Erich Kästners Roman Fabian. Die Geschichte eines Moralisten[21] gehört nach Auffassung des Großteils der Forschung zur literarischen Erscheinung der „Neuen Sachlichkeit“.[22] Entgegen Kästners Ansicht („Und wer die Dummheit beging, diesen Stil [den Stil des Fabian , Anmerkung J. M.] die ,Neue Sachlichkeit‘ zu nennen, den möge der Schlag treffen!“)[23] ordnet die Forschungsliteratur Kästners Roman dieser Stilrichtung zu. Es ist daher wichtig, diesen Roman auf Aspekte der „Neuen Sachlichkeit“ hin zu untersuchen und ihn in diese literarische Erscheinung der Zwanziger Jahre einzuordnen.
Es bedarf jedoch einiger einleitender Bemerkungen zum Begriff der „Neuen Sachlichkeit“, bevor Kästners Fabian auf diese neusachlichen Aspekte hin untersucht werden kann.
Der Begriff „Neue Sachlichkeit“ kommt ursprünglich aus der Kunst. Der Kunsthistoriker Georg Friedrich Hartlaub prägte den Begriff, als er 1925 in der Mannheimer Kunsthalle eine Ausstellung mit dem Titel „Neue Sachlichkeit. Deutsche Malerei seit dem Expressionismus“ vorstellte.[24] Vor allem Otto Dix und George Grosz mit ihren Darstellungen des modernen Großstadtlebens können als typische und bekannteste Vertreter dieser Kunstrichtung angesehen werden.
Der aus der Kunst entlehnte Begriff bezeichnet in der Literatur „stiltypologisch […] die dem Journalismus verwandte Tendenz zur Berichterstattung und Informationsvermittlung, was in Gattungsbegriffe wie ,Gebrauchslyrik‘, ,Tatsachenroman‘ und ,Zeitstück‘ als Bedeutungskomponente mit eingeht“.[25] Damit grenzt sich die „Neue Sachlichkeit“, die von Klaus Petersen als „dominante Kulturströmung […] in der ökonomischen und politischen Stabilisierungsphase in der Weimarer Republik (etwa 1924-1929) bezeichnet wird, bewusst von der zeitgenössischen Strömung des Expressionismus ab.[26] Während vor allem der späte Expressionismus in der Literatur für die Vertreter der „Neuen Sachlichkeit“ als utopisch und realitätsfern bzw. „idealist[isch]-pathet[isch]“[27] bezeichnet wurde, zeichnete sich diese Gegenbewegung durch „wirklichkeitsnahe und zeitbezogene Themengestaltung, sachlich-neutrale Perspektive, schnelle Szenenwechsel, schlichte Alltagssprache, Lakonie und Sprachwitz“ aus.[28]
Auch die Erzählform des Berichtes, der Reportage und der Dokumentation können als typische Merkmale neusachlichen Erzählens bezeichnet werden.[29] Wichtig hierbei ist jedoch, dass zwar der Anspruch des neutralen Berichtens im Vordergrund steht, aber eine subjektive Sichtweise oder eine „aktivistische Änderungsintention“ des Autors mit einfließt.[30] Einen besonders fruchtbaren Boden fand die „Neue Sachlichkeit“ in den Romanen der späten Zwanziger und frühen Dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Hier sind es vor allem die Schilderung der modernen Lebenswelt des Menschen in der Großstadt, aber auch die Auswirkungen der ökonomischen Krise der Weimarer Republik auf die Angestelltenschicht, die in diese Romane einfließen.[31] Die „Neue Sachlichkeit“ ist vor allem von den „urbanen Modernebewegungen“ beeinflusst worden:[32] Zur Auseinandersetzung mit der zunehmenden Industrialisierung und Urbanisierung und ihren Auswirkungen auf den Menschen gab es bereits seit 1890 verschiedene literarische Strömungen, die eine „Beobachtung der äußeren Wirklichkeit, Antisubjektivismus und Antipsychologismus“ forderten.[33] Eine Kontinuität zwischen „Neuer Sachlichkeit“ und diesen Strömungen ist nicht zu übersehen. Es ist daher kein Zufall, dass viele der neusachlichen Romane wie Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz und eben Erich Kästners Fabian ihren Handlungsort in der Großstadt, namentlich in Berlin, haben. Hier wurden die Auswirkungen der Industrialisierung am deutlichsten, technische und künstlerische Neuerungen trafen hier aufeinander.
