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Erkenntnistheorie zur Einführung

AutorHerbert Schnädelbach
VerlagJunius Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783960600046
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Diese Einführung entwickelt ein Konzept von »Erkenntnistheorie« als Lehre von den Wissensformen. Über diese Formen muss Klarheit bestehen, ehe man sich den Fragen nach der Geltung und den Grenzen der Erkenntnis zuwenden kann. Den Begriff und die einzelnen Formen des Wissens - Wahrnehmung, Erinnerung, Erfahrung, Wissenschaft - kann man aber nicht durch Definitionen klären, sondern nur durch eine Analyse der Gebrauchsweisen der jeweiligen Begriffswörter. So versteht sich diese Einführung vor allem als ein Beitrag zur Grammatik der epistemischen Ausdrücke. Sie bleibt freilich nicht bei der Beschreibung stehen, sondern untersucht jene Gebrauchsweisen auf ihre problematischen Voraussetzungen.

Herbert Schädelbach ist emeritierter Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Leseprobe

1. Wissen


Das Wort ›Erkenntnistheorie‹ ist in Wahrheit nicht geeignet, die Vielfalt dessen auch nur anzudeuten, worum es in dieser philosophischen Disziplin geht. Das liegt daran, daß der Erkenntnisbegriff selbst zu eng ist. Erkenntnisse schreiben wir heute eher der Polizei bei Fahndungen oder Geheimdiensten bei Spionageerfolgen zu, aber besteht die Wissenschaft wirklich aus Erkenntnissen? ›Erkenntnis‹ verwenden wir in der Regel als Erfolgswort und nur selten als Bezeichnung des Erkenntnisvorgangs; wenn der abgeschlossen ist, haben wir Erkenntnisse gewonnen als Resultat und als Besitz. Doch welche Resultate können wir schon als einen ständigen Erkenntnisbesitz verbuchen, wo doch die Wissenschaft immer weiter fortschreitet und ständig Älteres korrigiert oder widerlegt? Erkenntnis als sicheres Resultat – danach hatte die neuzeitliche propositionale Systemwissenschaft gestrebt; die moderne prozedurale Forschungswissenschaft begnügt sich mit Ergebnissen, die erfolgreich zu kritisieren selbst ein Forschungsfortschritt wäre.

Im übrigen legt der Ausdruck ›Erkenntnistheorie‹ die Vorstellung nahe, es gebe so etwas wie »die« Erkenntnis, während wir es tatsächlich mit einer Pluralität von Phänomenen und Problemen zu tun haben, die das weite Umfeld dessen bilden, was wir als Erkenntnis im engeren Sinn des Wortes anstreben mögen. Wenn es uns also um den ganzen Bereich des Kognitiven gehen muß und dabei zuerst um eine Grammatik epistemischer Ausdrücke, sollten wir den allgemeineren Wortbedeutungen von ›epistéme‹ oder ›cognitio‹ folgen und statt von Erkenntnis besser von Wissen sprechen; Erkenntnistheorie wäre dann primär eine Theorie der Wissensformen, und wir hätten den suggestiven Singular ›Erkenntnis‹ vermieden. Freilich kann man einwenden, Wissen sei doch nichts anderes als Erkenntnis i. S. des Erkannthabens – wenn man etwas erkannt hat, weiß man es –, aber dann haben wir den Wissensbegriff so weit eingeengt, daß er dem weiten Bereich des Kognitiven nicht mehr gerecht wird. Warum sollten wir nicht auch Vorformen und sogar Abweichungen von Wissen im strikten Sinn dazuzählen? Dann wären nicht nur Wahrnehmung, Anschauung, Vermutung und subjektives Überzeugtsein Wissensformen, sondern auch Zweifel und Irrtum. Tatsächlich hat sich die Erkenntnistheorie seit den Anfängen niemals nur um den engeren Wissensbegriff bemüht, sondern auch um die mit ›Wissen‹ zusammenhängenden Begriffe, und das hat auch einen sachlichen Grund: Wer die Möglichkeit von Wissen im strikten Sinn des Wortes erklären will, muß auch etwas sagen können über damit verwandte Phänomene, und er muß vor allem die Möglichkeit des Zweifels und des Irrtums aufzeigen können. So gesehen gehören also auch Zweifel und Irrtum zu den Themen einer Theorie der Wissensformen.

›Wissen‹ –ein analytischer Vorschlag


Die Analytische Erkenntnistheorie machte sich mit großem Scharfsinn daran, notwendige und hinreichende Bedingungen anzugeben, die erfüllt sein müssen, damit etwas als Wissen gelten kann. Dabei ist zu beachten, daß ›Wissen‹ in der Regel nicht als Erfolgswort wie ›Erkenntnis‹, sondern als Dispositionswort verwendet wird: Wissen ist ein Besitz im Sinn eines Vermögens, d.h. eines in bestimmten Situationen zu etwas Bestimmtem Befähigtseins. Der entsprechende englische Ausdruck, ›knowledge‹, deckt hier nicht nur das (deutsche) ›Wissen‹, sondern auch das ›Können‹ ab; ›to know that‹ ist in der Regel verschieden vom ›to know how‹, aber es ist keine Frage, daß wir auch im Deutschen das Know-how als Wissensform akzeptieren – als ›Gewußt, wie …‹. In einer philosophischen Formenlehre des Wissens wird es aber primär um das ›Gewußt, daß …‹ gehen, doch es gibt auch unter Pragmatisten die Meinung, alles ›Was-Wissen‹ sei in Wahrheit ein ›Wie-Wissen‹.

