1. Die Macht des Spezialisten
1972 brannte in der Oberpfalz ein Erdgasspeicher. Sieben Tage lang hatten sich deutsche Feuerwehrleute erfolglos damit abgemüht, die Katastrophe in den Griff zu bekommen. Schließlich überredete man den führenden Experten für Gas- und Ölbrände, den texanischen Feuerwehrmann Paul Neal »Red« Adair, nach Deutschland zu kommen. Er kam, besichtigte den Ort des Geschehens und leitete die erforderlichen Maßnahmen ein. 18 Minuten später war der Brand gelöscht. Red Adairs Honorar betrug umgerechnet 800 000 Euro – zu damaliger Kaufkraft (und auch heute) ein schöner Batzen Geld. Die Macht des Spezialisten – es gibt kaum ein besseres Beispiel als dieses.1
Stellen Sie sich vor, Sie wären in einer ähnlichen Position: Die Auftraggeber müssten Schlange stehen, um einen Termin bei Ihnen zu bekommen, Sie könnten hervorragende Preise erzielen und würden über Problemlösungsfähigkeiten verfügen, die Sie als Einziger mit traumhafter Sicherheit beherrschten. Eine schöne Vorstellung? Ich weiß, Sie halten das für sehr weit hergeholt, sogar für völlig unmöglich. Doch schauen wir uns Red Adairs Erfolg einmal an: War es Zufall oder ein Glücksfall? Hatte er eine genetisch programmierte Begabung für das Löschen gefährlicher Brände? Verfügte er nur über eine ans Selbstmörderische grenzende Risikobereitschaft? Nichts davon trifft zu. Adair sagte von sich, er wäre nie auch nur das geringste Risiko eingegangen, ja er hielt sich selbst nicht einmal für besonders mutig. Er wisse nur immer ganz genau, was zu tun sei.
Adair war Spezialist – und zwar nicht Spezialist für irgendwas, sondern Spezialist für die Lösung eines besonders drängenden, im wahrsten Sinne des Wortes brennenden Problems. Und damit hatte er Macht bekommen. Sie werden in diesem Buch noch vielen solcher Spezialisten begegnen – großen Unternehmen wie »kleinen« Einzelkämpfern, Menschen und Unternehmen, die einen kleinen Ausschnitt dieser Welt besser beherrschen als irgendjemand sonst. Die über Fähigkeiten verfügen, die sie extrem anziehend für potenzielle Kunden machen und die ihnen die Macht verleihen, ihre Spielregeln weitgehend selbst bestimmen zu können. Und all das nicht, weil sie das Glück auf ihrer Seite hatten oder weil sie herausragende Genies waren, sondern weil sie sich bewusst für eine Spezialisierungsstrategie entschieden hatten (was an sich auch schon ziemlich genial ist).
Ja, Sie haben richtig gelesen: Es geht um MACHT! Macht ist eines der größten Tabuthemen in der Managementlehre. Wir sind derart geschädigt durch Klassenkampf-Ideologien, Gewerkschaft- oder Arbeitgebermacht, den Macht-Missbrauch der Kapitalisten und Staatsmonopolisten und Ähnliches, dass wir nicht einmal im Traum daran denken, unseren eigenen Machtanspruch zu erheben. Dabei ist Macht an sich überhaupt nichts Negatives, im Gegenteil: Macht ist nichts anderes als die Fähigkeit, jemand anderem etwas Gutes oder Böses antun zu können, oder – anders ausgedrückt – mit größter Sicherheit vorhersehen zu können, wie Menschen sich verhalten werden. 2
Wir wollen uns hier ganz und gar auf die erstere Variante konzentrieren, nämlich auf die Fähigkeit, Gutes zu bewirken. Jeder Mensch braucht ein gewisses Maß an Macht, und viele Probleme entstehen erst daraus, dass sich Menschen hilflos und ohnmächtig fühlen. Natürlich brauchen auch Unternehmen Macht, und dem Systemforscher Wolfgang Mewes verdanken wir die Einsicht, dass man die Machtposition eines Unternehmens am Gewinn ablesen kann. Diese Unternehmen bringen es nämlich offensichtlich fertig, die ihren Leistungen und Kosten angemessenen Preise durchsetzen zu können. Unternehmen, die ständig Preiszugeständnisse machen müssen, sind austauschbar und damit erpressbar. Sie sind machtlos. Wer jedoch einen deutlich höheren Nutzen bietet als alle Mitbewerber, kann sicher sein, dass der Kunde dies auch honoriert. Besonders erfolgreiche Anbieter bringen es fertig, dass der Kunde monatelange Wartezeiten in Kauf nimmt und beinahe jeden Preis zu zahlen bereit ist. Der kluge Spezialist indes nutzt seine Macht und seinen Preiserhöhungsspielraum nicht aus. Machtmissbrauch rächt sich früher oder später immer.
Dies ist ein Buch über das einfachste und wirkungsvollste Instrument zu mehr Marktmacht, Anziehungskraft und Erfolg: die Spezialisierung. Keine andere Strategie ist so umstritten wie die der bedingungslosen Konzentration auf wenige Produkte, Dienstleistungen oder Problemlösungen. Anhänger von Spezialisierungsstrategien halten sie für eine Wunderwaffe, mit deren Hilfe alle gängigen Probleme der Unternehmensführung gelöst werden können – egal, ob sie das Marketing, die Organisation, die Innovation oder das Wissensmanagement betreffen. Den Gegnern gilt sie dagegen als Strategie für Sonderlinge, überdies als gefährlich, riskant, einseitig oder langweilig. Meines Wissens gibt es keine andere Strategie, über die so viele Vorurteile, Missverständnisse und sich widersprechende Meinungen herrschen wie über die Spezialisierung.