Darüber hinaus steht die „Neue Sachlichkeit“, vor allem die neusachlichen Romane, aber auch in einer Tradition mit der bereits im 19. Jahrhundert auftauchenden Großstadtdichtung, die „die Konflikte, Erlebnisse und Erfahrungen (Angst, Bedrohung, Entfremdung) des menschlichen Lebens im rastlosen strömen der anonymen, unüberschaubaren Welt- und Millionenstädte mit ihrem Massencharakter“ thematisieren, wie Gero von Wilpert es analysiert.[34]
Vor allem Sabina Becker stellt sich gegen das in Teilen der Literatur angeführte Argument, dass sich die literarische Strömung der „Neuen Sachlichkeit“ ausschließlich an die Stabilisierungsphase der Weimarer Republik anlehnt:
„Die ökonomische Krise, besonders in ihren Auswirkungen auf die Klasse der Angestellten, erweist sich als wichtigstes neusachliches Sujet nach 1929. […] Diese thematische Sondierung zeigt, daß die Neue Sachlichkeit als literarisches Phänomen kein Produkt der wirtschaftlichen Konsolidierung und Stabilisierung ist, sondern auch nach 1929 als eine Möglichkeit zur adäquaten Erfassung der Realität genutzt wird, ja der neusachliche Roman in den Jahren nach 1929 sogar eine spezielle Ausprägung als Roman der Weltwirtschaftskrise erfährt“.[35]
Dass vor allem in Erich Kästners Fabian, in Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz und in Hans Falladas Kleiner Mann – was nun? die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf den Angestellten zum bestimmenden Thema wird, gibt Becker insofern recht, als dass der Begriff über das Jahr 1929 hinaus angewendet werden kann und nicht nur in der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik Anwendung findet.
In Kästners Roman nimmt vor allem die Hauptfigur, der 32 Jahre alte promovierte Germanist Jakob Fabian die Rolle eines Beobachters ein, der nach Volker Klotz wie „eine Sonde“ funktioniert.[36] Er sitzt zu Beginn des Romans in einem Café, einem öffentlichen Ort inmitten des sozialen Lebens. Fabian wird bereits zu Beginn nicht in seinem privaten Umfeld gezeigt, sondern befindet sich in der Öffentlichkeit. So kann er das Leben um ihn herum beobachten: Fabian liest in dem Café die „Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl. […] Die künstliche Stimme in der Westentasche […] Skandal um Clara Bow. […] Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes“ (Fabian, 11).
Der Leser wird durch diese Schlagzeilen im Massenmedium Zeitung informiert, was in der Welt um Fabian herum passiert. Die „wirklichkeitsnahe und zeitbezogene Themengestaltung“ der „Neuen Sachlichkeit“, von der Isa Schikorsky spricht, greift hier.[37] Die Schilderung des politischen und alltäglichen Geschehens stellt einen klaren Zeitbezug her. Durch den Reportagestil, der hier eingeschoben wird, wird ein Stilmittel der „Neuen Sachlichkeit“ verarbeitet.
Die Tagespolitik wird ebenso thematisiert wie Unterhaltungs- und Sensationsmeldungen, das Banale ebenso wie das vermeintlich Wichtige. Dass diese Meldungen als alltägliches „Pensum“ bezeichnet werden, könnte Abbild der rasanten Zeitumstände sein, in die der Leser eingeführt wird. Eben die Schilderung der schnell- und kurzlebigen Zeit, die durch die Literatur der „Neuen Sachlichkeit“ beabsichtigt ist, greift hier: Vieles passiert schnell hintereinander. Ebenso wie die Schlagzeilen abrissartig und staccatohaft vorgetragen werden, verläuft auch das Leben um Fabian herum. Das öffentliche Treiben wird nach Volker Klotz durch die Verbindung von öffentlichem Lokal und Schlagzeilen abgebildet: „Öffentlichkeit hat den Vorrang, das Treiben Berlins und der Welt, hier vermittelt und unverdünnt in knalligen Schlagzeilen […] Das Medium Boulevardpresse ebnet das Besondere ein.“[38] Darüber hinaus ist die Handlung, als Gesamtheit betrachtet, ebenfalls aus schnell aufeinander folgenden Episoden gestaltet, in insgesamt 24 Kapiteln wechselt Fabian andauernd den Ort, bewegt sich vom Café in Etablissements, von einem Tanzlokal in das andere. Diese schnell aufeinander folgenden Szenen passen zum kurzlebigen und unstetigen Leben der Menschen in der Großstadt. Eben die Hektik, die durch die häufig wechselnden Orte gezeigt wird, könnte neusachliches Erzählen sein: Reale Abbildung der gesamten hektischen Lebenswelt im Berlin der späten Weimarer Republik. Britta Jürgs spricht darüber hinaus davon, dass „der szenische Aufbau des Romans und die abrupten Szenenwechsel mitunter wie filmische Szenen wirken“.[39] Das Medium des Films, das gerade in der späten Weimarer Republik immer mehr zum Massenmedium wurde, ist wie die Zeitung eines der Medien, die in neusachlichen Romanen eine Rolle spielen: Durch den Aufbau des Romans im filmischen Charakter wird dieser Thematisierung des Mediums Films in der literarischen Strömung der „Neuen Sachlichkeit“ Rechnung getragen.
Während die Zeitungsmeldungen das Leben in...