Zunächst muß geklärt werden, ob Wissen wirklich immer die Form des ›Wissens, daß …‹ aufweist. In Goethes Faust sagt Wagner: »Zwar weiß ich viel,/ doch möcht’ ich alles wissen!« (V. 601), und auch wir sagen: »Ich weiß das und das«. Also gebrauchen wir ›wissen‹ auch ohne das ›daß …‹. Nur wenn wir sagen sollen, was wir da wissen, kommen wir wohl um das ›daß …‹ nicht herum. Merkwürdig wäre es zu sagen: »Ich weiß Hamburg« oder »Ich weiß mich«; tatsächlich kann ich nur etwas über Hamburg oder sehr wenig oder viel über mich selbst wissen, und dieses ›über‹ oder ›von‹ können wir nur in einem ganzen Aussagesatz präsentieren. Also hat ›Wissen‹ die Standardform:

(1) X (jemand) weiß, daß p (›p‹ für einen ganzen Satz).

Was wir in ganzen Sätzen aussagen, ist ihr propositionaler Gehalt (vgl. Searle, 49), und deswegen kann man die Behauptung, daß ›Wissen‹ grammatisch immer die Ergänzung durch ein ›… daß p‹ erfordert, die Propositionalitätsthese nennen; ich werde zu zeigen versuchen, daß sie für alle epistemischen Ausdrücke grundlegend ist.

Hier kann man einwenden, ich könne doch auch behaupten: »Ich kenne Hamburg« oder »Ich kenne mich«, und da entfalle die propositionale Ergänzung, aber das trifft nicht zu. Tatsächlich muß ich schon sehr viel über Hamburg und über mich in der Form ›… daß p‹ wissen, um sagen zu können, daß ich Hamburg oder mich kenne. Der Kurzschluß zwischen Wissen und Kennen, d.h. die Auffassung der Erkenntnis als eine Art von ›Bekanntschaft mit …‹ ist ein uralter Irrtum, der wohl vor allem auf Platon zurückgeht, weil er Erkennen wesentlich als ein Sehen auffaßte. Er hat uns das erhabene Vorurteil beschert, dem zufolge die Erkenntnis eine Beziehung zwischen Bewußtsein und Gegenstand, Subjekt und Objekt sei; die Rede von der Subjekt-Objekt-Relation als dem erkenntnistheoretischen Problem schlechthin war bis in unsere Gegenwart weit verbreitet, ohne daß auch nur ein Gedanke darauf verwendet wurde zu fragen, ob es denn wirklich zutrifft, daß mein Wissen von Hamburg ein Eins-zu-eins-Verhältnis zwischen mir und der Freien und Hansestadt sei.

Der Subjekt-Objekt-Mythos hat insbesondere in der Theorie des Selbstbewußtseins ziemlich verheerende Folgen gehabt, denn folgt man diesem Modell, kann Selbstbewußtsein nichts anderes sein als eine Relation, in der ich als das Subjekt mir zugleich Objekt bin, und das erzeugt eine Reihe von Zirkelproblemen, die man nicht bewältigen kann, ohne das ganze Schema aufzugeben. (Vgl. Tugendhat 1979, insbes. 50 ff.) Tatsächlich hat epistemisches Selbstbewußtsein immer die Form:

(1a) Ich weiß, daß ich φ (›φ‹ für Prädikate, die sich auf Sachverhalte beziehen, zu denen ich einen privilegierten Zugang habe).

Das ›ich φ‹ bestätigt somit auch hier die Propositionalitätsthese.

Wenn wir wissen, daß Wissen immer dispositional und propositional ist, wissen wir noch nicht, was ›Wissen‹ bedeutet. Wissen ist im Unterschied zum bloßen Vermuten oder Zweifeln ein Zustand subjektiver Sicherheit, ein Überzeugtsein. Das nennen wir auch ›Glauben‹, nicht im religiösen Sinne, sondern als Übersetzung von engl. ›belief‹. Deswegen empfiehlt es sich, das Wissen als eine Art der Überzeugung aufzufassen:

(2a) X ist davon überzeugt, daß p.

Das genügt freilich nicht, denn X kann noch so fest von p überzeugt sein und sich doch irren, und wenn er sich irrt, weiß er nicht, daß p. Also muß ›p‹ auch wahr sein, damit X weiß, daß p:

(2b) ›p‹ ist wahr.

Auch das ist noch nicht hinreichend, denn es könnte der Fall sein, daß jemand fest davon überzeugt ist, daß jetzt gerade in Japan ein Erdbeben stattfindet, und es findet tatsächlich gerade dort eins statt, doch X hat die Wahrheit nur zufällig getroffen, d.h., er hatte keinen Grund, dies anzunehmen, sondern hat es nur auf gut Glück hin angenommen. Also muß das Einen-Grund-Haben oder der Gedanke der Rechtfertigung hinzugenommen werden:

(2c) X hat Gründe, die ihn berechtigen, davon überzeugt zu sein, daß p.

Zusammengenommen ergeben (2a-c) die Standardformel für Wissen, die in der modernen Erkenntnistheorie trotz aller Streitigkeiten als Konsens angesehen werden kann:

(3) Wissen ist wahre, gerechtfertigte Überzeugung.

Seit dem berühmten Aufsatz von Edmund L. Gettier, Is Justified True Belief Knowledge? (vgl. Bieri, 91 ff.), der schlagende Beispiele dafür...

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