»Früher haben wir Hungrige satt gemacht – heute müssen wir Satte hungrig machen« – in diesem einfachen Satz drückt sich die große Herausforderung aus, der sich Unternehmer und Gründer heute stellen müssen: Auf fast allen Märkten herrscht ein gnadenloser Verdrängungswettbewerb. Um dort bestehen zu können, braucht es mehr als Durchschnittlichkeit: etwas Herausragendes. Wenn Sie über endlose Ressourcen verfügen, brauchen Sie nicht weiter zu lesen – dann können Sie sich Ideen, Märkte, Technologien und Kreativität kaufen. Wenn Sie sich den Spaß am Erfolg nicht nehmen lassen wollen und auch mit wenigen Kräften viel bewirken wollen, sind Sie hier genau richtig.
Welche Strategie ist die richtige?
Diese Frage stellt sich in Zeiten wie diesen, die geprägt sind durch harten Wettbewerb, globale Herausforderungen und ein irrsinniges Innovationstempo, drängender denn je. Zumindest in einem Punkt scheinen sich die Strategie-Päpste einig: Nach dem Desaster, das die Diversifikationsstrategie in den 1970er- und 1980er-Jahren weltweit angerichtet hat, konnte das Thema »Alles für alle« getrost beerdigt werden. Stattdessen empfahl man unisono Erfolgsrezepte wie »Fokussierung« (das Teufelswort »Spezialisierung« wird gern vermieden), oder ein moderates »Zurück zu den Kernkompetenzen«. Mit bemerkenswerten Folgen: Seit vielen Jahren kann man täglich der Fachpresse entnehmen, dass sich Unternehmen von »unpassenden« Bereichen trennen, um das Kapital umgehend in die Akquisition von »passenden«, die Fokussierung oder Kernkompetenzen stärkenden Unternehmen zu stecken. Diversifikation ist out – um nicht zu sagen: mega-out. Jack Welch, einst CEO des weltweit erfolgreichsten Gemischtwarenladens General Electric, war eine der Ausnahmen von der Regel. Er hat es wie kein anderer vor ihm geschafft, ein weltumspannendes Imperium voneinander unabhängigem Unternehmen zu einem funktionierenden Ganzen zusammenzuschweißen. Doch Führungsgenies dieses Kalibers gehören offensichtlich einer exotischen, höchst seltenen Art an. Denn erfolgreiche diversifizierte Konzerne kann man mit der Lupe suchen: An der Börse werden Allrounder mit einem »Konglomerats-Abschlag« von bis zu 25 Prozent bestraft. Die Analysten favorisieren »fokussierte« Unternehmen, die beides bieten: die Marktführer-Qualitäten eines Spezialisten mit dem »Sicherheitspotenzial« der Diversifikation. Und so versucht man es heute gern mit einer gelungenen Mischung aus »sowohl-als-auch«: breite Produktpalette, aber irgendwie einen gemeinsamen Nenner, sprich: Fokus. Doch was ist das eigentlich, diese sagenumwobene »Fokussierung«?
Was ist Fokussierung?
Schauen wir uns ein Beispiel an, nämlich die Daimler AG: ein Unternehmen, das schon so manche strategische Modeerscheinung mitgemacht hat. Als der Konzern noch unter dem Namen Daimler Benz firmierte, stellte er so etwas wie das Musterbeispiel missglückter Diversifikationspolitik dar. Anfang der 1980er rutschte der Nutzfahrzeugsektor in die roten Zahlen. Auch das Stammgeschäft, der Bau hochwertiger Automobile, wurde eher pessimistisch beurteilt. Darum investierte das Unternehmen in alle möglichen Branchen. Gekauft wurden ganz oder in Teilen die marode AEG, der Weltraumforscher DASA, der Turbinen- und Motorenhersteller MTU und viele andere. Doch das Experiment misslang: Die viel beschworenen Synergien zwischen den Bereichen wurden nicht einmal ansatzweise realisiert. Stattdessen wurde aus 2,8 Milliarden Euro Profit binnen zehn Jahren ein Defizit von drei Milliarden.
Offensichtlich war es nicht möglich, vom Toaster (AEG) über IT-Dienstleistungen (debis) bis zur Weltraumfähre (DASA) alles anzubieten, was den gemeinsamen Nenner »Technik« besaß. Daimler-Chef Edzard Reuter durfte gehen, und zur großen Freude der Anleger folgte sein Nachfolger Jürgen Schrempp alsbald dem allgemein angesagten Trend zur »Fokussierung«, und zwar zunächst auf das Kerngeschäft »Verkehr«. AEG, Fokker, Dornier und andere wurden aus dem Portfolio verbannt, später folgte die hoch-defizitäre Adtranz, die sich unter anderem der Integration von Auto und Schiene verschrieben hatte. Das Geschäftsfeld wurde nun auf das ursprüngliche Kerngeschäft, das Automobil, eingeschränkt – man könnte sagen: fokussiert. Doch sofort drohte das nächste Desaster: die Welt AG. Dahinter stand die Theorie, dass in Zukunft nur weltweit in allen Fahrzeugklassen präsente Unternehmen konkurrenzfähig bleiben werden. Die Daimler AG ist heute ein weltumspannendes Konglomerat von Autofabriken und Vertriebsstützpunkten, das vom...