeiterbeurteilungen. Bei Wohlverhalten bekommen Arbeitnehmer oft zusätzliche Bezahlung oder eine Beförderung auf die höhere Hierarchiestufe. Für den Fall der Nichteinhaltung der Regeln müssen sie mit Sanktionen bzw. Entlassung rechnen.
Seit den 1980er Jahren zeigen sich viele Manager und Unternehmer unzufrieden über die Leistungsprozesse in den zentral gelenkten großen Firmen mit Hierarchiestufen. Diese bisher übliche Organisationsform erscheint ihnen als starr und unfähig, sich schnell den Anforderungen anzupassen, wie sie die neuen Marktbedingungen stellen. Skalenerträge, in denen der Vorteil von großen Hierarchien liegt, schlagen weniger zu Buche, seit Kundenwünsche spezifischer geworden sind und Märkte unerwarteten Veränderungen unterliegen. Massenprodukte, die sich durch funktionale Spezialisierung effizient herstellen lassen, sind immer weniger gefragt.
Ein hohes Maß an vertikaler Integration durch Einbeziehung von Zulieferern oder Entwicklungsabteilungen, über die große Hierarchien verfügen, erhöht zwar die Kontrolle und Zuverlässigkeit des Wertschöpfungsprozesses, birgt im Fall von Marktveränderungen aber Risiken für eingegangene Investitionen. Bei schwankender Nachfrage lässt es sich nicht immer einrichten, dass die Mitarbeiter oder Anlagen, die für spezifische Produkte vorgesehen waren, voll genutzt werden. Mangelnde Auslastung ist kostspielig. Auch ein weiteres Kennzeichen von Hierarchien, die Zügelung des Opportunismus ökonomischer Agenten bzw. der Mitarbeiter durch Arbeitsverträge, hat unwillkommene Nebeneffekte. Bei Veränderungen des Marktes kann die Bindung zwischen Arbeitgeber und Belegschaftsmitgliedern für ein Unternehmen zur Last werden, z. B. wenn Arbeitnehmer auf getroffenen Vereinbarungen bestehen und Wandel zu verhindern suchen.
Kritiker der hierarchischen Organisationsform sehen Defizite auch in der Allokation von Ressourcen. Das Prinzip, nach dem Investitionen auf verschiedene Geschäftsbereiche verteilt werden, ziele eher auf die Stärkung bestehender Projekte (und ihrer einflussreichen Führungsverantwortlichen) ab. Auf diese Weise würden veraltete Strategien überfinanziert, während unkonventionelle Ideen, die einen höheren Ertrag bringen, zu kurz kommen (Hamel, Välikangas 2003).
1.2 Potentiale von Netzwerken
Angesichts der Probleme, denen man in Hierarchien beim Umgang mit Veränderungen begegnet, und als Antwort auf harte internationale Konkurrenz und rasche technologische Veränderungen versuchen sich viele Unternehmen zu »verschlanken«. Sie konzentrieren sich auf die Aktivitäten, die sie am besten zu beherrschen meinen, ihre sogenannten Kernkompetenzen. Dazu lagern sie zahlreiche weniger wichtige Funktionen aus und stützen sich auf unabhängige Lieferanten und Vertriebsorganisationen, statt eine hohe Fertigungstiefe aufzubauen.
Auf der Basis von Geschäftsverträgen und Austauschvereinbarungen bilden sie lockere Firmen-Verbünde, also Netzwerke, die neue Möglichkeiten eröffnen:
- Teure Investitionen erübrigen sich, wenn man auf die Anlagen und Kapazitäten mehrerer Kooperationspartner zurückgreifen kann, mit denen sich eine Wertschöpfungskette bilden lässt.
- Die vorhandenen Ressourcen anderer Unternehmen erlauben es, auf neue Marktchancen schnell zu reagieren und die Entwicklungszeit für neue Produkte zu verkürzen, so dass diese schneller als mit herkömmlichen Verfahren auf den Markt gelangen.
- Investitionsrisiken, wie die Kosten und Risiken der Produktentwicklung, Aufbau von Technologien, die schnell veralten und überflüssig werden können, oder Eintritt in neue Märkte, die sich...